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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Welche Aussichten zeichnen sich in der Ukraine für den Kriegsverlauf und seine Beendigung ab?

Lühr Henken, Berlin

 

Rede im Plenum der Berliner Friedenskoordination, 5. März 2023

 

Klar ist, dass der Krieg so schnell wie möglich beendet werden muss. Die Zahl der Toten und Verletzten ist schon jetzt entsetzlich. Es gibt leider keine wirklich verlässliche Zählung. Wie in jedem Krieg versucht jede Seite, ihre eigenen Verluste niedriger und die des Gegners höher zu beziffern als sie sind. Ob die Zahlen, die der US-Generalstabschef Milley im November 2022 nannte, glaubwürdiger sind, kann ich nicht beurteilen. Er sprach von 100.000 Getöteten und Verwundeten auf jeder der beiden Seiten, sowie von über 40.000 getöteten ukrainischen Zivilisten.1 Nach einer zu simplen, aber verbreiteten Faustregel kommen in einem Krieg auf einen Getöteten drei Verletzte.2 Wenden wir diese Formel an, kommen wir auf zusammen 50.000 tote und 150.000 verletzte Soldaten. Diese Schätzungen wurden Mitte November publik – nach 9 Monaten Krieg. Somit waren es damals insgesamt 90.000 zivile und militärische Todesopfer, also durchschnittlich 10.000 Tote im Monat. Heute sind wir vier Monate weiter. Die Zahl dürfte inzwischen bei 130.000 Toten liegen. Hinzu kommen noch etwa 10.000 tote Wagner-Söldner. Soll das noch Monat um Monat so weiter gehen?

Je eher damit Schluss ist, desto weniger Tote, weniger Verletzte und weniger Geflüchtete. Fast 8,1 Millionen Menschen haben die Ukraine verlassen3, so dass von 43,4 Millionen vor dem Krieg nur noch 35,3 Millionen im Land verblieben sind. Ein Minus von 18 Prozent. Unter den im Land Verbliebenen sind etwa 5,4 Millionen Vertriebene.

Für ein Einfrieren der Kampfhandlungen und später für einen Waffenstillstand sind Ver­handlungen notwendig. Die Forderungen nach Diplomatie nehmen weltweit spürbar zu. Leicht zu erkennen, an der Unterschriftensammlung unter das »Manifest für Frieden«4 mit 735.000 Unterschriften nach nur 3 Wochen (Stand 4. März 2023) seit dem Start (am 10. Februar 2023), und man sieht es an den Demonstrationen hierzulande. Eine Allensbach-Umfrage, die am 16. Februar 2023 veröffentlicht wurde, macht deutlich, dass dadurch die Mehrheitsmeinung in Deutschland zum Ausdruck gebracht wird: Ich zitiere dazu aus der FAZ: »Der Forderung, beide Kriegsparteien sollten jetzt einen Waffenstillstand vereinbaren und mit Verhandlungen beginnen, weil es das Wichtigste sei, dass die Kämpfe aufhören, stimmten 62 Prozent der Bevölkerung insgesamt zu, 77 Prozent in Ostdeutschland und immerhin auch 58 Prozent in Westdeutschland.«5 Der ukrainische Präsident hat Verhand­lungen mit Putin abgelehnt, mit einem andern Präsidenten verhandeln ja, aber nicht mit Putin. Er hat das per Dekret für sich und für alle Ukrainer festgelegt. Die ukrainische Regie­rung will erst dann verhandeln, wenn russische Soldaten die Ukraine in den Grenzen von 1991 verlassen haben. Realistisch betrachtet ist damit keine Waffenruhe auf einem Verhandlungsweg in Sicht.

Die russische Seite hat immer wieder Verhandlungen angeboten. Allerdings seien die frisch annektierten vier ukrainischen Oblaste tabu. Diese russische Bedingung akzeptiert die Ukraine nicht.

Der Krieg wird fortgesetzt. Er ist in eine neue Phase getreten.

Positionen, die militärisch nicht zu halten waren, wie um Charkow und Cherson hat Russ­land geräumt. Die Front wurde dadurch begradigt, und anschließend wurden mit einer rus­sischen Teilmobilmachung zusätzlich etwa 200.000 bis 250.000 Soldaten in der Ukraine generiert.6 Die russische Armee hat sich entlang der Front winterfest eingegraben. Das gilt auch für die ukrainische Armee. Man spricht an der Front von einem Patt und von einem Abnutzungskrieg, der vor allem in Bahmut, russisch Artjomowsk, seit Monaten sehr blutig ausgetragen wird. Weitere Schwerpunkte sind Whuledar, russisch Uledar im Süden und um Kremennia, nördlich von Bahmut gelegen. Absehbar ist, dass Bahmut/Artjomowsk in rus­sische Hände fällt, so dass sich der Weg in Richtung Westen nach Kramatorsk und Slo­wiansk, den letzten Zentren des Oblasts Donezk in ukrainischer Hand, für Russland öffnet.

Russland hat seit Mitte September und sehr verstärkt seit dem 10. Oktober seine Strate­gie geändert. Es verlegt sich massiv mit Hilfe von Marschflugkörpern und Kamikaze-Droh­nen auf die Zerstörung der ukrainischen Energieinfrastruktur, die sowohl die Zivilbevölke­rung trifft als auch das Militär. Über die Wirksamkeit der russischen Luftangriffe gibt die Neue Zürcher Zeitung Ende Februar Ergebnisse einer britischen Studie wieder. Die russi­sche Seite sei »auf der strategischen Ebene bereits im Vorteil«, schreibt das Blatt. »Dem­nach erzielten die Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur einen ›strategischen Effekt‹. Das heißt,« so die NZZ weiter, »die Zerstörungen wirken sich nachteilig auf die Kriegsfähigkeit der Ukrainer aus. Ohne Strom können zum Beispiel die Waffenfabriken, Reparaturwerkstätten, Nahrungsmittelproduzenten und Lazarette nicht oder oft nur einge­schränkt arbeiten.«7

In den drei Monaten von Mitte November bis Mitte Februar hat Russland insgesamt 500 Raketen, Marschflugkörper und Drohnen auf die Energieinfrastruktur gestartet. Das sind monatlich 166 im Durchschnitt. Im Westen wird oft darüber berichtet, dass den Russen die Raketen bald ausgehen würden. Die Hoffnung hatte durchaus eine reale Grundlage, denn die monatliche Raketenproduktion von 70 Stück glich den schwindenden Bestand nicht aus. Ende September ordnete Putin an, die gesamte militärische Produktion auf eine »maximale Auslastung der Kapazität« hochzufahren – auch die der Raketen. Es ist anzu­nehmen, dass damit die drohende Raketenlücke geschlossen wird. Im Westen wird auch der angebliche russische Mangel an elektronischen Bauteilen für Raketen und Marschflugkörper infolge der Sanktionen hoffnungsvoll ins Spiel gebracht. Aber auch hier wird wohl die Hoffnung enttäuscht: China hat laut einem Bericht der NZZ »die Exporte von Prozessoren und Leiterplatten nach Russland in den ersten zehn Monaten 2022 gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt, auf über 125 Millionen Dollar.«8 Die NZZ resümierte dazu Mitte Dezember: »Für die Ukraine sind diese Zahlen alles andere als beruhigend. Denn die russische Rüstungsindustrie dürfte ein wichtiger Abnehmer für die Waren sein. Dies wiederum bedeutet,« so das Blatt, »dass Großangriffe auf die Infrastruktur in der Ukraine weitergehen dürften.«9 Bisher hat die Ukraine laut ihres Ministerpräsidenten Schmyhal 44 Prozent ihrer nuklearen Stromerzeugungskapazität verloren, drei Viertel der Wärmekraft­werke und ein Drittel der Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen.10 Im Land wird der Strom ratio­niert, zahlreiche Wohnungen sind nicht beheizbar, die Leute, die können, ziehen aufs Land und verheizen den Wald. Eine erwartete große neue Flüchtlingswelle, um dem drohenden Kältetod zu entgehen, ist ausgeblieben. Jedoch können die Zerstörungen der Energiever­sorgung noch fortgesetzt werden, jedoch nur bis zu einem bestimmten Punkt. Zu einem irreparablen landesweiten Blackout darf es nicht kommen, denn dann verlieren die AKWs ihre Kühlung, für die ein Anschluss an die Stromversorgung unabdingbar ist. Dessen Aus­fall kann nur für eine Woche durch Dieselaggregate überbrückt werden. Entweder wird dann nachgetankt oder die Kernschmelze ist unausweichlich. Das kann auch nicht im rus­sischen Interesse sein. Die Ukraine hat allein in den letzten drei Monaten des vergangenen Jahres eine halbe Million Notstromaggregate aus dem Ausland zusammengekauft. »Die Geräte erreichen zusammen genommen die gleiche Leistung wie der Block eines Atom­kraftwerks.«11 Das macht schätzungsweise 10 Prozent der installierten Stromkapazität aus. Mit schwimmenden Gas- und Ölkraftwerken aus der Türkei – von dreien ist die Rede – soll noch einmal in Etwa so viel Strom in das ukrainische Leitungssystem von Rumänien aus eingespeist werden. Davon konnte man zuletzt Mitte Dezember lesen.12 Ob das umge­setzt wird, ist unbekannt. Das ukrainische Energieversorgungssystem wird auf Jahre geschädigt blieben – auch nach einem Ende des Krieges.

Ukrainischer Sieg 2023 illusorisch

Wir halten fest, Russland verfügt nach wie vor über die Eskalationsdominanz. Das veran­lasste wohl US-Generalstabschef Mike Milley, wichtigster militärischer Berater des US-Prä­sidenten, Mitte November zu einer überraschenden Stellungnahme: »Die Wahrscheinlich­keit eines ukrainischen militärischen Sieges – definiert als der Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim – ist militärisch gesehen in naher Zukunft nicht sehr hoch«,13 sagte er. »Wahrscheinlicher sei nach Ansicht von Milley eine politische Lösung. Russland liege ›im Moment auf dem Rücken‹, sagte der General. Die Ukraine müsse aus einer Position der Stärke heraus mit Russland Gespräche führen können.«14 Diese Einlassung ist so zu interpretieren, dass die Aussichten der Ukraine auf dem Schlachtfeld eher schlechter werden, je länger der Krieg dauert. Deshalb sei es klug, jetzt zu verhandeln. Dieses Statement fand weder in den USA, noch in der NATO noch in der Ukraine offiziell Unterstützung. Folglich geht der Krieg ohne Verhandlungen weiter.

Selenski spricht von 2023 als dem Jahr des Sieges. Frau Baerbock und Herr Macron wollen der Ukraine zum Sieg verhelfen. Und der ist so definiert, dass die Ukraine ihre Sou­veränität über die Grenzen des Jahres 1991 wiederherstellen will. Aber das ist illusorisch. So nachvollziehbar und legitim das Vorhaben auch sein mag: Militärexperten weisen immer wieder darauf hin, dass es für den Angreifer, in diesem Fall ist es die Ukraine, im Feld einer dreifachen Überlegenheit bedarf und in überbautem Gebiet, also in Städten und Gemein­den, sogar einer sieben- bis zehnfachen Überlegenheit an Mensch und Kriegsmaterial, um den Verteidiger, in diesem Fall die Russen, zurückzudrängen. Das ist angesichts der Auf­stockung der russischen Truppen und der russischen Kriegsmaterialfülle unrealistisch. Diese These versuche ich nun zu belegen.

Ich bediene mich dazu das Zahlenwerks des neuesten Jahrbuchs The Military Balance 2023 des NATO-nahen Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS). Dem­nach ergeben sich nach fast einem Jahr Krieg in der Ukraine folgende Kräftekonstellatio­nen.

Bei Kampfpanzern verfügt die Ukraine demnach noch über 953, Russland über 2.070. Russland hat also mehr als zweimal so viel Kampfpanzer in Dienst wie die Ukraine. Beden­ken wir, dass die Ukraine für ihren Sieg dreimal so viele davon zur Verfügung haben müss­te wie Russland. Dann benötigte die Ukraine 6.000 Kampfpanzer von der Qualität, die sie jetzt hat, aus dem Ausland. Dafür fehlen ihr 5.000. Nehmen wir an, die Lieferungen aus dem Westen hätten alle das Niveau des LEOPARD 2, dann würden 2.000 von denen ausrei­chen. Kann der Westen so viele liefern? Die Ankündigungen aus den NATO-Staaten für die­ses Jahr ergeben, dass die Ukraine bis Ende dieses Jahres maximal 421 Kampfpanzer erwarten darf.15 Davon sind nur 133 von Leopard-2-Qualität. Nicht 2.000, die für einen Sieg in diesem Jahr notwendig wären. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass in Russland noch 5.000 Kampfpanzer in Depots lagern. Da die ukrainische Regierung unisono verkündet, am Ende dieses Jahres Russland besiegt zu haben, fragt sich, auf welcher Basis dieser zur Schau gestellte Optimismus gründet.

Ein zweites bedeutendes schweres Waffensystem ist die Artillerie. Die Ukraine hat inklusi­ve der westlichen Lieferungen nach einem Jahr Krieg noch 1.536 davon, Russland 5.564 – also das 3,6-Fache. Die Ukraine müsste etwa die zehnfache Zahl an Artilleriesystemen ein­führen, die sie zurzeit hat, um die dreifache Überlegenheit gegenüber Russland zu erlan­gen. Auch das ist unrealistisch. Und außerdem: Russland hat zusätzlich noch 16.470 Artil­leriesysteme in Depots. Zudem wird die Artilleriemunition der Ukraine knapp. Die FAZ schrieb am Freitag, den 3. März, »die Ukraine habe einen ›absolut existentiellen Bedarf‹ an diesen Granaten[…] Doch haben die Mitgliedstaaten selbst kaum noch Vorräte.«16 Wie sieht es bei den europäischen Herstellern aus? »Wer jetzt eine neue Bestellung abgibt, bekommt frühestens in einem Jahr die Lieferung. […] Das ist die prekäre Ausgangslage, die den Ausgang des Krieges in der Ukraine entscheiden könnte, wie der Außenbeauftragte Josep Borrell vorige Woche sagte,«17 schreibt die FAZ.

Und Folgendes nur noch der Vollständigkeit halber: Bei Schützenpanzern und gepanzerten Transportkraftfahrzeugen ist die Lage ähnlich. Russland hat davon mit 15.780 mehr als siebenmal so viele wie die Ukraine – trotz der Lieferungen aus dem Westen.

Deutlich wird, dass die Heereskräfte der Ukraine nicht ausreichen werden, um Russland bis Ende des Jahres aus der Ukraine zu vertreiben. Aber vieleicht könnte die Luftwaffe dabei helfen? Ukrainische Forderungen nach F-16 werden seit Monaten erhoben. Nach Aussagen des CDU-Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter trainieren ukrainische Piloten seit Sommer letzten Jahres in den USA auf F-16. Die Ausbildung dauere ein Jahr.18 Es ist also mit der Belieferung der Ukraine mit diesen Kampfflugzeugen ab Sommer zu rechnen. Wie viele das sein könnten, ist unbekannt.

Möglich wäre es auch, MiG-29 Kampfflugzeuge an die Ukraine zu übergeben. Das hätte den Vorteil, dass man sich die Pilotenausbildung erspart. Bulgarien, Polen und die Slowa­kei haben davon noch 50 im Bestand. Die Ukraine hat davon schätzungsweise 20 sowie 50 andere Kampfflugzeuge des Typs Suchoi. Mit dann 129 würde die Ukraine die Anzahl von vor dem Krieg wieder erlangen. Russland verfügt über 1.360 Kampfflugzeuge. Aber zu bedenken ist, dass eine Ausstattung mit Kampfflugzeugen sämtliche bisher bekannte Eska­lationsdynamik in der Ukraine weit übertreffen würde. Bei ukrainischen Luftwaffenangrif­fen an der Front kann wegen ihrer hohen Geschwindigkeit nie ausgeschlossen werden, dass sie nicht auch ur-russisches Territorium angreifen.

Wie dem auch sei: Die Kräfteverhältnisse lassen nur einen Schluss zu: 2023 wird es keinen ukrainischen Sieg auf dem Schachtfeld geben. Es ist eher wahrscheinlich, dass sich die russische Armee weiter gen Westen blutig vorarbeitet. Das bedeutet, dass die ukrainische Verhandlungsgrundlage angesichts der russischen Übermacht – trotz westlicher militäri­scher Unterstützung – noch schwächer wird. Die Ukraine ist gut beraten, in Verhandlungen einzuwilligen. Denn sonst würden ihre territorialen Verluste, ihre Verluste an Menschen­leben und Industriepotenzialen im Laufe des Jahres immer größer werden.

Wenn die ukrainische Führung nicht bis Jahresende zu einer Waffenruhe bereit ist, setzt sich der Krieg auch 2024 fort. Kiew setzt dann auf weitere umfassende Unterstützung aus dem Westen und darauf, dass die Wirtschafts- und Finanzsanktionen Russland so destabi­lisieren, dass Putin 2024 nicht wieder zum Präsidenten gewählt wird. Wie steht es um die russische Wirtschaft?

Russlands Wirtschaft

Trotz beispiellos harter Wirtschafts- und Finanzsanktionen ist der bisherige Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts eher moderat. War die Bundesregierung noch im Sep­tember von einem Einbruch der russischen Wirtschaftsleistung im Jahr 2022 um bis zu 15 Prozent ausgegangen, so berechnete der US-dominierte Internationale Währungsfonds (IWF) abschließend für Russland ein Minus des BIP für letztes Jahr von nur 2,2 Prozent. Für dieses Jahr rechnet der IWF sogar mit einem Plus von 0,3 Prozent für Russland, für Deutschland übrigens nur mit einem Plus von 0,1 Prozent. Für 2024 kommt der IWF auf ein Plus für Russland von 2,1 Prozent, für Deutschland auf nur ein Plus von 1,4 Prozent.19 Die Schlussfolgerung: in diesem und im nächsten Jahr wächst die russische Wirtschaft mehr als die deutsche. Oder anders ausgedrückt: die Sanktionen schaden Deutschland mehr als Russland. Der Geschäftsführer des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft Harms, sagte Ende Februar: »Es wird keinen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft geben.«20

Die ukrainische Wirtschaft

Schon vor dem Krieg hatten die Ukrainer das geringste Pro-Kopf-Einkommen in Europa. 2022 ist die ukrainische Wirtschaft um rund ein Drittel eingebrochen. Das BIP fiel von 200 auf 140 Mrd. Dollar.21 Für dieses Jahr wird ein Plus von 1 bis 2 Prozent unter der Voraus­setzung erwartet, dass die Kriegsintensität so bleibt.

Schon Ende August letzten Jahres konstatierte die NZZ: »Die ukrainische Wirtschaft nähert sich dem Kollaps; das Land ist deshalb nur mit westlicher Finanzhilfe überlebensfähig.«22 Und daran hat sich seitdem nichts geändert. Die westliche Unterstützung im letzten Jahr ist so groß, dass sie 46 Prozent des Staatshaushalts finanziert hat. Für dieses Jahr wird ein Staatsdefizit in Höhe von 40 bis 48 Milliarden Dollar vorausgesagt, wofür wiederum der Westen aufkommen soll.23 Auf Investitionen kann die Ukraine in Kriegszeiten kaum hoffen. Da hilft auch ihr neuer Status einer Beitrittskandidatin der EU nichts. Über Zeitpläne, wann denn die Aufnahme für Beitrittsverhandlungen und dann die Aufnahme in den exklusiven Klub EU erfolge, las ich in erfrischender Offenheit in einem Leitartikel der FAZ Mitte Febru­ar: »Ein EU-Beitritt bis 2026. Das ist völlig unrealistisch. Solange die Ukraine im Krieg mit Russland steht, kann sie ohnehin nicht aufgenommen werden. Denn sonst könnte sie sich auf die Beistandsklausel im EU-Vertrag berufen. Die Europäische Union will sich aber so wenig wie die NATO in einen direkten Konflikt mit Russland hineinziehen lassen.«24 Mit anderen Worten: Ein Friedensschluss ist die Voraussetzung für eine ukrainische EU-Mitgliedschaft. Und das muss ein sattelfester Friedensschluss sein, denn, wenn der Frieden brechen sollte, befindet sich die EU unverhofft mit Russland im Krieg. Wann ist ein sattelfester Friedensschluss mit Russland möglich? Da gibt es zwei Möglichkeiten: a. wenn Russland militärstrategisch besiegt ist. Das ist aber wiederum nicht möglich, weil wir dann in einem Atomkrieg untergehen oder b. ein umfassender Friedensvertrag mit Sicherheitsgarantien für alle Beteiligten, für die Ukraine und auch für Russland, ausgehandelt ist. Das dauert sehr lange. Ein Hoffnungsschimmer ist die zunehmende Debatte hierzulande, sich Gedanken zu machen über einen Friedensplan, der an die Ukraine herangetragen werden soll – freilich immer noch damit verbunden, die Ukraine von außen militärisch immer mehr mit Waffen und Munition zu beliefern, um ihre Verhandlungsposition zu stärken. Wir haben gesehen, dass die Kräfteverhältnisse dies als Illusion entlarven werden. Gestützt wird diese Sicht von August Pradetto, emeritierter Professor an der Bundeswehr-Universität in Hamburg, der in der neusten Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik sagt: »Selbst bei massiver Aufrüstung ist die russische Armee von den ukrainischen Streitkräften nicht zu besiegen. Russland verfügt (nach US-Angaben) über eine Million aktiver Soldaten, zwei Millionen Reservisten und eine wehrtaugliche Bevölkerung von mehr als 46 Millionen, also weit mehr, als die Ukraine an Gesamtbevölkerung aufweist. […] Die in der öffentlichen Debatte vertretene Position einer Unterstützung der Ukraine ›bis zum Sieg‹ bzw. bis zur ›vollständigen Wiederherstellung der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine‹ geht also schlicht an der Realität vorbei. Umso mehr drängt sich die Frage auf, ob jetzt nicht die Zeit für Verhandlungen gekommen ist.«25

Chinas Initiative

Da kommt »Chinas Position zur politischen Beilegung der Ukraine-Krise«26 gerade zur rech­ten Zeit. Gleich im ersten der 12 Punkte dieser Positionsbestimmung wird die »Respektie­rung der Souveränität aller Länder« thematisiert. Zu lesen ist: »Die Souveränität, Unabhän­gigkeit und territoriale Unversehrtheit aller Länder muss wirksam gewahrt werden. Alle Länder, ob groß oder klein, stark oder schwach, reich oder arm, sind gleichberechtigte Mit­glieder der internationalen Gemeinschaft.«

Der 2. Punkt ist so bedeutsam, dass ich ihn gern ganz zitieren möchte: »Abkehr von der Mentalität des Kalten Krieges. Die Sicherheit eines Landes sollte nicht auf Kosten anderer Länder angestrebt werden. Die Sicherheit einer Region sollte nicht durch die Stärkung oder Ausweitung von Militärblöcken erreicht werden. Die legitimen Sicherheitsinteressen und -belange aller Länder müssen ernst genommen und angemessen berücksichtigt wer­den. Es gibt keine einfache Lösung für ein komplexes Problem. Alle Parteien sollten, der Vision einer gemeinsamen, umfassenden, kooperativen und nachhaltigen Sicherheit folgend und mit Blick auf den langfristigen Frieden und die Stabilität in der Welt, dazu bei­tragen, eine ausgewogene, effektive und nachhaltige europäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen. Alle Parteien sollten sich dem Streben nach eigener Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer widersetzen, eine Blockkonfrontation verhindern und sich gemeinsam für Frieden und Stabilität auf dem eurasischen Kontinent einsetzen.« In den weiteren Punk­ten geht es unter anderem um die Deeskalation, die in Verhandlungen in einen Waffenstill­stand münden solle und um die »Bewältigung der humanitären Krise«. Das Papier spricht sich gegen den Einsatz von Atomwaffen aus und konstatiert: »China lehnt einseitige, vom UN-Sicherheitsrat nicht genehmigte Sanktionen ab.« Auffallend im Papier ist, was darin fehlt: die Rufe nach Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine und nach einem Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine.

Was ist das besondere an diesem Papier? Es formuliert die allgemein gültigen Grundsätze des friedlichen Zusammenlebens der Völker. Es gibt sowohl der Ukraine als auch Russland das Recht auf territoriale Unversehrtheit und Souveränität. Es spricht sich gegen die Men­talität des Kalten Krieges aus, also gegen das Prinzip, die eigene Sicherheit auf Kosten anderer zu gestalten.

Was bedeutet das für den Ukraine-Krieg? Dass sowohl die Sicherheit der Ukraine als auch die Sicherheit Russlands angestrebt werden muss. Mal ganz kühn gedacht: Wäre es auf Grundlage des Papiers möglich, dass Russland die angestrebten Sicherheitsgarantien auf Grundlage seiner Entwürfe von Dezember 2021 erhält? Kann das »Messer am Hals« Russ­lands zum Verschwinden gebracht werden? Also keine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, keine Stationierung von Hyperschallraketen dort und anderswo in Europa usw. – und dass die Ukraine gleichzeitig die Souveränität über ihr gesamtes Territorium zurückbekommt. (Für die vier von Russland besetzten Oblaste müsste ein autonomer Status ausgehandelt werden) Ich denke schon. Komplizierter scheint die ukrainische EU-Mitgliedschaft. Wäre eine Mitgliedschaft auch ohne militärische Beistandsverpflichtung möglich? Wann wären die Verhandlungen abgeschlossen? In 10 oder eher in 20 Jahren? Es hängt stark von der innerukrainischen Gesamtentwicklung ab. Die Türkei ist seit 1999 Beitrittskandidatin.

Zugegeben: Es wäre ein langer Weg, der sehr komplexe Verhandlungen in unterschiedli­chen internationalen Rahmen beinhalten würde. Wenn der Verhandlungsweg nicht beschritten wird, welche Alternative gäbe es? Die Antwort: der Krieg ginge weiter. Letztlich bis zur letzten Ukrainerin oder bis zum Untergang von uns allen im atomaren Inferno. Die Lage erfordert es, dass wir als Friedensbewegung unsere Anstrengungen für einen Waffen­stillstand, einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine und für die Nicht-Stationie­rung von US-Hyperschallwaffen in Europa sehr verstärken müssen. Die nächste Gelegen­heit dazu bieten möglichst große Ostermärsche.

Lühr Henken ist Ko-Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Herausgeber der Kasseler Schriften zur Friedenspolitik und arbeitet mit in der Berliner Friedenskoordination.

 

Anmerkungen:

1  Tagesspiegel 10.11.22, https://www.tagesspiegel.de/politik/auf-beiden-seiten-usa-berichten-von-mehr-als-100000-getoteten-und-verletzten-soldaten-8857324.html.

2  NZZ 2.12.22, https://www.nzz.ch/international/ukraine-von-der-leyen-stolpert-ueber-falsche-zahlen-zum-krieg-ld.1715188.

3  FAZ 24.2.23, Zahlen stammen vom UN-Flüchtlingskommissar.

4  https://www.change.org/p/manifest-f%C3%BCr-frieden.

5  FAZ 16.2.23, Verunsichert durch den Krieg.

6  FAZ, 25.1.23.

7  NZZ 27.2.23, Russland ist noch lange nicht am Ende.

8  NZZ 10.12.22, Russland hält seine Waffenindustrie am Laufen.

9  NZZ 10.12.22, Russland hält seine Waffenindustrie am Laufen.

10  FAZ 22.2.23, Wie zerstört ist die Ukraine?

11  Der Spiegel, Nr. 10/ 4.3.23, S. 63.

12  FAZ 13.12.22.

13  Im englischen Original: »The probability of a Ukrainian military victory - defined as kicking the Russians out of all of Ukraine to include what they claim as Crimea – the probability of that happening anytime soon is not high, militarily.”

14  Zdf.de 17.11.22, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ukraine-russland-krieg-general-milley-usa-100.html.

15  Belgien (50 Leo 1), Dänemark (90 Leo 1), Deutschland 18 Leo 2 + (Rheinmetall 88 Leo 1 ) + (22 Leo 2), Großbritannien 14 Challenger, Kanada 8 Leo 2, Norwegen 8 Leo 2, Polen 14 Leo 2-Niveau + (60), Portugal 3 Leo 2, Schweden 10 Leo 2-Niveau, Spanien 6 Leo 2, USA 31 Abrams. Zudem: dt. Antrag an die Schweiz, an Rheinmetall eine unbestimmte Zahl aus ihrer Reserve von 96 Leo 2 zu liefern, um Lücken in NATO-Staaten für die an die UKR ausgelieferten Leos zu schließen. Bern könne auf einen Teil der eingemotteten Panzer tatsächlich verzichten, die zwar regelmäßig getestet würden, jedoch nicht modernisiert seien, müssten aber in jedem Fall 34 davon behalten (FAZ 4.3.23, Berlin bittet Bern um Panzer). Zudem verhandelt Rheinmetall über die Errichtung einer Panzerfabrik in der UKR. Entscheidungen werden binnen 2 Monaten erwartet. Rheinmetall-Papperger nennt die Verhandlungen »vielversprechend«. Die Fabrik vor Luftangriffen zu schützen, »sei nicht schwierig«. Sie könne 400 des brandneuen Typs PANTHER pro Jahr herstellen. Die Ukraine brauche 600 bis 800 Panzer für einen Sieg, betonte der Rheinmetall-Chef (Spiegel online, 3.3.23, Rheinmetall will Panzer-Fabrik in der Ukraine aufbauen).

16  FAZ 3.3.23, Artilleriegranaten – so schnell wie möglich.

17  FAZ 3.3.23, Artilleriegranaten – so schnell wie möglich.

18  Markus Lanz 28.2.23.

19  NZZ 1.2.23.

20  FAZ 23.2.23, »Putin geht das Geld nicht aus«.

21  FAZ 23.2.23, Ukraine umwirbt Investoren.

22  NZZ 25.8.22, Der Widerstand ist ungebrochen.

23  FAZ 23.2.23, Ukraine umwirbt Investoren.

24  FAZ 11.2.23, Das Erweiterungsdilemma.

25  August Pradetto, Panzer, Kampfjets und Raketen? Über die roten Linien im Ukrainekrieg, Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/23, S. 53 bis 60, S. 55 f.

26  China’s Position on the Political Settlement of the Ukraine Crisis, 24.2.23, 3 Seiten, engl. https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/zxxx_662805/202302/t20230224_11030713.html Übersetzung deepl.

 

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