Wo Kanzler Scholz irrt
Egon Krenz, Dierhagen
In Leipzig wurden am Mittwoch viele Reden gehalten, auch Bundeskanzler Scholz vereinnahmte die Geschichte. »Trotz der Gerüchte über aufgestockte Blutkonserven und Extraschichten in Leipziger Krankenhäusern« seien die Menschen auf die Straße gegangen, sagte er. Dieses »Gerücht« kam allerdings erst zwanzig Jahre später auf. Bundespräsident Horst Köhler setzte es am 9. Oktober 2009 in einer Rede am gleichen Ort und aus gleichem Anlass in die Welt. »Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen«, erklärte er damals. »Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt.«
Nichts von dem stimmte.
Es gab weder Panzer vor noch in der Stadt. Es gab auch keinen Befehl an die Polizei, auf Demonstranten zu schießen. Es wurden weder Blutplasma noch Leichensäcke bereitgestellt. Obgleich damals dieser unzutreffenden Behauptung öffentlich widersprochen wurde, taucht sie alle Jubeljahre in dieser oder ähnlichen Weise wieder auf. Jetzt wieder.
Die Leipziger Ereignisse vom 9. November heute für die spätere »deutsche Einheit« zu vereinnahmen, ist nur ein weiteres Gerücht. Ich darf daran erinnern, dass an jenem Tag der Dirigent Kurt Masur, der Theologe Dr. Peter Zimmermann, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange sowie die Politiker Dr. Kurt Meyer, Jochen Pommert und Dr. Roland Wötzel – alles Leipziger – zur Gewaltlosigkeit aufriefen und erklärten: »Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land.« Zeitgleich erhielt ich als nachmaliger Staatsratsvorsitzender Post von den beiden Theologen Friedrich Schorlemmer und Rainer Eppelmann: »Uns geht es um Frieden und Sozialismus in unserem Land.«
Die Losung »Wir sind ein Volk!« kam erst Ende November in die Leipziger Montagsdemonstrationen. Und zwar aus dem Westen. Zusammen mit Reichskriegsflaggen.
Mittwoch, 9. Oktober 2024.
Siehe auch: www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/egon-krenz-wo-kanzler-scholz-in-seiner-rede-zur-friedlichen-revolution-irrt-li.2261496 (11. Oktober 2024, exklusiv für Abonnenten).
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