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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Sind wir schon wieder so weit?« Besorgte Fragen an die Geschichte der Weimarer Republik und an unsere Gegenwart (II)

Prof. Dr. Manfred Weißbecker, Jena

 

– Teil 2 und Schluss –

Im Folgenden gehe ich auf strukturelle Aspekte eines Vergleichens damaliger und heutiger Außenpolitik ein und frage: Wo lag Deutschlands historischer Ort in den weltweiten Beziehungen, wo liegt er heute?

Vieles hängt mit der bereits erwähnten Tatsache zusammen, dass von der Weimarer Republik kein Krieg ausging. Gern würde ich das auch zur Außen- und Rüstungspolitik der Bundesrepublik sagen. Was jedoch nicht möglich ist, denn Gegenteiliges, vor allem Unterstützendes für angezettelte Kriege, liegt auf der Hand. Es spricht übrigens für sich, was in einem vielleicht etwas abgelegenen Bereich auch vergleichbar wäre: Im Laufe von neun Jahren erhielten drei Weimarer Politiker den Friedensnobelpreis: Gustav Stresemann, Ludwig Quidde und Carl von Ossietzky. In den 75 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt ihn nur ein Deutscher – Willy Brandt 1971.

Zur Feststellung, von Weimar sei kein Krieg ausgegangen, muss jedoch Einschränkendes hinzugefügt werden. Denn es wurde aufgerüstet. Zunächst geheim, doch bald konnten die von den Siegermächten auferlegten militärischen Einschränkungen auch offen unterlaufen werden. 1925 schuf die Reichswehrführung detaillierte Pläne mit dem Titel »WH 808« für Aufbau und Struktur eines aus 8 Armeen und 102 Divisionen bestehenden Massenheeres von 2,8 bis 3 Millionen Soldaten. Die Reichswehr hatte 42 Generäle, für das »große« Heer waren 252 vorgesehen. Genauso viele Etatstellen für Generäle wies das Feldheer 1939 auf. Ziemlich genau sah sich alles Geplante unmittelbar vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges umgesetzt. Die 1925 geplante »Kriegsstärke« war 14 Jahre darauf erreicht. Wir wissen auch, dass unter dem Druck der Militärs der Bau neuer Kriegsschiffe erfolgte. Der erste Panzerkreuzer lief 1931 vom Stapel. Die Losung der SPD »Für Kinderspeisung – gegen Panzerkreuzerbau« hatte zuvor ein sozialdemokratischer Reichskanzler gekippt. Am lautesten wurde im Offizierskorps der Marine gefordert, Deutschland müsse zu Lande bald so stark sein, dass es über die See neuen Lebensraum erobern könne. Das Tor zur Welt sei aufzustoßen, weil Deutschland in der »muffigen Enge von Europa nur vegetieren«, aber nicht leben könne! Die großen Entscheidungen »im Range von Weltvölkern« (!) würden im Wesentlichen auf den Weiten des Ozeans vorbereitet. Damals dachte man allerdings nur an den Atlantischen Ozean, noch nicht an den Pazifik, in dem ja neuerdings Deutschland auch »verteidigt« werden soll. Politik für Großmachtambitionen – strukturell übereinstimmend sowohl im Ziel als auch in den sie begründenden Argumenten, die allzu oft Täuschung bezwecken, also auf Betrug aus sind und Verlogenheit vermuten lassen. Der Zweck heiligt auch die verbalen Mittel.

Bezweckt wurde Aufrüstung, und die erwies sich nicht nur damals als ein äußerst profitables Geschäft. Und wo gerüstet wird, wird auch Kurs auf neue Waffengänge genommen. Allerdings befürchteten damals Großindustrielle und Militärs, ein neuer Krieg könne eventuell wie im Jahr 1918 erneut mit einem »9. November« enden. Sie schlussfolgerten, militärische Hochrüstung müsse begleitet sein von verstärkter Gewalt nach innen. Da traf man sich konzeptionell mit der NSDAP, bei der es bekanntlich hieß: Der Marxismus muss »ausgerottet« werden, was nach ihrem Verständnis KPD, SPD, Gewerkschaften und andere Arbeiterorganisationen traf. Erst danach könne ein »nationaler Wiederaufstieg« beginnen. Erst müsse, so wurde argumentiert, der als internationalistisch beschimpfte Geist deutscher Arbeiter nationalistischen Denkstrukturen gewichen sein, also auch solchen rassistischer und expansionistischer Art. Als Hitler sein sogenanntes »Lebensraum«-Konzept am 26. Januar 1932 im Düsseldorfer Industrieklub etwa 300 Konzernherren und Bankiers vorstellte, wurde ihm begeistert – laut Protokoll – »stürmischer, langanhaltender Beifall« zuteil. Und Spenden gab es reichlich.

Obwohl gegenwärtig und wohl auch in naher Zukunft ein neuer 9. November 1918 nicht zu erwarten ist, steht Zielen der Herrschenden dennoch eine weit verbreitete Sehnsucht nach friedlichen und sozialgerechten Verhältnissen entgegen. Es dient m.E. auch innenpolitischer Machtbefestigung, wenn ständig von einem Deutschland geredet wird, das nicht zuletzt wegen seiner Geschichte in der ganzen Welt mehr Verantwortung übernehmen müsse. Über dazu erforderliche Kriege wurde nicht gesprochen. Erstmals sprach im Mai 2010 der damalige Bundespräsident Horst Köhler offen, übrigens auf einem Rückflug aus Afghanistan, von der Notwendigkeit militärischer Aktionen. Es gelte, »unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege« und Ressourcen zu sichern. Es werde auch Todesfälle geben, doch selbst um diesen Preis müsse man deutsche Interessen wahren. Köhler musste zurücktreten – er hatte einfach zu früh ausgeplaudert, wohin es gehen sollte.

Heute braucht wegen solcher Worte keiner mehr seinen Posten zu räumen. Auch nicht Joachim Gauck, als er sich ähnlich äußerte. Offen werden »robustere« Mandate für deutsche Einsätze an internationalen Brennpunkten verlangt, woran sehr wahrscheinlich wohl auch nichts die angekündigte Analyse des gescheiterten Krieges gegen Afghanistan ändern wird. Gar zu gern wäre man eine Atommacht, möglichst im Besitz eines Flugzeugträgers, auch eines Weltraumbahnhofes. Am Waffenexport soll weiterhin verdient werden, selbst wenn dies nur auf Kosten der Zivilisation, der Natur und des Klimaschutzes gehen kann. Man bewegt sich eifrig mit auf den neuen Schlachtfeldern der Wirtschaftskriege, selbst da, wo man in internationalen Bündnissen vorgibt, gemeinsam »hohe Werte« verteidigen zu wollen.

Vergleiche zwischen damaliger und heutiger Außenpolitik können übrigens keinen Bogen machen um die zeitweilig guten Beziehungen zur Sowjetunion und die zeitgleich wirksame Russophobie, die – bemäntelt mit Lebensraum-Notwendigkeiten und forschem Antikommunismus – in Plänen zur Schaffung eines kolonialen deutschen Ostens zum Vorschein kam. Doch das wäre wohl ein eigenständiges, allerdings hochaktuelles Thema.

Noch existiert ein ernsthaft zu beachtender antinazistischer Konsens

Hier sei aber, wie angekündigt, noch auf strukturelle Übereinstimmungen, also vergleichbare Erscheinungen in Geschichte und Gegenwart der großen bürgerlichen Parteien sowie des Parteienwesens eingegangen.

Da fällt neben Polarisierungstendenzen und weitgehender Zersplitterung vor allem auf, dass in den letzten Weimarer Jahren alle bürgerlichen Parteien Stück für Stück und zumeist nach Führungswechseln nach rechts gerückt sind. Spaltungen wurden in Kauf genommen. All dies vollzog sich schrittweise, keineswegs geradlinig und durchgehend. Es gab Unterbrechungen, auch retardierende Momente. Kein Wunder, denn unter den ökonomischen, militärischen und politischen Eliten wurde intensiv und ernsthaft gestritten, wobei es sowohl um die Frage ging, bis zu welchen Schmerzgrenzen hin durch Notverordnungen Löhne gekürzt werden können und »gespart« werden kann, als auch um Varianten und Modalitäten des weiteren Weges deutscher Machtentfaltung. Und man stritt sich jeweils um die eigenen Vorteile.

Die Leitung der »Deutschnationalen Volkspartei« übernahm 1918 Alfred Hugenberg, Chef des größten Medien-Konzerns jener Zeit. In seinem Zeitungsartikel »Block oder Brei?« hatte er in seiner Partei allen den Kampf angesagt, sollten sie sich bereit zeigen, Kompromisse mit dem Weimarer System zu schließen. Selbst die Spaltung seiner Partei nahm er in Kauf; allein in drei neuen konservativen Parteien formierten sich ehemalige DNVP-Mitglieder. Die Partei Hugenbergs landete folgerichtig als Juniorpartner der NSDAP. Auch die großbürgerlich-katholische Zentrumspartei wechselte 1928 ihre Vorsitzenden aus. Unter Führung von Prälat Kaas und Heinrich Brüning rückte sie mehr und mehr von bisher gepflegten Normen parlamentarischer Demokratie ab. Selbst die »Deutsche Demokratische Partei« verließ den linken Rand des bürgerlichen Parteienwesens. Sie fusionierte mit dem aus einem Freikorps hervorgegangenen »Jungdeutschen Orden« zur »Deutschen Staatspartei«.

Auf der Suche nach neuen Wegen ging es den Rechten Anfang 1930 darum, die SPD aus der Regierung auszubooten sowie zu einer vom Parlament immer weniger beeinflussbaren Machtausübung überzugehen. Mit der Berufung Heinrich Brünings zum Reichskanzler am 30. März 1930 begann eine autoritäre Präsidialherrschaft. Die Zahl der Notverordnungen stieg, die der Sitzungen des Reichstages sank. Beteuert wurde und wird von einigen Historikern, nur autoritär hätte man die Nazis besiegen können. Nach solcher »Logik« wäre also die Zerstörung der Weimarer Republik alternativlos notwendig gewesen, um die Demokratie auf antidemokratischen Wegen und sogar im Bunde mit der NSDAP zu retten. In Wirklichkeit lagen deren Ideen und Konzepte vor allem den konservativen und rechtsliberalen Kreisen näher als jede Aktion zur Verteidigung der Weimarer Demokratie und zur Abwehr rassistischer Politik. Heute wird zwar offiziell kundgetan, sich nicht mit der AfD einzulassen. Ich bin skeptisch, auch weil damals die Schnittmengen zwischen Rechten und noch Rechteren immer größer waren als die zu den Linken. Dass sich Nazis und Konservative nach dem Scheitern der »Harzburger Front« bis aufs Messer stritten und sich 1931/32 gegenseitig lautstark beschimpften, gehörte zur Tagesordnung, nicht aber zum Kern ihrer Politik.

Sind heute andere Lösungen möglich? Wer weiß? Immerhin: Ein Zusammengehen mit der AfD wird CDU und FDP viel schwerer fallen als den Parteien in Weimarer Zeiten. Historische Erfahrungen müssen offensichtlich doch berücksichtigt werden, denn noch existiert in der Gesellschaft ein zwar bröckelnder, ständig attackierter, aber immer noch ernsthaft zu beachtender antinazistischer Konsens. Welche Entscheidungen demnächst fallen werden, hängt m.E. von der Entwicklung des Kräfteverhältnisses in CDU und CSU ab, aber auch von dem in der AfD selbst. Dass einige ihrer Repräsentanten bemüht sind, sich ein demokratisches Mäntelchen umzuhängen und »bürgerlich« erscheinen wollen, erlaubt als eine positive Selbstdarstellung sogar den Vergleich zu zeitweiligen Taktiken der NSDAP, hat diese doch während der Weltwirtschaftskrise kaum ihre rassistisch-antisemitischen Ziele betont, hingegen die Losungen »Brot« und »Arbeit« in den Vordergrund gestellt.

Ein weiterer Aspekt des Parteienwesens lädt ebenfalls zu Vergleichen ein: Damals spielten wie auch heute Argumente eine Rolle, die sich generell gegen das Parteienwesen richten. Die NSDAP wollte als »Bewegung« verstanden werden und versprach, als »Partei über den Parteien« wirken zu wollen. Sie verkündete, bereits die Existenz von Parteien stelle ein Übel dar, weil »undeutsch« und »jüdischen« Ursprungs. Aversionen solcher Art entfalteten rege Wirksamkeit, weil sie den Nerv vieler Menschen trafen. Das Thema besaß Alltags-Attraktivität, denn gerade die real existierenden Schwächen des Parteienwesens boten sowohl nationalistischem als auch antidemokratisch-autoritärem Denken viel Spielraum. Bekanntlich reitet die AfD auf dieser Welle einer generellen Parteienkritik. Sie wettert stets und ständig gegen »Altparteien«, »Systemparteien«, »Kartellparteien«. Enttäuschte Wähler und bisherige Nichtwähler danken es ihr und machten sie zu der bisher erfolgreichsten Partei am rechten Rand der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

Terrorismus und Staatsversagen

Ein paar andere Bereiche, die Vergleiche zwischen Weimar und heute erlauben, seien hier zumindest noch angedeutet, auch wenn die erlaubte Redezeit schon fast vorbei ist. Dazu gehört der des politischen Terrorismus, der sich nach dem Ersten Weltkrieg zu einem bislang unbekannten Phänomen der Politik entwickelt hatte und in den letzten Jahren der Weimarer Republik sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht weiter entfaltete. Allein 1930 forderte der Nazi-Terror fast ebenso viele Todesopfer wie in den Jahren 1924 bis 1929 zusammen, wobei sich die Zahlen der politischen Morde 1931 und 1932 jeweils fast verdoppelten. Eine Art innerer Logik und Zwangsläufigkeit ist erkennbar: Je erfolgreicher die NSDAP war, desto terroristischer ging sie vor. Das stieß zwar auf Unwillen und Empörung, rief aber zugleich unter vielen Deutschen lähmende Furcht und existenzielle Ängste hervor. Bereits vor dem 30. Januar 1933 bewirkte der faschistische Terror Anpassungsbereitschaft, Duldung und Resignation, teilweise sogar ehrfurchtsvolle Anerkennung.

Die Geschichte der BRD kennt bereits knapp 200 politisch motivierte Morde, neuerdings auch solche an führenden Politikern. Unterhalb dieser Ebene sind Einschüchterungsaktionen aller Art schon längst zu einer bedrohlichen Erscheinung mutiert, weshalb ja z.B. viele Bürgermeister durch Rücktritt den Drohungen auszuweichen versuchen. Zugleich wird vom Rechtsterrorismus abgelenkt durch aufgebauschte Angaben und völlig überzogene Bewertungen sogenannter linksterroristischer Aktionen durch die Polizei.

Zu erwähnen wären ebenso die direkten oder indirekten Unterstützungen der Rechtsextremen durch Teile des Staatsapparates. Weimarer Beispiele sind bekannt. Auch in der BRD gab es bis 1968 z.B. die geheimen Versuche hoher Beamter des Bundesinnenministeriums, die im Dritten Reich Karriere gemacht hatten, ein am Artikel 48 der Weimarer Verfassung orientiertes und im Grunde faschistisches Notstandsrecht zu etablieren, wie jüngst der Jenaer Historiker Martin Diebel nachwies. Es lässt sich auch an das Ausbleiben eines NPD-Verbots erinnern, an das Staatsversagen gegenüber dem »Nationalsozialistischen Untergrund«, an die ungeheuerlichen Mordtaten, die durchaus hätten verhindert werden können. Ganz zu schweigen vom doch recht duldsamen Umgang zuständiger Behörden mit rechtsextremen Organisationen. Wie oft wurden deren Gewalttaten »Einzeltätern« zugeschrieben oder gar anderen in die Schuhe geschoben, wie oft hasserfüllte Beschimpfungen und Drohungen als von Meinungsfreiheit gedeckt erklärt? Bekanntlich wollen ja auch Finanzämter bewirken, ein bislang erhaltenes antifaschistisches Grundverständnis zu schwächen. Da darf keineswegs allein von »Blindheit auf dem rechten Auge« gesprochen werden, weil dies verharmlost und bagatellisiert.

Vergleiche zwischen damals und heute kommen auch nicht aus ohne den Blick auf jeweilige Führungskräfte. Hitler hatte sich mit seinen Fähigkeiten, seinem Auftreten, seiner unbeugsam erscheinenden Radikalität zweifellos zu einem geschichtswirksamen »Faktor« entwickeln können. Er passte hervorragend in eine Zeit, in der keine »Ersatzmonarchen«, sondern völlig neue Politikertypen gesucht worden sind, darunter jüngere, die als Gegenstück zu älteren, blaublütigen und befrackten Honoratioren gelten konnten. Faschisten traten als von Korruption und Skandalen unbefleckt auf, was viele von ihnen nach 1933 nicht hinderte, korrupt zu sein. Sie gaben vor, eine kämpferische, in Grabenkämpfen und Geschützdonner geprägte Männlichkeit auszustrahlen, was ihnen auch geeignet zu sein schien, Frauen zu beeindrucken und unter der Herrschaft des Patriarchats zu halten. Sollte heute auf den Typ »Bernd« Höcke geschaut werden, stellt sich doch eher die Frage, ob ihn ein neuer »Zeitgeist« nicht eher ablehnt als befürwortet. Überhaupt wäre zu fragen, wie der Wind beschaffen sein müsste, der jetzt Männer, Frauen oder auch junge Mädchen nach oben trägt? Was weist zunehmend Komiker als politikfähig aus? Worauf reagieren die nach wie vor entpolitisierten Teile der Bevölkerung? Welche Wirkungsmöglichkeiten entfalten geschönte Gesichter, gestylte Körper, gedrechselte Frisuren, flatterhaftes Gebaren, Unzuverlässigkeit usw.? Nachzudenken wäre in diesem Zusammenhang natürlich auch über den heute unvergleichbar höheren Entwicklungsstand von Manipulationsmechanismen aller Art.

Zur großen Zahl bedenkenswerter Vergleiche gehört letztlich auch einer, der nach der historischen Verantwortung derjenigen fragt, die eine Zerstörung der Weimarer Republik hätten verhindern können. Also darüber, welche Rolle die Gegenkräfte damals gespielt haben? Wir wissen, dass sie grundsätzlich in ihrer Ablehnung des Faschismus sowie im Streben, dessen Diktatur und den absehbaren Weg in einen neuen Krieg zu verhindern, übereinstimmten. Dennoch neutralisierten sich vor allem SPD und KPD gegenseitig. Oft bewerteten sie die reale Situation falsch, unterschätzten die Gefahren und überschätzten jeweils die eigenen Kräfte. Der einende Wunsch, Hitler zu verhindern, und der wahre Heldenmut, mit dem an der Basis Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten gegen die drohenden Gefahren von Diktatur und Krieg angingen, gehören zwar zu den besten Seiten der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und seitdem zu den Traditionen aller demokratischen Kräfte, doch für den realen Geschichtsverlauf blieben sie letztlich wirkungslos. Leider …

Dieses Bedauern führt mich nun zurück zu meiner eingangs formulierten These, dass, wenn Vergleiche richtig angestellt würden, sie zu hilfreichen Erkenntnissen führen könnten. Was lässt sich also aus all dem Gesagten schlussfolgern, in Gedanken auch jene vielen Punkte einschließend, die noch zu behandeln wären? Kann jenes Fragezeichen aufgelöst werden, das im Titel des Vortrages steht: Sind wir schon wieder so weit?

Ich denke, es wird aus vielen Gründen keine einfache, direkte und erst recht keine formengleiche Wiederholung faschistischer Macht geben. Sehr wohl aber lebt faschistischer Ungeist wieder auf, sehr wohl erstarkt die Organisiertheit faschistischer Kräfte. Wer dies verhindern will, sollte allerdings sorgfältig unterscheiden, was er mit dem Begriff »Faschismus« meint. Im allgemeinen Sprachgebrauch steht er heute seltsam allein für die zwischen 1933 und 1945 ausgeübte und ausgesprochen extreme Form von Machtausübung. Ferner für die industriell betriebene Ermordung von fünf bis sechs Millionen europäischer Juden, für genozidalen Rassismus sowie brutale Vernichtungskriege. Dies generell als Faschismus verstehen zu wollen, macht ihn zum Gegenstand allein eines begrenzten Zeitabschnittes. Er würde so lediglich als ein historisches Phänomen angesehen, was sowohl die ganze Vorgeschichte der Hitler-Barbarei verdecken hilft, ebenso Ideologie und Organisiertheit von Faschisten in anderen Zeiten sowie Existenz und geschichtliche Wirksamkeit faschistischer Erscheinungsformen in anderen Ländern.

Generell halte ich aber den Faschismus-Begriff nach wie vor für verwendbar – vorausgesetzt, er wird nicht pauschal und rein propagandistisch verwendet. Immer sollte gesagt werden, was mit ihm – außer eines direkten Bezuges auf ihn als Machtsystem – gemeint wird. Der Spruch des italienischen Schriftstellers und Holocaust-Überlebenden Primo Levi »Jedes Zeitalter hat seinen eigenen Faschismus« wäre ergänzbar durch den Hinweis auf Länder und Regionen. In denen wirkten Klerikalfaschismus, Austrofaschismus, Franquismus, Feuerkreuzlertum u.a.m..

Es wäre im heutigen Deutschland gewiss wenig sinnvoll, nur allgemein von Faschismus oder Neofaschismus zu reden. Ebenso sind m.E. auch andere Begriffe abzulehnen. So das leider eingebürgerte, vielfach nachgeplapperte Wort »Rechtspopulismus«, womit doch lediglich Politikmethoden charakterisiert und Inhalte übertüncht werden. Das Wort »autoritärer Radikalnationalismus« (Wilhelm Heitmeyer) benennt kaum Interessen, eher deren Spiegelung im Ideologischen. »Postdemokratie« (Colin Crouch) scheint zu suggerieren, alles sei nur Ausdruck einer Krise bestehender Demokratie, also eine zu erwartende neue Demokratie-Variante.

Im heutigen Deutschland handelt es sich aus meiner Sicht um einen »Neonazismus«, also um eine neue deutsche Spielart des Faschismus. In ihm sehe ich eine Erscheinung, die ältere, zumeist völkische und antidemokratisch-autoritäre Erkennungszeichen sowie zeitgemäße Elemente anderer Faschismen in sich aufnimmt.

Von »Fridays for Future« hin zu »Alldays for Peace«?

Abschließend sei dem Historiker doch noch ein Wort zu der Frage erlaubt, ob bei den dargestellten Befunden faschistischem Ungeist und faschistischen Bewegungen im Unterschied zu 1933 Halt geboten werden kann. Es ist ein vorsichtig-optimistisches Wort: Man schaue bitte darauf, wie und was in letzter Zeit alles in der Gesellschaft in Bewegung geraten ist und zu zahlreichen, teils sehr kreativen, teils zu spontanen und wie »Flucht nach vorn« wirkenden Protestaktionen führt.

Fast an jedem Tag wird irgendwo demonstriert. Immer mehr Menschen wenden sich gegen wachsende soziale Ungerechtigkeit und anhaltende Ungleichbehandlung der Geschlechter, gegen die existenzielle Bedrohung der Natur und des Klimas, Verlotterung der Infrastruktur, gegen Mietwucher, Doppelbesteuerung der Rentner, unlautere Entlohnung, eine herzlos ökonomisierte Gesundheitspolitik. Lebhafte Kritik wird an der Agrarpolitik und am Lobbyismus geübt, ebenso am Ausbau von Überwachungsinstrumenten. Befürchtet wird der Missbrauch neuer Techniken, etwa die der sogenannten Künstlichen Intelligenz. Attackiert sehen sich zunehmende Gewaltbereitschaft und jede Form des Terrorismus. Vorgegangen wird gegen Rüstungswirtschaft, deren Förderung und ebenso ihre Ergebnisse zu den größten Schäden in Natur und Klima führen. Es mehren sich auch die Zeichen wachsender Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen, wobei ich mir unter den Linken mehr materialistisch-dialektische Theorie wünschen würde, statt oftmals eine alles verklausulierende und verkomplizierende Begrifflichkeit zu produzieren.

Man bemerke auch, dass sich in Befragungen zumeist 70 Prozent der Deutschen gegen Kriege aussprechen. Das lässt hoffen auf eine Friedensbewegung, vergleichbar vielleicht jener, die in den 1970er und 80er Jahren Hunderttausende in großen Demonstrationen vereinte und dazu beitrug, auf nationaler und auf internationaler Ebene »Koalitionen der Vernunft« zu schaffen. Was damals zur Beendigung des »Kalten Krieges« möglich war, sollte erneut angestrebt werden.

Denkbar scheint durchaus, dass unter allen Rüstungs- und Kriegsgegnern, überhaupt unter allen Kritikern unhaltbar gewordener Verhältnisse das Ringen um eine Gemeinschaftlichkeit wächst, die es ermöglicht, über widersprüchliche Interessen hinweg, vielleicht auch über den leider immer spürbaren Vereins-Egoismus hinaus unterschiedliche Zukunftsvorstellungen zu beraten, vielleicht sogar zu erproben, bevor alles hinfällig wird im Falle des Sieges der extremen Rechten und eines Lebens in neuen Kriegszeiten, gleich, ob kalte oder heiße. Vorstellbar ist ja immer noch ein Atomkrieg, zu dem im Vergleich – wie kürzlich Georg Fülberth formulierte – selbst »eine Klimakatastrophe wie ein immerhin noch zeitlich gestreckter Prozess mit Gnadenfrist erscheinen könnte«. Wie wäre es mit einer Hinwendung von »Fridays for Future« hin zu »Alldays for Peace«? Denn der Satz stimmt doch nach wie vor: »Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts!«

Feststellbar sind also erstarkende friedens-, sozial- und klimapolitische Bewegungen, teilweise über nationalstaatliche Grenzen hinaus, erzwungen geradezu als unentbehrliche Antwort auf die aus kapitalistischer Konkurrenz und Gewinnmaximierung erwachsenden Bestrebungen, die Welt in ein chaotisches Neben- und Gegeneinander neuer Nationalismen zu stürzen.

Hoffentlich nicht zu spät! Denn sonst könnte die Barbarei im Umgang von Menschen mit »anderen« Menschen – gleich ob als rassisch definiert, als dumm diffamiert oder als sozial minderwertig und entbehrlich angesehen – zu einem neuen, dann wohl aber endgültigen Ende des Lebens auf unserer Erde führen. So nachdenklich fragend beschließe ich den Vortrag und sage nur noch ganz herzlich Dank für das geduldige Zuhören.

Abschließender Teil 2 des Vortrages beim Freundeskreis Max Hoelz am 14.10.2021 in Reichenbach/Vogtl., wobei dort aus Zeitmangel nicht alles vorgetragen werden konnte.

Teile des Textes beruhen auf einem Beitrag des Autors im Band von Ludwig Elm, Manfred Weißbecker u.a.: »Das faschistische Echo der Vergangenheit. Lehren von Weimar für linke Politik heute.«, VSA-Verlag Hamburg 2021, S. 11-48.

Der Teil 1 des Vortrages wurde im Heft 12/2021 der »Mitteilungen der KPF«, S. 22-28, veröffentlicht und enthält die Gliederungspunkte »Die Zerstörung der Weimarer Republik« (S. 24) und »Krisenbewältigungs- und Profiterhaltungsversuche« (S. 27).

 

Mehr von Manfred Weißbecker in den »Mitteilungen«: 

2021-12: »Sind wir schon wieder so weit?« Besorgte Fragen an die Geschichte der Weimarer Republik und an unsere Gegenwart (I)

2021-01: Im Rückblick: Faschisten-Streit um Konzept und Führungsmacht

2020-02: Vor 100 Jahren: Verkündung des Programms einer faschistischen Partei