Zum 100. Geburtstag von Stephan Hermlin
Klaus Höpcke, Berlin
Von den Versen deutscher Dichter, die uns 1945 nach Ende des Krieges zugänglich wurden, haben mich, der ich damals 13 Jahre alt war, am stärksten Stephan Hermlins Städte-Balladen bewegt. Darin las ich von
»jenem verfluchten Geschlecht,
das durchquerte
Unerschrocken auf Brücken von Leichen im Dschungel
Den Fluss,
Das mit Blicken voller Gleichgültigkeit die durchspeerte
Brust einer jungen Mutter betrachtet und dessen Fuß
Niemals wankte, als auf Kadavern er Flüsse durchquerte.«
Bildern des Grauens wie diesem entsprach der Appell des Dichters: »Macht eure Plätze leer und umstellt euch mit stummem Entsetzen!«
Städte-Balladen voll poetischer Sprengkraft
Hermlin, am 14. April 1915 in Chemnitz geboren und in Berlin aufgewachsen, schloss sich, wie er selbst sagte, sehr früh der revolutionären Arbeiterjugend an, 1931 trat er in den Kommunistischen Jugendverband ein. Von 1933 an hat er Widerstandsarbeit in Deutschland geleistet. 1936 emigrierte er, von den Nazis verfolgt, nach Ägypten, Palästina, England, Spanien, Frankreich und in die Schweiz. Von dort kehrte er 1945 nach Deutschland zurück und arbeitete zunächst beim Rundfunk in Frankfurt am Main. Hierher hatte er seine während der Jahre 1940 bis 1944 geschriebenen Werke – so die zitierten Städte-Balladen – gewissermaßen im Reisegepäck mitgebracht. 1947 übersiedelte er von Frankfurt nach Berlin, wo er bis zu seinem Tod lebte. Die Beendigung seines Aufenthalts in Frankfurt geschah nicht »in aller Stille«. Hermlin nahm sie vielmehr zum Anlass einer politisch-poetischen Positionierung in seiner Ballade nach zwei vergeblichen Sommern. Darin hielt er fest:
»Die Magier singen die neuen Lieder
Auf die alte Melodie,
Die Nacht ist durchrauscht vom Gefieder
Unserer Agonie.
Gaukler und Kartenschläger
Vertauschen auf den Märkten den
Gejagten mit dem Jäger,
Und wir lassen es wieder geschehn.«
Ähnliche Motive veranlassten Hans Marchwitza und Eduard Claudius, ebenfalls aus den westlichen Besatzungszonen in die sowjetisch besetzte zu kommen. So erweiterte und vergrößerte sich der Kreis antifaschistischer demokratischer Autoren um Anna Seghers, Johannes R. Becher, Erich Weinert, Willi Bredel, Friedrich Wolf (Bertolt Brecht und Bodo Uhse hatten zu diesem Zeitpunkt noch nicht die von den Besatzungsbehörden zu erteilende Reiseerlaubnis). Der Einfluss dieses Kreises auf das geistige Leben in Ostdeutschland konnte wachsen.
Auf dem ersten Deutschen Schriftstellerkongress vom 4. bis zum 8. Oktober 1947 beteiligte sich Hermlin an der Widerlegung der von dem amerikanischen Journalisten Melvin J. Lasky in die Diskussion geworfenen Zerrbilder von der »freien amerikanischen US-Gesellschaft« und der »fehlenden kulturellen Freiheit« in der UdSSR. Hermlin polemisierte auch gegen das »Unvermögen« des »magischen Realismus«, die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart künstlerisch zu gestalten. Was den geistigen Gehalt angeht, fügte er hinzu, scheue man das Direkte und Konkrete. Man flüchte in die Metaphysik. Und die Totschläger nenne man am liebsten Dämonen.
Weite Verbreitung fand Hermlins Buch Die erste Reihe, das 1951 erschien. Das war eine Sammlung literarischer Porträts junger Menschen, dreißig Altersgefährten Hermlins, die den Kampf gegen den Faschismus gewagt hatten und den Nazi-Mördern zum Opfer gefallen waren (die Geschwister Scholl z.B. und Werner Seelenbinder). »Allzu wenig ist bisher über diesen Kampf gesprochen worden«, schrieb der Autor in seinem Vorwort. »Er ist ein wichtiges Stück unserer Geschichte, er ist jener Teil der Geschichte, den ein Volk zum Leben braucht… Diese Arbeit spricht von deutscher Jugend, die gegen Hitler und den Krieg kämpfte. Dass es diese Jugend gab, ist nicht nur bedeutsam für die deutsche Jugend, sondern auch für die Jugend aller anderen Länder.« Sein Buch über die erste Reihe junger Kämpfer gegen Krieg und Barbarei widmete der Autor »der millionenfachen zweiten Reihe, der Freien Deutschen Jugend«. Weitere Prosa-Arbeiten Hermlins, die Ende der 40er / Anfang der 50er Jahre entstanden, waren die vier Erzählungen Die Zeit der Gemeinsamkeit über den Warschauer Ghetto-Aufstand, Berlin 1949, und die Erzählung Die Zeit der Einsamkeit, Leipzig 1950, über internationales solidarisches Zusammenwirken im Anti-Nazi-Kampf.
Mut im Umgang mit Ahnungen und im Aussprechen von Kritik
Wenn wir im Frühjahr 2015 des hundertsten Geburtstags von Stephan Hermlin gedenken, haben wir auch die Szenen des Ringens in den eigenen Reihen vor Augen: der Streit um die Frage, ob wir beim literarischen Erben auch die Werke von Franz Kafka und Marcel Proust einbeziehen wollen oder davon absehen sollten. Hermlin hat sich schon frühzeitig klug fürs Einbeziehen ausgesprochen. So förderte und stärkte er das Bestreben, aus vielen Bereichen des Erbes zu lernen. In dem Buch Lektüre kann man nachlesen, wie er während der Jahre 1960-1971 seine Kompetenz für Urteile in solchen Streitfragen stärkte – in Essays über Georg Heym und Else Lasker-Schüler, Becher, Bobrowski und Fühmann, Machado und Hernándes, Majakowski und Attila József, Villon, Chateaubriand, Verlaine und Aragon. Er ergänzte diese Studien durch einige Antworten auf Anfragen von Zeitschriftenredaktionen aus dem In- und Ausland. Lehrreich bleibt der Konflikt um die 1976 erfolgte Ausweisung Wolf Biermanns; die Entscheidung dazu wurde erst im Herbst 1989 korrigiert.
Als auf dem Budapester Kulturforum im Oktober/November 1985 Künstler, Kulturpolitiker, Kunstwissenschaftler und Diplomaten aus 33 europäischen Staaten sowie aus den USA und Kanada unter anderem Probleme der Zensur erörterten, sagte Hermlin:
»Ich spreche als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, als Deutscher. Deutsche sollten im Hinblick auf Zensur ein geschärftes Bewusstsein haben, sie sollten den Begriff nicht leichtfertig gebrauchen, auch nicht über Differenzierungen und Entwicklungen hinwegsehen, geschah es doch in unserem Jahrhundert, dass Deutsche bemüht waren, eine Prophezeiung Heinrich Heines wahr zu machen, indem sie zu den höchsten Formen von Zensur griffen und Bücher verbrannten, bevor sie zum Verbrennen von Menschen übergingen.«
Auf damals Gegenwärtiges in beiden deutschen Staaten zu sprechen kommend, sagte er:
»Ich habe in den letzten zehn bis zwölf Jahren in meinem Lande, was die Verbreitung großer Literatur betrifft, erstaunliche, ermutigende Erfahrungen gemacht. Der Kalte Krieg liegt hinter uns, aber auch heute noch können manche von liebgewordenen Praktiken nicht lassen. Wenn ich bei einem bekannten Kritiker der Bundesrepublik lese, dass die Deutsche Demokratische Republik einem kulturellen Austrocknungsprozess unterliege, sage ich mir, dass dieser Mann Augen und Ohren schon sehr fest verschließen muss, um diesen Satz hinschreiben zu können. Der gleiche Mann schreibt einen umfangreichen Artikel über die Tatsache, das Buch eines der wesentlichen Schriftsteller der DDR sei nicht erschienen, was zutrifft, nur vergisst er ein halbes Jahr darauf, auch nur mit einem Wort zu erwähnen, dass das Buch mittlerweile erschienen ist.«
Und weiter:
»Ich halte die Lektüre von Marx, Engels und Lenin für unentbehrlich für wache und gebildete Menschen, aber ich halte auch Walter Benjamin, Ernst Bloch und Georg Lukács für äußerst lesenswert; es gibt sie in der DDR. Und ich freue mich, die ersten in der DDR verlegten Bände des großen Denkers und Entdeckers Sigmund Freud unter meinen Büchern zu haben.«
Auf dem X. Schriftstellerkongress im November 1987 widersprach er Wolfgang Harich, der die DDR »streng getadelt« hatte, weil sie »zu bedeutenden, problematischen Gestalten der Vergangenheit wie Luther, Friedrich dem Großen und Bismarck ein neues Verhältnis gewinnt«.
Vergangenes und Heutiges
Zum Schluss ein Wort, das Vergangenes und Heutiges gleichermaßen betrifft: 1951/52 hat Stephan Hermlin in den Zyklus seiner Städte-Balladen ein Gedicht unter dem Titel Epon eingefügt. Epon war der Name einer revolutionären griechischen Jugendorganisation. Für deren Leben und Leiden unter deutscher Nazibesatzung fand er die Worte:
»Sie sehn im thessalischen Mittag die Trauben am Wege
Von Panzerketten zermahlen. Es kreischt der Milan
Auf die verlassenen Dörfer, wie Hobel und Säge
Hinterm Gefängnis schrein, wenn die Erschießungen nahn.«
Die Mitglieder von Epon bildeten die erste Reihe der gegen Fremdherrschaft kämpfenden jungen Griechinnen und Griechen. In deren Spuren bewegt sich jetzt die Reihe der heute Jungen, die sich deutscher Bankenbefehlsgewalt widersetzt. Vor Augen haben sie deren egoistische Grimassen, die ihr wahres Antlitz enthüllen, wenn ihre Herren Entschädigung und Reparationen verweigern und das Maul aufreißen, um den Griechen zu befehlen, sie sollten gefälligst die ihnen angesagten »Hausaufgaben« erfüllen.
Mehr von Klaus Höpcke in den »Mitteilungen«:
2014-08: Die Fraktionszwangslüge von 1914
2012-02: Die »Stalin-Note« vom 10. März 1952
2011-11: Kleist und die Waage der Zeit