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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Weimar am 23. Januar 1930: Platz wurde gewährt einem »fanatischen« Nazi

Prof. Dr. Manfred Weißbecker, Jena

 

An diesem Tag wurde in der Landeshauptstadt eine neue thüringische Regierung verei­digt. Zuvor hatten Landtagswahlen stattgefunden. Es vollzog sich Neuartiges und in düstere Zukunft Weisendes. Erstmalig bezogen die um ihre bisherige Macht besorgten Parteien – Thüringer Landbund (TLB), Deutschnationale Volkspartei (DNVP), Deutsche Volkspartei (DVP) und Wirtschaftspartei (WP) – auch die NSDAP in eine Koalitionsregie­rung ein. Erwin Baum, ein nationalistisch-konservativer Politiker, wurde neuer Vorsit­zender des Thüringischen Staatsministeriums, wie die offizielle Bezeichnung für den Regierungschef lautete. Er gehörte zur Führung des TLB und zugleich zu der jener Par­tei, die sich 1928 als Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkpartei von der in eine Krise geratenen DNVP abgespalten hatte. Dem von Hitler aus Bayern nach Thüringen beorderten und als »fanatisch« und »durchgekocht« charakterisierten Faschisten Wil­helm Frick wurden die Ämter eines Innen- und eines Volksbildungsministers übertra­gen. Es spielte keine Rolle, dass es sich um einen wegen seiner Teilnahme am Putsch vom 9. November 1923 gegen die Weimarer Republik verurteilten Hochverräter handel­te, der da wesentliche machtpolitische Schlüsselpositionen erhielt. Bald verwendete man landauf und landab nur seinen Namen als Markenzeichen des Kabinetts, obgleich es eine »Baum-Frick-Regierung« zu nennen war.

Alles passierte, wie sich rasch herausstellen sollte und schließlich furchtbar bestätigte, zum Nachteil und Schaden für das Land, hingegen außerordentlich vorteilhaft für die Faschisten. Daran zu erinnern bieten aktuelle Vorgänge mehr als einen Anlass zu gro­ßer Nachdenklichkeit. Dringend gilt, historische Erfahrungen für notwendiges Streben nach antifaschistischer Handlungsfähigkeit zu nutzen. Mehr denn je sieht sich eine sorgsame Vergewisserung jener historischen Vorgänge und ihrer Ursachen verlangt.

Zugeständnisse an die Nazis

Für Viele kam damals die Entscheidung der bürgerlichen Parteien etwas überraschend. Dennoch hatte man sie erwarten können. Denn ihr waren nach der Landtagswahl vom 10. Februar 1924 die völlige Zerschlagung eines linksrepublikanischen und demokra­tisch-sozialistischen Projekts sowie ein politischer und sich seit 1928 verstärkender Rechtsruck vorausgegangen. Die politische Landschaft Thüringens hatte sich zuse­hends polarisiert. Es standen auf der einen Seite die beiden Arbeiterparteien, die in den frühen 1920ern zwar vielfach eine gemeinsame Sprache gefunden hatten, nun aber kaum noch zu gemeinsamen Aktionen fähig waren. Zum anderen Lager gehörten Par­teien, die heute oft als die einer demokratischen Mitte bezeichnet werden, sowie rechtsextremistisch orientierte Organisationen. Erstere schreckten nicht davor zurück, für ihre Machtpolitik völkisch-rassistische und nazistische Kräfte in Anspruch zu neh­men. Ohnehin stützten sie sich auf völkisch-antisemitische und antisozialistische Res­sentiments erheblicher Teile des Bürgertums und der Agrarverbände.

Was reichsweit die von Alfred Hugenberg geführte DNVP im Bunde mit der NSDAP praktizierte und im Oktober 1931 als »Harzburger Front« in die Geschichte eingehen sollte, das war in Thüringen bereits seit Mitte der 1920er Jahre erprobt worden. So erfolgte 1924 die Bildung der neuen Landesregierung allein mit Unterstützung des Völ­kisch-Sozialen Blocks, der in Thüringen für die nach dem Hitler-Putsch verbotene NSDAP agierte. Den Nazis wurden zahlreiche Zugeständnisse gemacht, wozu die Aufhe­bung eines Verbots der NSDAP sowie eines Redeverbotes für Hitler gehörten. In keinem anderen Land des Reiches wäre es möglich gewesen, nach der Wiedergründung der fa­schistischen Partei ihren ersten Parteitag durchzuführen. In dessen Vorfeld, am 10. Juni 1926, hatte die Fraktion der NSDAP Gesetzentwürfe in den Landtag eingebracht, die den Ausschluss von Juden aus öffentlichen Ämtern, ihre Nichtzulassung als Ärzte, Nota­re, Vieh- und Getreidehändler, Studenten und Schüler sowie die »Ausweisung von Ost­juden aus dem Freistaat Thüringen und die Beschlagnahme ihres Vermögens« forder­ten. Als Jude galt jeder, der »in der großväterlichen Geschlechterfolge (Generation) noch Blutsverwandte hatte, die sich zum mosaischen Glauben bekannten, egal ob sie heute getauft sind oder nicht«. Zwar fanden die Anträge keine Zustimmung, doch gab es keine Auseinandersetzung mit diesen ungeheuerlichen Vorstößen. Man war befasst mit dem Kampf gegen die Linke, trotz des Wissens um Ziele und Charakter der Nazipartei.

Schmachvolle antidemokratische Zäsur

Am 29. Oktober 1929 wurde der Landtag vorzeitig aufgelöst und seine Neuwahl für den 8. Dezember angesetzt. Deren Ergebnis markierte eine deutliche Zäsur: An diesem Tag errang die NSDAP ihren ersten größeren und machtpolitisch umsetzbaren Erfolg. 90.159 Wähler ließen ihren Stimmenanteil von 4,5 Prozent – erreicht bei der Landtags­wahl vom 30. Januar 1927 – auf 11,3 Prozent klettern. Die DNVP erhielt demgegenüber lediglich 31.736 Stimmen, also nicht mehr als vier Prozent. Alle bürgerlichen Parteien mussten Verluste von bis zu 16 Prozent hinnehmen und verfügten im neuen Landespar­lament nur über 23 Mandate. Für SPD und KPD saßen 24 Abgeordnete im Landtag. In einer Landtagssitzung wertete der linkssozialdemokratische Politiker August Frölich, der selbst in den frühen 20er Jahren der Landesregierung vorgestanden hatte, das Ergebnis klar- und weitsichtig mit den Worten als »die Schmach von Thüringen«.

War es den konservativen und rechtsliberalen Kräften Thüringens bislang um die Ein­schränkung demokratischer und republikanischer Politik gegangen, so standen jetzt Parlamentarismus und Republik unter direktem Beschuss. Autoritäre Herrschaftsstruk­turen waren in den Blick geraten. So fragte der Abgeordnete Georg Witzmann von der DVP am 11. November 1929 in einer Wahlveranstaltung, ob denn der »Parlamentaris­mus [...] überhaupt in der Lage« sei, »eine Lösung zu bringen«. Die Behauptung einiger Historiker, dass 1929/30 das Bürgertum in nationalistische, antisozialistische und anti­semitische Deutungsmuster »geflüchtet« sei, bedarf daher dringend einer Korrektur. Be­hauptet wird auch, das Koalieren mit der NSDAP sei ihm und seinen Vorstellungen »zu­wider« gelaufen. Nein, denn es bereitete diesen Thüringern kaum irgendwelche Skrupel, ihre Regierungspositionen mit Hilfe jener gewinnen und zementieren zu wollen, die da offen verkündeten, man wolle mit den errungenen Mandaten »nicht dem heutigen Staat dienen«, denn dieser müsse »vernichtet« werden. Ihre eigene Logik hatte die in Thürin­gen dominierenden bürgerlichen Parteien in das Bündnis mit der NSDAP geführt. Die hiesigen Vertreter der Deutschen Volkspartei (DVP) zeigten sich nicht einmal bereit, dem Verlangen ihrer Parteiführung zu folgen, nachdem ihnen aus Berlin die Aufforde­rung signalisiert worden war, sich einer Zusammenarbeit mit der NSDAP zu versagen.

Sich ihrer »Unentbehrlichkeit« für die Parteien der sogenannten Mitte und für deren strikten Kurs gegen links bewusst, stellte die NSDAP weitreichende Forderungen, auch solche, die das tatsächliche Kräfteverhältnis nicht abbildeten. Schon am 11. Januar hatte Hitler in einer Rede über »Politik und Wirtschaft« vor Vertretern thüringischer Wirtschafts- und Industrieverbände Eindruck gemacht. Nun drohte er offen: Falls Frick nicht Minister werde, würde es Neuwahlen geben.

Modell und Experimentierfeld

Nach dem 23. Januar nutzten die Nazis eifrig und entschlossen die ihnen gebotenen Chancen. Ein »Modell der Machtergreifung« entstand. Thüringen geriet zu einem Experi­mentierfeld autoritärer Regierungspraxis. Das Land erlebte einen Vorgeschmack auf faschistische Machtausübung, bei der auch ein »Ermächtigungsgesetz« – von der Land­tagsmehrheit angenommen am 29. März 1930 – nicht fehlte. Nicht nur nebenbei: Es war dabei ein offener Verfassungsbruch in Kauf genommen worden, da es keine verfas­sungsändernde Zweidrittelmehrheit gab. Aber für die Koalition gab es den Grundkon­sens, den Frick so formulierte: Es habe sich »eben der parlamentarische Apparat […] für dringend, unaufschiebbare Maßnahmen als viel zu schwerfällig erwiesen«.

Frick verfolgte, wo und wann es ihm möglich war, das Ziel, die Landespolizei mit eige­nen Parteigängern zu durchsetzen. Ebenso nahm er drastisch Einfluss auf den Bildungs­bereich, wovon vor allem die Einführung von »Schulgebeten« mit faschistischem Inhalt kündete. Erste Vorstellungen von Machtgebrauch und -missbrauch des kommenden neuen Reiches boten auch der Erlass »Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum«, die Zensurmaßnahmen gegen das Buch und den Film »Im Westen nichts Neues« des Pazifisten Erich Maria Remarque, die Entfernung »dekadenter« Gemälde aus Weimarer Museen oder die Errichtung eines Lehrstuhls für Sozialanthropologie für den »Rasse­forscher« Hans F. K. Günther an der Jenaer Universität. Zu einer Posse geriet allerdings Fricks Versuch, Hitler im Sommer 1930 zum Gendarmeriewachtmeister von Hildburg­hausen zu ernennen, um ihren staatenlosen »Führer« einbürgern zu können.

Frick selbst konnte sich lediglich 14 Monate im Amt halten. Er stürzte am 1. April 1931 nach einem von SPD und KPD gestellten Misstrauensantrag. Dieser konnte allerdings nur erfolgreich sein, weil er von einer der Regierungsparteien unterstützt worden ist. Zu diesem Schritt hatte sich überraschend die DVP bereitgefunden. Sie argumentierte, ihre Persönlichkeiten seien in der nationalsozialistischen Presse außerordentlich belei­digt worden. Das mag ein Anlass gewesen sein, doch entschieden wurde aus anderen Gründen: In der DVP tobte innerparteilicher Zwist. Gesucht wurde nach Erfolg verspre­chenden Mitteln und Wegen, den eigenen Zerfall aufzuhalten. Nicht alle meinten, Hitler-Gegner würden die »Totenglocke der Volkspartei« sein. Ja, es gab sogar Stimmen, man solle die Selbständigkeit der DVP zu Gunsten der DNVP oder einer geplanten neuen »schwarz-rot-goldenen Rechtspartei« aufgeben. Andere setzten in der Parteiführung eher auf das Beibehalten einer Unterstützung für die autoritäre Politik des von Heinrich Brüning geleiteten Präsidialkabinetts; dies allerdings nur bis zur Bildung der »Harzbur­ger Front« im Oktober 1931.

Auch ohne Nazis im Amt setzten in den nächsten 16 Monaten die thüringische Baum-Regierung und der TLB den eingeschlagenen Weg fort. Das Ziel, eine »nationale Koali­tion« zu schaffen, wurde nicht aus den Augen gelassen. Agrarkonservatismus und Nationalsozialismus näherten sich politisch weiter an, wobei ersterer zunehmend an Einfluss verlor. In der Öffentlichkeit galt der TLB, in dessen Landtagsfraktion zumeist Großbauern und Gutspächter saßen, wegen seiner auf radikale Einsparung bedachten Politik auch als Organisation »der nimmersatten Großagrarier«. Baum unternahm nichts gegen die von Frick eingeleitete Unterwanderung von Polizei und Staatsbeamten. Man unternahm nichts gegen die NSDAP und sprach lediglich von »Wirrköpfen«, zudem von »Dummheiten«, auf deren Überwindung man hoffen dürfe. Übereinstimmung gab es nach wie vor im rassistisch-antisemitischen Denken. So stellte der TLB-Vorsitzende Baum bedauernd fest, die Nazis hätten mit ihrem Kampf gegen die jüdische Bankwelt nur bewirkt, dass das Geld ins Ausland abgeflossen sei, und wehklagte zugleich: »Die Juden haben wir aber hierbehalten.«

Vieles davon führte nahezu folgerichtig zu den Ergebnissen der neuen Landtagswahlen vom 31. Juli 1932. Vergleiche mit denen vom 8. Dezember 1929 sind erhellend: Statt 74,9 Prozent der Wahlberechtigten gingen 85,1 Prozent an die Urnen. Der Stimmenanteil der NSDAP wuchs von 11,3 Prozent auf 42,5 Prozent, der für den TLB halbierte sich von 16,4 Prozent auf 8,3 Prozent. Ähnlich hohe Verluste gab es für DVP und WP. Zusammen mit den bisherigen Nichtwählern gingen die bisherigen Wähler der regierenden Parteien in großen Scharen zu den Faschisten. Unverändert blieb hingegen das Wählerpotential beider Arbeiterparteien, wobei die SPD etwas verlor und die KPD etwas gewann.

Erneut kam dann eine Regierungskoalition zustande, in der die Nazis – angeführt von Fritz Sauckel – lediglich einem TLB-Mitglied einen Platz als Staatsrat gewährten. Der trat nach dem 30. Januar 1933 der Nazipartei bei.

 

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