Weil sie die Mächtigen störten ... mussten sie verschwinden (I)
Horsta Krum, Berlin
Frieden und Gerechtigkeit sind keine Zustände, auch keine Ereignisse, wie wir sie aus der Natur kennen, beispielsweise das Polarlicht oder ein Gewitter – Frieden und Gerechtigkeit müssen erkämpft werden, immer wieder. Die Menschen, die bei diesen Kämpfen ums Leben kamen durch die Jahrhunderte, Jahrtausende hindurch, sind unzählbar viele. Die Geschichte hat ihre Namen nicht festgehalten. Wohl aber kennen wir Namen von Menschen, die Macht oder Einfluss hatten und die ihre Macht oder ihren Einfluss benutzten, um eine bessere Welt zu schaffen – und die ermordet wurden im Auftrag derer, die ihre Macht gefährdet sahen. Damit die Geschichtsschreibung über die Ermordeten nicht hinweggeht, liegt es an uns, ihre Namen festzuhalten.
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg: Im Geschichtsunterricht einer westdeutschen Kleinstadt erfuhr ich nichts über Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, aber viel über preußische Könige, vor allem über Friedrich II., der stets »der Große« hieß, über Kaiser Wilhelm, der bedauerlicherweise ins Exil geschickt wurde. Dieser Unterricht liegt zwar lange zurück und mag auch in seiner Einseitigkeit nicht die Regel gewesen sein, aber was Liebknecht und Luxemburg gesagt, geschrieben, getan haben, wie sie gelitten haben und gestorben sind, blieb nicht nur mir unbekannt.
Die Äußerung von Rosa Luxemburg, dass »Freiheit immer Freiheit der Andersdenkenden« ist, wurde vor 1990 gern in der Bundesrepublik zitiert – im Hinblick auf die DDR, versteht sich, wo es diese Freiheit nicht gebe. Rosa Luxemburg schrieb als Randnotiz der Schrift »Zur russischen Revolution« von 1918: »Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder der Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ›Gerechtigkeit‹, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ›Freiheit‹ zum Privilegium wird.«
Diese Äußerung gewinnt neue Aussagekraft, nachdem der Bundestag Ende Oktober 2022 einen neuen Absatz zum Paragraphen 130 verabschiedet hat. Der Paragraph 130 stellt die Leugnung des Holocaust unter eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe. Der neue Absatz ist in sehr gewundener, kaum verständlicher Sprache formuliert und stellt Äußerungen und Handlungen unter die gleiche Strafe, die geeignet sind, »den öffentlichen Frieden zu stören«.
Was immer der »öffentliche Frieden« bedeutet und wie er interpretiert werden wird – wir werden gut daran tun, Rosas Äußerung über die »Freiheit der Andersdenkenden« nicht zu vergessen.
Patrice Lumumba: In Belgien wurde er gehasst, denn er engagierte sich für die Unabhängigkeit – mit Erfolg, denn seine Partei war als einzige im ganzen Land verankert. Belgien und die USA fürchteten zu Recht, dass ihnen der Zugriff auf die Agrarressourcen und die kostbaren Rohstoffe des Landes verloren gehen könnten, denn zum Programm Lumumbas gehörte die Verstaatlichung ausländischer Unternehmen, die von den Reichtümern des Kongo profitierten. Im Oktober 1959 wurde Lumumba verhaftet und gefoltert. Das erregte große internationale Aufmerksamkeit, besonders in den sozialistischen Ländern. So wurde er im Januar 1960 freigelassen, um an der Brüsseler »Konferenz am runden Tisch« über die Zukunft des Kongo teilzunehmen. Belgien, die USA, die europäischen Siedler im Kongo hatten seine Wahl zum Premierminister nicht verhindern können.
Am 30. Juni 1960 fand der Festakt zur formellen Unabhängigkeit des Kongo statt. Der belgische König Baudouin und Lumumba als neu gewählter Ministerpräsident hielten eine Rede in der damaligen Hauptstadt Léopoldville. [1] Zum belgischen König gewandt, sprach Lumumba unter anderem von »erniedrigender Sklaverei, die uns mit Gewalt auferlegt wurde. Wir haben zermürbende Arbeit kennengelernt und mussten sie für einen Lohn einbringen, der uns nicht gestattete, uns zu kleiden oder in anständigen Verhältnissen zu wohnen oder unsere Kinder als geliebte Wesen großzuziehen. Wir kennen Spott, Beleidigungen, Schläge, die morgens, mittags und nachts unablässig ausgeteilt wurden, weil wir Neger waren. Wir haben erlebt, wie unser Land im Namen von angeblich rechtmäßigen Gesetzen aufgeteilt wurde, die tatsächlich nur besagen, dass das Recht mit den Stärkeren ist. Wir werden die Massaker nicht vergessen, in denen so viele umgekommen sind, und ebensowenig die Zellen, in die jene geworfen wurden, die sich einem Regime der Unterdrückung und Ausbeutung nicht unterwerfen wollten.«
Drei Monate nach dieser Rede verlor Lumumba sein Amt als Premierminister, wiederum drei Monate danach wurde er ermordet. Die ihn im Januar 1961 ermordeten, quälten ihn lange. Nichts von dem, wofür er gekämpft und was er erreicht hatte, sollte übrigbleiben – auch nicht von seinem Körper. Der genaue Todestag ist unbekannt.
Nachdem einer der Söhne Lumumbas in Belgien Anklage erhoben hatte, richtete das Parlament im März 2000 eine Untersuchungskommission ein; ihre Ergebnisse legte sie im November des Folgejahres vor. Danach hatte die belgische Regierung Lumumbas Gegner finanziell, militärisch und logistisch unterstützt, kongolesische Soldaten hatten den Mord im Beisein belgischer Offiziere begangen. König Baudouin war informiert gewesen. Der US-amerikanische Präsident Eisenhower hatte bereits 1960 die CIA beauftragt, den neu gewählten Präsidenten des Kongo zu vergiften. Wie andere Recherchen zeigen, war auch der britische Geheimdienst in den Mord verwickelt.
2012 entschieden die belgischen zuständigen Instanzen, der Klage eines anderen Lumumba-Sohnes gegen zwölf Belgier stattzugeben. Daraufhin entschuldigte sich der belgische Premierminister bei der demokratischen Republik Kongo. [2]
Kurz nachdem der Mord an Lumumba bekannt geworden war, schrieb der französische Philosoph Jean-Paul Sartre: »Mit seinem Tod hört Lumumba auf, eine Person zu sein: Er wird zum Inbegriff für ganz Afrika.«
Und heute? Der Kongo ist immer noch eins der reichsten Länder, und seine Bevölkerung eine der ärmsten, nicht nur in Afrika, sondern auf dem gesamten Globus. Die Hauptstadt Kinshasa hat etwa 18 Millionen Einwohner. Hier und in anderen Großstädten leben seit Jahrzehnten Straßenkinder, Kinder also, die kein Zuhause und kaum Schulbildung haben, Kinder, die, von kleinen Gelegenheitsarbeiten leben und von Kriminalität.
Der lateinamerikanische Befreiungstheologe Ernesto Cardenal (1925 - 2020) schrieb das folgende Gedicht über kongolesische Kinder, die außerhalb der Städte leben. Unter ihnen arbeiten viele für ausländische Konzerne. Die Löhne, die die Konzerne diesen Kindern bzw. deren Familien zahlen, haben sich inzwischen ein ganz klein wenig erhöht, aber die Gesamtsituation, die Arbeitsstruktur hat sich kaum verändert.
El Celular / Das Handy
Du sprichst in dein Handy
du redest und redest
und lachst in dein Handy
und weißt nicht, wie es gemacht wurde,
und viel weniger noch, wie es funktioniert
aber was macht das schon
schlimm ist, dass du nicht weißt
wie ich es auch nicht wusste
dass im Kongo viele sterben
Tausende und Abertausende
sterben im Kongo
wegen dieses Handys.
In seinen Bergen gibt es Coltan
(außer Gold und Diamanten)
das man für die Kondensatoren braucht
der Mobiltelefone.
Um die Kontrolle über die Mineralien
führen multinationale Konzerne
einen endlosen Krieg.
5 Millionen Tote in 15 Jahren
und sie wollen nicht, dass die Welt davon erfährt.
Ein unermesslich reiches Land
mit einer ungeheuer armen Bevölkerung.
80 % der Weltreserven an Coltan
befinden sich im Kongo.
Dort liegt das Coltan schon
seit drei Milliarden Jahren.
Nokia, Motorola, Compaq, Sony
kaufen das Coltan
und auch das Pentagon und auch
die Corporation, der die New York Times gehört
und sie wollen nicht, dass die Welt davon erfährt
und auch nicht, dass dieser Krieg beendet wird
damit sie weiter das Coltan rauben können.
Kinder zwischen 7 und 10 Jahren schürfen das Coltan
Weil ihre kleinen Körper
gut in die kleinen Löcher passen
für 25 Cents pro Tag
und es sterben haufenweise Kinder
durch den Coltan-Staub
oder beim Hauen des Gesteins
das auf sie niederfällt.
Auch die New York Times
will nicht, dass die Welt davon erfährt
und so kommt es, dass man nicht erfährt
von diesem organisierten Verbrechen
der multinationalen Konzerne.
Die Bibel setzt gleich
Gerechtigkeit und Wahrheit
so wichtig also, diese Wahrheit
die uns frei machen wird
auch die Wahrheit über das Coltan
Coltan in deinem Handy
in das du sprichst und sprichst
und in dein Handy lachst.
(Ernesto Cardenal, Etwas, das im Himmel wohnt, Neue Gedichte. Aus dem Spanischen von Lutz Kliche. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2014, S. 7-9.)
Anmerkungen:
[1] Léopoldville wurde 1966 in Kinshasa umbenannt. Damit löste sich das Land auch mit dem Namen seiner Hauptstadt von der kolonialen Vergangenheit. Kongo-Kinshasa, offiziell die Demokratische Republik Kongo genannt, ist reich an Bodenschätzen, groß an Fläche: Knapp 100 Millionen Einwohner leben auf einer Fläche von 2.345.000 Quadratkilometern, das sind 43 Einwohner pro Quadratkilometer. Die deutschen Vergleichszahlen: 243 Einwohner pro Quadratkilometer; insgesamt 84,4 Millionen Einwohner auf 357.888 Quadratkilometern.
[2] Hier zeigt sich, wie unlogisch, ja falsch die deutsche Sprache in diesem Falle ist: Als könne sich jemand selbst ent-schuldigen, als könne sich ein Täter selbst von seiner Schuld freisprechen. Dabei kann doch nur das Opfer den Täter ent-schuldigen. Im Französischen heißt es richtig: Um »Pardon« bitten (demander pardon).
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