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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Lateinamerikanische Befreiungstheologie

Horsta Krum, Berlin

 

»Bananenrepubliken« hießen (außer Kuba) inoffiziell die lateinamerikanischen Länder, die jahrhundertelang Kolonien der süd-west-europäischen Länder Spanien und Portugal gewe­sen waren. Den Zugriff auf deren agrarische Produkte und Rohstoffe wollten sich weiterhin die USA sichern, zusammen mit ihren westeuropäischen Verbündeten. Auch wollten sie die außenpolitische Orientierung dieser Länder lenken und das Erstarken nationaler Bewegun­gen verhindern. So verhalfen sie Regierungen, meist Militärdiktaturen, an die Macht, die in diesem Sinne handelten.

Die Hilfe ging noch weiter: Auf der »Rattenlinie«, eingerichtet von Militär- und Geheim­dienst-Kreisen der USA, gelangten ehemals aktive Nazis nach Lateinamerika – über Süd­tirol, den Vatikan, Süditalien oder über Spanien. Unterwegs fanden sie Unterstützung vor allem in Klöstern, in denen manchmal auch Juden unterkamen, die auf dem Weg nach Palästina waren. Wieweit Papst Pius XII. über die Aufnahme flüchtiger Nazi-Verbrecher Bescheid wusste, wird von Historikern noch untersucht; denn erst ab 2020 sind sämtliche Dokumente zugänglich, die die Amtszeit dieses Papstes betreffen. Dass aber katholische Geistliche die Flucht von Nazis aktiv unterstützten, ist seit langem belegt. Bereits 1943 hatten ein kroatischer Priester und ein österreichischer Bischof eine Fluchtroute für Nazis vorbereitet, so dass diese Linien zunächst auch »Klosterlinien« hießen.

Adolf Eichmann, Josef Mengele, Klaus Barbie und viele, viele andere Nazi-Verbrecher kamen auf diese Weise nach Lateinamerika. Als Angestellter des bolivarischen Innenminis­teriums bildete Barbie ab 1966 Militär und Polizei in Foltermethoden aus, wie er sie vorher in Deutschland als Gestapo-Mann anwenden ließ und auch selber anwandte. In Frankreich ist er noch heute als »der Schlächter von Lyon« bekannt. Das Gefängnis Montluc, in das er seine Opfer bringen ließ, kann seit einigen Jahren als Gedenkstätte besichtigt werden. Die einzelnen Zellen, die Flure, die Wände, die Erschießungsmauer, zu der ein langer Gang wie eine Schlucht führt – alles das atmet noch heute kaltes Grauen.

Es ist also keineswegs weit hergeholt, wenn Ernesto Cardenal, Priester aus Nicaragua, diese Kontinuität zwischen Nazideutschland und den Militärdiktaturen in manchem seiner Gedichte thematisiert und – noch direkter – das Leiden der Opfer als identisch beschreibt:

     Elektrisch geladener Stacheldraht schließt mich ein

     jeden Tag werde ich aufgerufen

     man hat mir eine Nummer eingebrannt

     meine Knochen kann man zählen wie auf einem Röntgenbild

     alle Papiere wurden mir weggenommen

     nackt brachte man mich in die Gaskammer  [1]

Voraussetzungen der Befreiungstheologie

Die lateinamerkanischen Großgrundbesitzer, zusammen mit US-amerikanischen Unterneh­men wie United Food und United Fruit, bestimmten die Preise, so dass die große Masse der Lohnabhängigen immer ärmer wurde und die Kleinbauern nicht mehr vom Verkauf ihrer Ernte leben konnten. Viele verschuldeten sich, mussten ihren Grund und Boden ganz oder teilweise an die Großgrundbesitzer verkaufen. Minderheiten, beispielsweise Indianer, verloren ihren Lebensraum. Kinderarbeit in der Stadt und auf dem Lande war normal. Fes­te Häuser mit ausreichenden hygienischen Einrichtungen kannten die »Favelas« der Städte nicht, sondern die Menschen lebten dicht gedrängt in Blechhütten oder Zelten, die Unwet­tern nicht standhielten. Jede politische Opposition wurde unterdrückt, denn die Herrschen­den fürchteten den Einfluss der sozialistischen Länder, besonders Kubas.

»Korruption und Massendiebstahl« nannte Friedrich Engels vergleichbare Zustände, die das Frankreich des 19. Jahrhunderts während der Regentschaft des »Bürgerkönigs« Louis-Phi­lippe geprägt hatten.

Als in Lateinamerika nach 1945 Korruption und Massendiebstahl zunahmen und mit ihnen der Reichtum der Reichen, die Zahl der Armen und die Brutalität, die jede Opposition unterdrückte, entstand die Theologie der Befreiung.

Mit den südeuropäischen Kolonisatoren waren die Missionare gekommen; so wurde die Bevölkerung katholisch, und ihr weitaus größter Teil ist es noch heute. Drei Gruppierungen sind Träger der Befreiungstheologie:

- Das Volk, nämlich die Landarbeiter und Kleinbauern. In den Städten sind es die Arbeiter und Arbeiterinnen. Sie sind alle arm. Einige haben, zusammen mit Priestern und Ordensleuten, Basisgemeinden gegründet, in denen sie sich versammeln, beispielsweise zum Gottesdienst (Messe) und zur Feier der Eucharistie (Kommunion).

- Die Priester und Ordensleute, die die Basisgemeinden auf dem Lande und in den Städten betreuen.

- Die Universitätstheologen, die wissenschaftliche Theologie lehren und die Priester und Ordensleute ausbilden.

Die drei bilden eine Einheit und sind aufeinander angewiesen. Die Universitätstheologen leben in regelmäßigen Abständen auf dem Lande oder in den Favelas, wo sie mit den Basisgemeinden zusammenkommen. Die Priester und Ordensleute leben sowieso vor Ort.

Ernesto Cardenal, Priester in Nicaragua und einer der bekanntesten Vertreter der Befrei­ungstheologie, zeichnete einige Zusammenkünfte der Basisgemeinde von Solentiname auf. In der Einleitung schreibt er: »In Solentiname, einer abgeschiedenen Inselgruppe im Großen See von Nicaragua mit rein bäuerlicher Bevölkerung, hören wir in der Sonntagsmesse keine Predigt, sondern unterhalten uns ganz einfach über das Evanglium. Die Auslegungen der Bauern sind oft von größerer Tiefe als die vieler Theologen, aber gleichzeitig von genau so großer Einfachheit wie das Evangelium selbst. Das darf uns nicht verwundern, denn das Evangelium, die »gute Nachricht für die Armen«, wurde für Menschen wie sie geschrieben.« [2]

Aus der Basisgemeinde Solentiname

Das folgende Beispiel handelt von der letzten Mahlzeit, die Jesus mit seinen Freunden teilt, bevor er am Kreuz hingerichtet wird. Jemand liest den entsprechenden Text aus der Bibel. Ein Teilnehmer stellt fest, dass es sich offensichtlich um eine subversive Zusammenkunft handelt. Cardenal erklärt die Vorgeschichte: Einmal im Jahr, im Frühling, feiern die Juden diese besondere Mahlzeit, das Passa-Fest, um an den Auszug (Exodus) der israelitischen Sklaven aus dem Ägypten der Pharaonen zu erinnern. Ob und wieweit es sich um ein histo­risches Ereignis handelt, ist unwichtig. Wichtig ist und bleibt der Übergang aus der Sklave­rei in die Freiheit. Aber die Erinnerung daran, dass sie alle einmal Sklaven gewesen waren, verblasste, und es bildete sich, wie woanders auch, eine Gesellschaft von Reichen und Armen. So wurde das Passa-Fest zu einem bloßen Ritus.

Als Jesus das Passa-Fest mit seinen Freunden feierte, meinte er genau das, wenn er den bloßen Ritus kritisierte und ihn durch einen »neuen Bund« ersetzen wollte. Und zur Erinne­rung daran feiert die Kirche auch heute noch die Eucharistie, die Kommunion mit Brot, das Nahrung bedeutet, und mit Wein, Symbol der Freude.

Ein Teilnehmer wirft ein: »Ich glaube, die logische Konsequenz der Eucharistie müsste sein, dass alle Menschen alles gemeinsam besitzen, Solange sie nicht alle in einer ›Kommunion‹ leben, kann die wirkliche Eucharistie, die Christus einsetzte, nicht gefeiert werden.«

Cardenal: »Camilo  Torres [3] sagte, genau darum feiere er vorläufig keine Messen mehr.«

Ein Priester aus Kolumbien, der zu Besuch ist, ergänzt: Mit der Kirche »ist das gleiche pas­siert wie mit der Geschichte der Menschheit, so wie Marx sie beschreibt: daß die Mensch­heit am Anfang eine Gemeinschaft war, in der die Menschen sich gegenseitig halfen und alles gemeinsam hatten. Genau wie die ersten Christen. Aber das Christentum ging später durch die gleichen Phasen: Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus. In meinem Land zum Bei­spiel leben einige Priester wie Feudalherren und andere wie Bettler. Aber jetzt gibt es bereits viele, die begriffen haben, daß wir uns gegen diese unterdrückenden Strukturen der Kirche auflehnen müssen, und wir versuchen zu erreichen, daß die Kirche, zusammen mit der Ge­sellschaft, in eine neue Phase übergeht, in die des Sozialismus. Aber vorläufig muß das noch im Untergrund geschehen. In einer Kapelle wie dieser, einfach, arm bäuerlich, wo das Volk die Ungerechtigkeit spürt, die ihm im Namen der Religion angetan wurde, versteht man den wahren Sinn der Eucharistie, die gegenseitige Hilfe, Solidarität und Befreiung bedeutet.«

Eine Frau aus Solentiname: »Die Leute verstehen nicht, daß Jesus uns keine Zeremonien beibringen wollte. Während die einen ein rauschendes Fest feiern, gehen andere nur mit einem warmen Tee im Magen ins Bett. Es gibt unzählige Menschen in unserem Land, die ohne Abendessen ins Bett gehen. Vielleicht haben sie nicht einmal richtig zu Mittag geges­sen. In unserer Gesellschaft sind die einen eben die Herren und die anderen die Sklaven, die sie bedienen.«

T. setzt fort [4]: »Die Anhänger dieses Systems sind bei den alten Riten stehen geblieben, man soll fasten, kein Fleisch essen. An vielen Orten halten sich die Menschen nur an diese Riten, ohne etwas an dem System zu verändern; das System hält alle immer weiter in sei­nen Klauen.«

Ein alter Mann: »Dem Volk wird alles genommen, sogar die Erde. Wir haben hier fast kein Land mehr für uns.«

T: »Die Erde gehört jetzt den Feudalherren.«

Ein ganz junges Mädchen: »Genau das Gegenteil von einer Kommunion.«

Das folgende Gespräch handelt davon, wie die Bauern von Solentiname nach und nach ihr Land zu billigen Preisen verkaufen müssen. Eine Teilnehmerin erwähnt noch einmal die Riten, die viele Katholiken vollziehen, aber die Ungerechtigkeit nicht sehen, »die Kinder­sterblichkeit, die Unterernährung, den Mangel an Medikamenten.«

Cardenal: »In Kuba fällt die Feier des Sieges Playa Girón (der ›Schweinebucht‹) am 19. April, ungefähr mit der Karwoche zusammen. Das regt viele Katholiken auf, weil sie glau­ben, die Revolution wolle ein christliches Fest durch ein weltliches ersetzen. Als ich das erste Mal in Kuba war, fiel dieser Tag genau auf einen Karfreitag, was sie noch mehr ver­letzte, da in allen Schulen ›Playa Girón‹ gefeiert wurde anstatt Karfreitag. Aber ich dachte, im Grunde braucht sie das nicht zu verletzen, weil auch hier ein ›Übergang‹, ein Ostern gefeiert wurde: der Auszug aus dem System des Kapitalismus. Die revolutionären Kubaner feierten eine wirkliche Befreiung, während die reaktionären Katholiken, die mit diesem ›Playa Girón‹ doch nichts verloren, nur eine rituelle Befreiung feierten.«

T: Karfreitag und Ostern auf »diese rituelle Weise zu feiern bedeutet soviel wie, wieder nach Ägypten zurückzukehren.«

Cardenal fasst zusammen, was im Laufe des langen Gespräches zur Sprache gekommen ist: vom Auszug der israelitschen Sklaven aus Ägypten, über das besondere Passa-Fest, das Jesus mit seine Freunden feierte, bis hin zur Kommunion, wie die Christen, (nicht nur die Katholiken) sie auch heute noch begehen: »Es kann keine wirkliche Kommunion geben, solange es Klassenunterschiede gibt, weil sich die sozialen Klassen nicht vereinen können, die Ausbeuter und die Ausgebeuteten.«

Und die offizielle Kirche?

1979 tagt die lateinamerikanische Bischofskonferenz in der mexikanischen Stadt Puebla. Die Beschlüsse der Bischöfe vergleicht der brasilianische Theologe Leonardo Boff mit der Reformation des 16. Jahrhunderts und bezeichnet sie darüber hinaus als die »kopernikani­sche Revolution« in der Geschichte der Kirche und über die Kirche hinaus, die stets im Ein­klang mit den Mächtigen geredet und gehandelt hat, deren wichtigstes Thema jetzt aber die Armut ist. Und Armut, so heißt es in den Beschlüssen von Puebla, ist »nicht Zufall, son­dern das Ergebnis wirtschaftlicher, sozialer, politischer und anderer Gegebenheiten und Strukturen.« [5] – »Einige wenige werden immer reicher auf Kosten der Armen, die immer mehr verarmen«, wobei das Ziel nicht eine reiche Gesellschaft ist, weil diese wiederum ungerecht wäre, sondern eine »gerechte und brüderliche Form des Zusammenlebens.« – »Die ganze Kirche muss sich bekehren und sich an erster Stelle für die Armen entscheiden, mit dem Ziel ihrer ganzheitlichen Befreiung.« – »Damit den Armen tatsächlich gedient wer­den kann, müssen sich alle Christen ständig bekehren und läutern.«

Die Bischofskonferenz bezieht sich auf die Soziallehre von Papst Paul VI., die er 1971 ver­fasste. Paul VI. ist, wie mehr oder wenige alle Päpste seit 1917, stark antikommunistisch geprägt und formuliert eher vage: Die kirchliche Soziallehre beschränke sich nicht darauf, »einige allgemeine Grundsätze in Erinnerung zu rufen. Nein, sie entfaltet sich durch Überle­gung und Forschung in ständiger Anwendung auf den ständigen Wechsel der Dinge dieser Welt.« Das bedeutet keine positive oder wohlwollende Stellungnahme zur Befreiungstheo­logie, aber widerspricht ihr auch nicht, sondern gibt ihr Freiräume. Der Nachfolger Pauls VI., Johannes Paul II., richtet 1984 eine Grußadresse an die brasilianischen Bischöfe: »Die Bischöfe Brsiliens mögen sich daran erinnern, daß sie das Volk aus der Ungerechtigkeit, die, wie ich weiß, drückend ist, befreien müssen. Mögen sie diese Rolle als Befreier des Volkes auf den richtigen Wegen und mit den richtigen Methoden übernehmen.«

Natürlich unterstreicht auch hier Leonardo Boff die Freiräume, die sich für die Befreiungs-theologie ergeben, denn eine Gegnerschaft der Hierarchie wäre katastrophal für alle, die zur Befreiungstheologie gehören: für die Basisgemeinden, für die Priester und Ordensleute vor Ort, für die universitären Lehrer. Ihnen allen bringen die Mächtigen viel Misstrauen ent­gegen, und schlimmer: Wer sich exponiert, begibt sich in Lebensgefahr. Erzbischof Oscar Romero aus San Salvador war nur eins von vielen Todesopfern: etwa 900 Priester, Ordens­frauen, Bischöfe und Laien wurden ermordet, weil sie für die Befreiung der Armen gewalt­los kämpften.

Aber die päpstlichen Botschaften lassen andere Sorgen deutlich werden. Als Papst Paul II. an die brasilianischen Bischöfe schrieb, lag die Ermordung Romeros nur vier Jahre zurück. Wer das päpstliche Dokument aus dem Jahr 1984 genauer liest und diesen Papst in seinem sonstigen Reden und Handeln kennt, wird das Ende des Satzes konkreter verste­hen: Die »richtigen Wege« und dann noch einmal die »richtigen Methoden« können nur als Mahnung gemeint sein, die Kirchen sollen sich vor marxististischem Gedankengut hüten.

Und Karl Marx?

Der kolumbianische Priester, der die Basisgemeinde in Solentiname besuchte, hat ja Marx beiläufig, aber als eine selbstverständliche Referenz erwähnt. Leonardo Boff stellt die rhe­torische Frage: »Wenn es um den Armen und den Unterdrückten geht und wenn ihre Befreiung gesucht wird, wie könnte sich da die Begegnung mit den marxistischen Gruppen (im konkreten Kampf) und mit der marxistischen Theorie (auf der Ebene der Reflexion) ver­meiden lassen?« [6]

Boff präzisiert: Keine Autorität kann die biblische Botschaft ersetzen; sie steht an erster Stelle für die Befreiungstheologie. Diese fühlt sich nicht verpflichtet, vor den Sozialwissen­schaften Rechenschaft abzulegen über den richtigen Gebrauch von marxistischen Begrif­fen. Sie benutzt den Marxismus als Instrument und stellt an Marx die Frage: »Was kannst du uns über die Situation des Elends und über die Wege zu seiner Überwindung sagen? Damit wird der Marxist dem Urteil des Armen und seiner Sache unterworfen, nicht umge­kehrt!« Andererseits lernt die Befreiungstheologie vom Marxismus »die Bedeutsamkeit der wirtschaftlichen Faktoren, die Aufmerksamkeit für den Klassenkampf, die Mystifikations­macht der Ideologien, auch der religiösen.«

Das Hauptthema der Befreiungstheologie ist die Armut, genauer: die Armen. Sie werden, wie bei Marx das Proletariat, zum handelnden Subjekt. »Eine Frau aus einer armen Stadt hörte einmal, wie man sie ›Arme‹ nannte. Da sagte sie: ›Arm? Nein! Arm sind die Hunde. Wir sind mittellos, aber wir kämpfen.‹« Dieses wichtige Thema der Befreiungstheologie, das sie mit Marx verbindet, nämlich die Armen als Handelnde, als Kämpfende, hat die kirchli­che Hierarchie nicht verstanden oder wollte sie nicht verstehen. Gleich zweimal formuliert es Johannes Paul II.: Die handelnden Subjekte sollen die Bischöfe sein, die Armen ihre Objekte.

Armut ist zunächst ein sozio-ökonomischer Begriff. Arm sind die, die ihren Lebensunterhalt nicht oder nur mühsam bestreiten können. Sie sind abhängig, schwach, schutzlos, namen­los, verachtet und erniedrigt. Hier orientiert sich die Befreiungstheologie stark an den mar­xistischen Klassikern, die die Grundlage bilden zum Verständnis von Armut. Das wird ja auch deutlich am Ende des Gespräches in Solentiname. Aber die Menschen der Basisge­meinden leiden noch unter anderer Armut, beispielsweise der rassistisch bestimmten, wie etwa die Schwarzen; der ethnisch bestimmten, wie die Indianer und andere ethnische Min­derheiten. Und Frauen leiden besonders unter sexuell bestimmter Armut. Boff berichtet aus einer brasilianischen Basisgemeinde: Eines Tages meldete sich eine Frau zu Wort, »sie sei aufgrund von sechs verschiedenen Umständen unterdrückt und verarmt: weil sie Frau, Prostituierte, ledige Mutter, Schwarze, arm und leprös sei. Was kann angesichts einer sol­chen Lage Christsein anderes heißen, als den Glauben als Befreiung zu leben und alle Kräf­te zur Überwindung derartiger sozialer Ungerechtigkeiten zusammenzunehmen? Diesen Armen müssen wir verkünden, daß Gott sie bevorzugt liebt, ganz gleich, wie ihre morali­sche oder persönliche Situation aussehen mag. Sie sind die Lieblinge Gottes und Christi, nicht weil sie gut wären, sondern weil sie arm sind und weil ihnen Unrecht geschieht.« [7]

Maria, die Mutter Jesu, wird in Lateinamerika besonders verehrt. Zu ihr flüchten sich nicht nur Frauen in ihrem Leid und in ihrer Hoffnung, aber Frauen können sich mit ihr besser identifizieren als mit Männern. Die Bibel berichtet: Als Maria erfuhr, dass sie die Mutter von Jesus werden würde, sang sie das Lied, das die Theologie als »Magnifikat« bezeichnet (aufgrund der lateinischen Übersetzung des Originaltextes): Es ist ein überschwängliches Danklied an Gott. »… Er übt Gewalt mit seinem Arm, und zerstreut die Hochmütigen. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ...« – Aus dem Evangelium des Lukas, Kapitel 1: – Die Vision einer neuen, gerechten Gesellschaft.

Es gibt noch viele Aspekte der Befreiungstheologie, beispielsweise ihr Verhältnis zu Fidel Castro und Cuba. Davon schrieb der brasilianische Theologe Frei Betto in seinen Buch »Nachtgespräche mit Fidel«, erschienen 1987 in der DDR.

Horsta Krum ist evangelische Theologin.

 

Anmerkungen:

[1] Wegen der besseren Lesbarkeit werden Weglassungen nicht, wie üblich, durch … markiert.

[2] »Volk« in der Bibel meint die Armen, genau wie die Befreiungstheologie. Dieses und die folgenden Zitate stammen aus: Ernesto Cardenal, Das Evangelium der Bauern von Solentiname, Wuppertal (C 1980), 1991, S. 9.

[3] Camilo Torres Restrepo (1929-1966), kolumbianischer Befreiungstheologe.

[4] Cardenal nennt die meisten, die das Wort ergreifen, mit Namen; hier erscheint, aus Platzgründen, manchmal T. als »Teilnehmerin« oder »Teilnehmer«.

[5] Die Zitate aus der kirchlichen Hierarchie sind den beiden Büchern von Leonardo Boff entnommen, die in Düsseldorf erschienen: Aus dem Tal der Tränen ins gelobte Land, 1982 und Wie treibt man Theologie der Befreiung? 1986 (verfasst zusammen mit Clodovis Boff).

[6] Die Zitate, die sich auf die Auseinandersetzung mit dem Marxismus beziehen, stammen aus dem 1986 erschienen Buch von Boff, S. 38 ff.

[7] Ebd., S. 60.

 

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