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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Ein Widerwort zur Präsidentenrede

Egon Krenz, Dierhagen

 

Die letzte große Schlacht des Zweiten Weltkrieges in Europa fand in Berlin statt. Sowjetische Truppen hissten das Siegesbanner auf dem Reichstag. Unzählige Rotarmisten mussten noch in letzter Minute sterben. In geografischer Nähe zu diesem historischen Ort hielt 75 Jahre später der Bundespräsident eine Ansprache, die zu meinem Entsetzen unabdingbare Ansprüche an eine historisch wie moralisch aufrichtige Gedenkrede nicht erfüllte. Wer erwartet hatte, der Bundespräsident würde darin auch den Anteil der sowjetischen Armee wenigstens an der Befreiung der deutschen Hauptstadt würdigen, wurde enttäuscht. Das Heimatland der Rotarmisten hatte mit 27 Millionen Toten die Hauptlast des Krieges getragen. Kein Land der Welt hatte mehr Opfer zu beklagen als die Sowjetunion. Jenseits aller ideologischen Barrieren sollten diese Fakten anerkannt und gewürdigt bleiben. Dass dem Bundespräsidenten dies in seiner Rede keinen einzigen Satz wert war, halte ich zumindest für einen unverzeihlichen Fehler. Der Einwand, auch die Rollen der anderen Mächte der Anti-Hitler-Koalition blieben ja unerwähnt, ist kein Argument, sondern ein weiterer Fauxpas. Zwar war ich bei Kriegsende erst acht Jahre alt, aber soviel ist mir in Erinnerung geblieben: Das vom Bundespräsidenten angemahnte »Nie wieder« kam nach 1945 nicht als Weckruf aus den Westzonen, im Gegenteil, es verhallte dort im Makel einer unbewältigten Aufarbeitung des Hitlerfaschismus. Zu uns drang dieser Appell aus Buchenwald und wurde eine Maxime fürs Leben: »Nie wieder Krieg und Faschismus«. Als Bundespräsident von Weizsäcker 1985 so mutig wie geschichtsbewusst vom »Tag der Befreiung« sprach, gab es diesen in der DDR bereits seit 35 Jahren als gesetzlichen Feier- oder Gedenktag. Ob »verordnet« oder nicht, ist hier nicht die Frage. Schon im Potsdamer Abkommen hatten die Alliierten dem deutschen Volk den Antifaschismus verordnet. Er wurde von Jahr zu Jahr stärker auch im Lebensgefühl vieler Ostdeutscher verinnerlicht. Es wäre ein überfälliges Zugehen auf DDR-Realitäten gewesen, hätte Bundespräsident Steinmeier nicht nur an die Gedächtnispolitik der alten Bundesrepublik, sondern auch an die der DDR erinnert, die ja nach 1990 Teil der deutschen Nationalgeschichte werden sollte. Wer in diesem Jahr am 8. und 9. Mai wieder beobachtete, wie viele Familien im Osten Deutschlands die Gedenkstätten der Befreier aufsuchten und der Gefallenen gedachten, wird zugeben müssen: Gute Prägungen verlieren sich nicht. Dass es nicht nur die Alten, sondern auffallend viel auch junge Menschen waren, die Blumen niederlegten, bestärkt meine Hoffnung: Es wird auch in Zukunft der Befreier gedacht trotz offizieller Zurückhaltung.

(Auszugsweise veröffentlicht in »junge Welt« vom 12. Mai 2020, Seite 8 / Abgeschrieben)

 

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