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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Kleist und die Waage der Zeit

Klaus Höpcke, Berlin

 

Heinrich von Kleist war es unannehmbar, "ein Spiel des Zufalls, eine Puppe am Draht des Schicksals" zu sein. Verzweifelt suchte er seinen "Lebensplan", strebte er nach gesellschaftlicher Resonanz. "Ich auch finde", schrieb Kleist 1809 an Heinrich Joseph von Collin, "man muß sich mit seinem ganzen Gewicht, so schwer oder leicht es sein mag, in die Waage der Zeit werfen ..."

Kleists ethischer Rigorismus, wie er sich im heißen Streben nach Wahrheit und nach der unverzüglichen Umsetzung des als richtig Erkannten ins Leben zeigt, strahlt Impulse aus. Ob sie uns heute erreichen? Sein Drang zur gesellschaftlich direkt eingreifenden Wirkung gerade in seinen letzten Lebensjahren mutet ungemein anregend an. Das festzustellen, kann nicht bedeuten, seine Irrtümer zu preisen. Blinde Nachfolge trägt nirgends weit. Sehend zu beerben, was Kleist hinterließ, das heißt wohl vor allem, uns mit Leidenschaft in die Waage unserer Zeit zu werfen: für eine Gesellschaft, die dem Individuum das Eingreifen in den Gang des Ganzen ermöglicht und abfordert.

Beherzigenswert erscheint, was Kleist in einer Paradoxe unter der Überschrift "Von der Überlegung" festgehalten hat: "Wer das Leben nicht, wie ein ... Ringer, umfaßt hält, und tausendgliedrig, nach allen Windungen des Kampfs, nach allen Widerständen, Drücken, Ausweichungen und Reaktionen, empfindet und spürt: der wird, was er will, in keinem Gespräch durchsetzen; viel weniger in einer Schlacht." Die zum Handeln nötige Kraft nicht vor der Tat verwirren, hemmen und unterdrücken zu lassen, das ist ein guter Rat für Humanisten. Nicht minder wichtig selbstverständlich, nachher "sich dessen, was in dem Verfahren fehlerhaft und gebrechlich war, bewußt zu werden, und das Gefühl für andre künftige Fälle zu regulieren."

Betrachten wir aus dem Blickwinkel Kleistscher Erfahrungen und Gedanken unser Leben, so gewinnen bestimmte Seiten dessen, was wir tun, erheblich an historischer Tiefenschärfe. Als wir 1977 auf den 200. Geburtstag Kleists zugingen, wurden viele sich dessen deutlicher bewußt als im üblichen Lauf der Jahre (wie sich in Heft 42/1977 der "Weltbühne" nachlesen läßt). Und darauf jetzt, mit Kleists 200. Todestag vor Augen, erneut zu sprechen zu kommen, kann reizvoll sein. In seinen "Fragmenten" schrieb Kleist: "Man könnte die Menschen in zwei Klassen abteilen; in solche, die sich auf eine Metapher und 2) in solche, die sich auf eine Formel verstehn. Deren, die sich auf beides verstehn, sind zu wenige, sie machen keine Klasse aus." Sinnen wir darüber nach, werden wir gewahr, daß viel zu tun bleibt, damit "deren, die sich auf beides verstehn", mehr werden. Menschliches Schöpfertum entspringt der Vereinigung von beidem: von Formel und Metapher, von Regel und Bild, von Wissen und Ahnen, von Denken und Träumen, von der Fähigkeit zu Berechnungen, deren beste Eigenschaft Exaktheit ist, und der genauso wichtigen Fähigkeit zu Vermutungen, deren Stärke auf Phantasie beruht. Wir schätzen Logik und Ästhetik in gleichem Maße hoch.

Was die Arbeit des Künstlers betrifft, die der Metapher zu größerer Macht verholfen hat und verhilft, so lohnt es sich, stets aufs neue Bekanntschaft mit Kleists Werken zu schließen. Erinnert sei bei dieser Gelegenheit an eine weitsichtige Vermutung, die Herbert Ihering 1925 ausgesprochen hat. Er schrieb, daß der 'Prinz von Homburg' erst dann in den letzten Geheimnissen seiner Form geahnt werden (wird), wenn er im politischen Tagesstreit nicht einmal zu Mißverständnissen mehr Anlaß geben kann". Wie beschäftigt und bewegt uns der Zusammenstoß zwischen dem träumerisch der Wirklichkeit entschwindenden Prinzen und dem nüchtern die Staatsangelegenheiten wahrnehmenden Kurfürsten? Der Zuschauer begegnet auf unseren Bühnen in neueren Stücken Figuren wie Amphitryon und Prexaspes, Herakles und Philoktet. So fremd dürfte ihm Kleists "Penthesilea" folglich ebenfalls nicht sein. Das Menschenmögliche im Guten wie im Bösen modellhaft vorgeführt zu bekommen, führt das nicht auch dazu, der ins schreckliche Ende mündenden Unbedingtheit Penthesileas mehr Verständnis entgegenbringen zu können? Die Suche nach neuen Zugängen zu den Dramen Kleists braucht bei dem meisterhaften und vielgespielten Lustspiel "Der zerbrochene Krug" nicht halt zu machen.

Unerhörtes dramatisches Geschehen schlägt uns in Bann, wenn wir Kleists Novellen und Erzählungen lesen, deren dichte Sprache die Entwicklung der deutschen Literatur nachhaltig beeinflußt hat. Von der "Verwandlung des Gefühlsfeuers in die gefrorene Ruhe des bleibenden Bildes" sprach Jakob Wassermann.

Die "gebrechliche Einrichtung der Welt" wird beklagt, die das Lebensglück der Individuen zerbricht. Eine verkehrte Welt läßt den Rechtsuchenden Kohlhaas zum Räuber und Mörder werden. In den tragischen Konflikten, die mit der Auflösung festgefügter Ordnungen und Wertsysteme verbunden sind, sehen wir ein literarisches Zeugnis der zerreißenden Gegensätze einer heraufkommenden kapitalistischen Gesellschaft. Sie bringt, wie wir zu unserem Verdruß während der letzten zwanzig Jahre anschaulicher als früher aus nächster Nähe erfahren mußten, menschliche Entfremdung hervor und den massenhaften Bruch von Menschenrechten, die Verletzung und Zerstörung von Menschlichkeit. Der zwiespältige Charakter des bürgerlichen Individualismus wird zum bewegenden Gegenstand der Prosa Kleists: Gepriesen werden Stolz und Würde des Einzelnen im Widerstand und Kampf gegen eine Welt, die mit aufklärerischer Moral nicht zu vereinbaren ist. Zum anderen gestaltet er das Übel der Selbstüberhebung, einer Selbstüberhebung, die zwanghaft einer Leidenschaft ohne Verständnis und Gefühl für den anderen entspringt. So ist sein Werk doppelt interessant für das Streben des Einzelnen, sein Glück bewußt im Bündnis mit anderen zu erringen.

Unter Berufung auf Kleist wird vielfach gesagt, daß einer erst an der Welt erkranken müsse, um sie als das Heillose schlechthin diagnostizieren zu können. Diese Sicht enthält viel Einleuchtendes, aus Erfahrung geschöpft. Wenn allerdings solche Betrachtung die den Vertretern der Aufklärung und Klassik gebräuchlichen Begriffe "Natur" und "Unnatur", "Gesundheit" und "Krankheit" lediglich mit umgekehrtem Vorzeichen versieht, ist sie dann imstande, zu einer vertieften historischen Erkenntnis beizutragen? Weder ein bürgerlicher Geniekult um den Klassiker aus Frankfurt am Main noch ein sich antibürgerlich gebender Geniekult um den "unangepaßten Außenseiter" aus Frankfurt an der Oder sind freier Geistesentwicklung förderlich.

Streitstoff bietend und also nützlich für eben diese freie Geistesentwicklung in heutiger Aufnahme dessen, was Kleist geschaffen und hinterlassen hat, verdienen Aufmerksamkeit die von der Feuilletonredaktion des "Neuen Deutschland" in großer Serie veröffentlichten "Marginalien zum KLEIST-JAHR 2011" mit Beiträgen aus der Feder von Heiner Müller und Peter Stein, Georg Lukács und Antje Vollmer, Hans Magnus Enzensberger und Peter Michalzik, Friedrich Gottlob Weigel und Alfred Kerr, Miriam Sachs und Hans-Eckardt Wenzel und vielen anderen.

Wollen wir uns schließlich auch dafür interessieren, wie Kleist seine Werke schuf. "Er änderte oft und arbeitete wieder um. Er selbst war am schwersten zu befriedigen." Ludwig Tieck, der das mitteilt, nennt ihn deswegen "gewissenhaft ängstlich". Wir würden sagen: gewissenhaft sorgsam. Und ich weiß mich von Lesern und Autoren unserer Tage richtig verstanden, wenn ich zitiere, was Tieck an Kleists literarischer Gewissenhaftigkeit lobte, nämlich: "daß er, wenn er auch den Stoff, den er erwählt, nach der Art beugte und ummodelte, die ihm und seiner Gesinnung zusagte, dennoch fast niemals Wahrheit und Natur seinen Gewohnheiten und Gelüsten aufopferte". Er machte "sehr ernste und mühsame Studien nach der Natur und schob nicht Nebelgebilde statt der Wirklichkeit unter".

 

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