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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Fraktionszwangslüge von 1914

Klaus Höpcke, Berlin

 

Die Beratungen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zur Vorbereitung der Reichstagssitzung vom 2. Dezember 1914 begannen am 29. November. In deren Verlauf kam es zu Auseinandersetzungen über einen Vorschlag von Georg Ledebour. Der hatte gemeint, Kreditbewilligungsbereitschaft könne man an eine von der Regierung zu verlangende »Zusicherung« binden, »dass sie den Krieg nur zur Verteidigung Deutschlands, zur Niederwerfung des Zarismus und zur Befreiung der vom Zarismus unterdrückten Völker führe«. Dem wurde entgegengehalten, der Regierung des verfassungswidrigen Belagerungszustands könne kein Vertrauen geschenkt werden. Vor allem aber sei es widersinnig, den Charakter des Kriegs in die Disposition der Regierung stellen zu wollen; allein der objektive geschichtliche Charakter des Krieges dürfe die Haltung zu ihm bestimmen, nicht aber »eine Zusicherung oder eine Auffassung der Regierung über diesen Charakter«.

»Zertrümmerung unserer Parteigrundsätze« - Haase sieht sie, kritisiert sie und … vertritt sie!

Der Austausch von Argumenten zu dieser Problematik verlief in verhältnismäßig ruhigen Bahnen. Dagegen hatte sich zuvor eine - wie es in einer protokollarischen Notiz heißt - »stürmische Szene" entwickelt, mit erregten Vorwürfen, Zurufen, Angriffen, Verdacht der Nötigung und deren Leugnung. Beteiligt an dem Austausch gegenseitiger Beschuldigungen in der Fraktionssitzung waren vor allem die drei Abgeordneten Haase, David und Cohen.

Was war los? Worum ging es?

Haase nannte die Kreditbewilligung eine »Zertrümmerung unserer Parteigrundsätze«. Cohen fand, wenn Haase so denke, hätte er am 4. August die Fraktionserklärung nicht verlesen dürfen, worauf ihm mehrere Fraktionsmitglieder zuriefen, er habe wohl vergessen, dass man Haase zur Abgabe der Erklärung genötigt habe. David erinnerte daran, dass am 4. August die Fraktionsminderheit, die eigentlich gegen die Kreditbewilligung war, sich im Plenum der Mehrheit unterworfen habe. Damit sei sie an der von Haase kritisierten »Zertrümmerung der Parteigrundsätze« beteiligt. Solch höhnische Abkanzelung rief einen Zwischenruf hervor, der aufhorchen ließ, ja, wie das Protokoll vermerkt, »lebhafte Bewegung« auslöste. Der Zwischenrufer war Karl Liebknecht. Er setzte den Punkt aufs »i« in dem wüsten Streit. In einem knappen Satz drückte er aus, was sich aus Davids Schmähworten, die Minderheit habe durch ihre Unterwerfung unter die Mehrheit selber zur Zertrümmerung von Parteigrundsätzen beigetragen, folgern ließ. Die Konsequenz der Bemerkung Davids, sagte Liebknecht, führe zur öffentlichen Abgabe eines Minderheitsvotums im Plenum.

Wie sich verhalten könnte, wer Geld für den Krieg nicht bewilligen wollte, war damit angedeutet. Haase übrigens betraf das schon bald nicht mehr. Er, der die »Zertrümmerung unserer Parteigrundsätze« gesehen, der sie kritisch zur Sprache gebracht, der am 4. August den parteigrundsätzezertrümmernden Fraktionstext nur unter Nötigung verlesen hatte, er, derselbe Haase, ließ sich zum 2. Dezember erneut überreden, die Mehrheitserklärung zu verlesen. Ein beklagenswerter Tatbestand: Er sieht die Zertrümmerung, er kritisiert sie, und dann … vertritt er sie!

Kreditbewilligung ist schlimmer als Budgetbewilligung: Blankovollmacht

Karl Liebknecht hingegen beließ es nicht bei dem mit seinem Zwischenruf gegebenen Signal. Er meldete sich zu Wort, um seinen Fraktionskollegen dreierlei zu verdeutlichen: erstens, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, er betreibe »Wühlarbeit in der Partei«, haltlos sind; zweitens, dass die Kreditbewilligung gegen das (übrigens auf dem Erfurter Parteitag 1891 beschlossene) Programm der SPD sowie gegen die Beschlüsse der Parteitage von Lübeck, Hamburg und Magdeburg und auch gegen die Beschlüsse der internationalen Kongresse von Stuttgart und Basel verstößt, politische Willensbildungen, die allesamt ausschlossen, für kriegerische Eroberungen einzutreten; drittens, dass Kreditbewilligung noch schlimmer ist als die ohnehin durch Parteitagsbeschlüsse verbotene Budgetbewilligung, da sie »der jedes Vertrauens unwürdigen Regierung Blankovollmacht, und zwar in unerhörtem Umfange, gewährt«. Liebknecht sagte, die Kreditvorlage »ist nichts anderes als eine riesenhafte Wehrvorlage, nur eine durch den Blankocharakter des Kredits und die Aktualität des Mordzwecks besonders bösartige«. Zugleich die Kriegskredite bewilligen und für den Frieden reden, das heiße: »mit der Linken die Friedenspalme schwingen, während man mit der Rechten dem Militarismus das Schwert in die Hand drückt«.

Sodann trug er eine Erklärung vor, zu der er beantragte, sie solle im Reichstag namens der sozialdemokratischen Fraktion am 2. Dezember 1914 abgegeben werden.

Ultimatum an Serbien war der gewollte Krieg

Karl Liebknechts Erklärungsentwurf für den 2. Dezember 1914 ist in der langen Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands eines der bedeutendsten Dokumente, ein Schriftstück von hohem politischen Rang. In der Erklärung, die Liebknecht ausgearbeitet hatte und vortrug, stehen Sätze wie diese:

»Das Attentat von Sarajewo wurde als demagogischer Vorwand ausersehen. Das österreichische Ultimatum an Serbien vom 23. Juli war der Krieg, war der gewollte Krieg. Alle späteren Friedensbemühungen waren nur Dekoration und diplomatische Winkelzüge, gleich viel, ob sie von einzelnen Mitwirkenden ernst gemeint wurden oder nicht.«

Die Parole »Gegen den Zarismus«

Über den seinerzeit gegebenen Anlass hinausweisende Bedeutung haben auch Inhalt und Art der von Karl Liebknecht in seinem Erklärungsentwurf gegebenen Analyse der damals überall gestreuten Ausrede, der Krieg richte sich gegen die Terrorherrschaft der russischen Zaren. Wir lesen:

»Die Parole, ›Gegen den Zarismus‹ diente nur dem Zweck, die edelsten Instinkte des deutschen Volkes, seine revolutionären Überlieferungen, für den Kriegszweck, für den Völkerhass zu mobilisieren. Deutschland ist der Mitschuldige des Zarismus bis zum heutigen Tage. Deutschland, dessen Regierung zur militärischen Hilfe für den Blutzaren gegen die russische Revolution (von 1905 - K. Hö.) bereitstand. Deutschland, in dem die Masse des Volkes wirtschaftlich ausgebeutet, politisch unterdrückt ist, wo nationale Minderheiten durch Ausnahmegesetze drangsaliert werden, hat keinen Beruf zum Völkerbefreier. Die Befreiung des russischen Volkes muss dessen eigene Sache sein, so wie die Befreiung des deutschen Volkes nicht das Ergebnis von Beglückungsversuchen anderer Staaten, sondern nur sein eigenes Werk sein kann.«

Damit ist eine sozialistische Grundsatzposition ausgesprochen. Sie zu verletzen, führt, wer auch immer die Verletzung begeht und welche noch so hehren Ziele er dafür angibt, zu Verderben und Verbrechen.

Völkerzerfleischung entgegenwirken

Ein weiterer Vorschlag Liebknechts an seine Fraktion, eine feste Haltung einzunehmen, einen klaren Standpunkt zu beziehen, richtete sich auf die Art der Kriegsführung, zu der er zu erklären anregte, sie fordere »unseren leidenschaftlichen Widerspruch heraus«. Die Proklamation des Grundsatzes »Not kennt kein Gebot« entziehe allem Völkerrecht den Boden. Er forderte, »gegen die Missachtung der luxemburgischen und belgischen Neutralität, diesen Bruch feierlicher Verträge, gegen den Überfall auf ein friedliches Volk« zu protestieren. Verdammt werden sollte die grausame Behandlung der Zivilbevölkerung, bedauert die schlechte Versorgung der Kriegsgefangenen in allen Ländern, Deutschland nicht ausgenommen.

Aufmerksames Zuhören verdienen, scheint mir, zwei Sätze, mit denen eine Passage eingeleitet wird, die am Ende von der Pflicht spricht, »mit allen unseren Kräften der Völkerzerfleischung entgegenzuwirken«. Zuvor wird gesagt: »Wir empfinden mit den Söhnen des Volkes, die im Felde Übermenschliches an Tapferkeit, Entbehrung, Aufopferung leisten. Wir empfinden mit ihnen als mit unserem eigenen Fleisch und Blut, für das wir, wenn die Zeit kommen wird, unerbittlich Rechenschaft heischen werden.«

Von 17 Stimmen blieb eine

Enden sollte die Erklärung mit der Forderung eines schleunigen, für keinen Teil demütigenden Friedens, dem Dank an neutrale Mächte für ihre vermittelnden Friedensbemühungen, »deren Zurückweisung nur den Zielen der Annexionspolitik und dem an langer Kriegsdauer interessierten Rüstungskapital entgegenkommt«, der Warnung an Regierungen und die herrschenden Klassen aller kriegführenden Länder vor der Fortsetzung des blutigen Gemetzels und dem Aufruf an die, wie es hieß, arbeitenden Massen dieser Länder, die Beendigung des Gemetzels zu erkämpfen.

Was die Fraktionsmehrheit beschloss, stand in schreiendem Gegensatz zum geschichtlichen Verantwortungsbewusstsein, das aus jeder Zeile des Entwurfs von Liebknecht sprach. Der Kriegskredite-Bewilligung wurde zugestimmt. Welches Maß die Vernebelung des Geistes und die nationalistische Hartherzigkeit und Verblendung in diesem Gremium erreicht hatten, wurde deutlich, als ein Brief Viktor Adlers verlesen und erörtert wurde. Adler beschwor die Fraktion, »eine energische Kundgebung für den Frieden und gegen den Bruch der belgischen Neutralität zu erlassen«. Die Mehrheit, so ist den Fraktionssitzungsaufzeichnungen zu entnehmen, »erachtete jedes öffentliche Eintreten für den Frieden als eine Gefährdung der Interessen Deutschlands«. Adlers Ansinnen wurde abgewiesen.

Zur Ehre von 17 Abgeordneten ist zu sagen, dass sie in der Fraktionssitzung der Kriegskredit-Bewilligung widersprachen, gegen sie stimmten. Beklagenswert ist zugleich ihre Schwäche, ihr ungenügendes politisches Stehvermögen. Im Plenum der Reichstagssitzung am 2. Dezember 1914 blieb von den 17 Abgeordneten nur einer seiner Antikriegs-Gesinnung treu.

Fraktionsvorsitzender Molkenbuhr fälscht Parteitagsbeschluss

Auf das Umkippen der anderen 16 hatte der damalige SPD-Reichstagsfraktionsvorsitzende Hermann Molkenbuhr mit einem Trick hingearbeitet. Er behauptete, es gebe einen Beschluss des Gothaer Parteitages von 1876 (also nicht des durch Marxens kritische Randglossen berühmt gewordenen von 1875, sondern ein Jahr später), der einheitliche Fraktionsabstimmung vorschreibe.

Einen solchen Antrag hatte er selber 1876 zwar gestellt. Aber der war abgelehnt worden. Davon kann sich jede und jeder Interessierte heute zweifelsfrei überzeugen. Im als Reprint vorliegenden »Protokoll des Socialisten-Congresses zu Gotha vom 19. bis 23. August 1876« ist nachzulesen auf Seite 27, dass Molkenbuhr »ein stets einheitliches Vorgehen der sozialistischen Abgeordneten« verlangt hat; auf den Seiten 30 und 31, dass ein Antrag Löwensteins zur Tagesordnung angenommen wird, wodurch »die weiteren Anträge, bis auf den Frick-Lingnerschen (der uns hier nicht weiter interessiert - K. Hö.), fallen«; und schließlich auf Seite 32, dass der von Molkenbuhr gestellten Forderung, die als »Antrag II. der Vorlage« figurierte und von dem Einreicher nochmals »motivirt« wurde, folgendes Schicksal widerfuhr: »Hasselmann erklärt sich aus praktischen Gründen dagegen., A. Kapell erklärt sich gegen den Antrag, weil durch die Fraktions-Abstimmungen die persönliche Überzeugung der Abgeordneten verwischt werde, und man die Haltung der Einzelnen weniger kennen lerne. Mehrere andere Redner erklären sich ebenfalls gegen den Antrag. Der Antrag wird in seinem ersten Teil als erledigt angesehen, da eine Fraktion schon besteht, und in seinem zweiten Teil verworfen.« (Hervorhebungen: K. Hö.)

Also: Die Behauptung vom Fraktionszwangsbeschluss erweist sich als Lüge. 38 Jahre, nachdem er mit seinem Antrag gescheitert ist, erklärt der Urheber den verworfenen Antrag für angenommen, für beschlossene Sache und - pustet damit 16 erwachsene Leute um. Seine unrichtige Behauptung hat, worauf Karl Liebknecht in einem Brief vom 13. Januar 1915 den Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion hinwies, »erheblichen Einfluss auf den Gang der Fraktionsverhandlungen« ausgeübt.

Zuvor hatte Liebknecht bereits am 3. Dezember 1914 dem Fraktionsvorstand geschrieben, dass er im Fraktionsbeschluss zur Bewilligung der Kriegskredite einen schweren Verstoß gegen grundlegende Parteibeschlüsse sah und hinzugefügt: »In diesem Gewissenskonflikt musste ich die Pflicht der Fraktionsdisziplin, so hoch ich sie schätze, der Pflicht zur Vertretung des Parteiprogramms unterordnen.« Er hoffte, dafür bei den Genossen in und außerhalb der Fraktion Verständnis zu finden. Zumindest vom Vorstand der Fraktion wurde diese Hoffnung enttäuscht. Von dem wurde Liebknecht wegen seiner Abstimmung gegen die Kriegskreditvorlage des Bruchs der Disziplin bezichtigt. Der Vorstand drohte prompt, dass dieser Bruch »die Fraktion noch beschäftigen wird«.

Keinen Deut weiser war dieser Vorstand als der Reichstagspräsident. Dem hatte Karl Liebknecht gemäß Paragraph 59 der Geschäftsordnung eine Abstimmungsbegründung überreicht. Die Begründung, die in gekürzter Fassung enthielt, was Liebknecht ursprünglich als Fraktionserklärung entworfen hatte, in den stenographischen Bericht der Reichstagssitzung aufzunehmen, lehnte der Präsident ab. Warum? Weil in ihr Äußerungen enthalten seien, »die, wenn sie im Hause gemacht wären, Ordnungsrufe nach sich gezogen haben würden«.

So weit in skizzenhaften Strichen einiges zu den Vorgängen um das geschichtsträchtige Datum 2. Dezember 1914. - Nun abschließend einige auf spätere Zeiten - bis heute - bezogene, an das damals Geschehene anknüpfende Überlegungen.

Visionen anderer Abläufe europäischer Geschichte

Ich möchte dazu einladen, dass wir uns die Frage stellen: Welchen Verlauf hätten die deutsche, die europäische und die Weltgeschichte wahrscheinlich genommen, welche Abläufe wären vorstellbar für den Fall, am 2. Dezember 1914 hätte im Deutschen Reichstag nicht einzig und allein der Sozialdemokrat Karl Liebknecht gegen die Gewährung der Kriegskredite gestimmt, sondern die ganze sozialdemokratische Fraktion?

Die Welt - raus aus dem Krieg. Deutschland - auf welchem Weg wäre es danach raus aus dem Kaiserreich, rein in die Republik gekommen? Und wann? Schon vor 1918 und in welcher Abwandlung dessen, was der Inhalt der Novemberrevolution war? Hätte die Republik wie ihre Verfassung den Beinamen Weimar erhalten, wo doch das Parlament für Flucht aus Berlin vermutlich kaum Gründe hätte anführen können? Oder doch Weimar, aber um wirklicher und ausdrücklicher humanistischer Bindung des Staatswesens einer demokratischen Republik willen? Welche anderen Auswege aus den weltweiten Krisen Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre hätten unsere Großmütter und Großväter, Väter und Mütter gefunden, andere im Sinne des Verhinderns von Nazi-Diktatur und Zweitem Weltkrieg mit totalem Niedergang nach totaler Kriegsführung?

Geschichte ist immer offen für Alternativen. Das gilt für Künftiges. Aber gilt es nicht auch für Möglichkeitskonstruktionen beim Nachsinnen über die Vergangenheit? In diesem Sinne - nicht aber als retrospektives »Zaubern« - möchte ich den Ansatz zu Visionen anderer Abläufe europäischer Geschichte verstanden wissen.

Und noch eine Frage: Wie wäre es, wenn die heutige SPD-Parteigeschichtsschreibung den Erklärungsentwurf Karl Liebknechts zum 2. Dezember 1914 künftig nicht in selektiver Vergangenheitswahrnehmung aussparte und wegschwiege wie zumeist bisher, sondern als eines der wichtigsten und ehrenhaftesten Papiere der deutschen Sozialdemokratie erkennen, dokumentieren und würdigen würde?

 

Mehr von Kaus Höpcke in den »Mitteilungen«: 

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