Vor 70 Jahren: Dien Bien Phu – Sieg und doch kein Frieden
Hellmut Kapfenberger, Panketal
Als am 7. Mai 1954 ein Kämpfer der vietnamesischen Volksarmee auf dem Befehlsbunker von Oberst de Castries stolz die rote Fahne mit dem goldenen Stern schwenkte, war nicht nur eine vermutlich einzigartige und deshalb zu Recht in die Militärgeschichte eingegangene Schlacht geschlagen. Mit der Erstürmung der gewaltigen Stützpunkt-Festung auf dem nordwestvietnamesischen Hochgebirgsplateau von Dien Bien Phu war auch nicht einfach Frankreichs Indochina-Expeditionskorps seiner Speerspitze beraubt und so der ganzen Militärmaschinerie der »Grande Nation« auf der indochinesischen Halbinsel das Genick gebrochen. Der grandiose, wenn auch teuer bezahlte vietnamesische Sieg in unmittelbarer Nähe der Grenze zu Laos auf schwierigstem Terrain und unter kompliziertesten logistischen Bedingungen markierte, auch wenn Paris das zunächst noch nicht wahrhaben wollte, zugleich das Ende des jahrelangen Versuchs, mit massiver militärischer Gewalt sein einstiges Kolonialregime zu neuem Leben zu erwecken. Dieser Traum war definitiv ausgeträumt.
Ein Volk verteidigt die Früchte seiner Revolution
Was war der Entscheidung im Frühjahr 1954 vorausgegangen, und was kam danach? Vietnams Augustrevolution 1945, Krönung 15-jährigen organisierten Freiheitskampfes, hatte der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewaltsam errichteten französischen Kolonialmacht in Indochina und dem seit 1940 währenden japanischen Besatzungsregime den Todesstoß versetzt. Mit britischer logistischer Unterstützung und US-amerikanischem materiellem Segen aber begann 1946 ein großangelegter Rückeroberungsfeldzug eines von den USA hochgerüsteten, bereits 70.000 Mann starken neuen französischen Expeditionskorps. Die junge Demokratische Republik Vietnam (DRV), ausgeplündert und nahezu mittellos, und ihre noch schwachen, nur rudimentär ausgerüsteten Befreiungskräfte sahen sich einem materiell weit überlegenen Feind gegenüber. Unter schwierigsten Bedingungen war das Land unter der bewährten Führung der Kommunistischen Partei um Ho Chi Minh nun zu einem jahrelangen Kampf auf Leben und Tod gezwungen.
Paris war offenkundig dem Irrglauben erlegen, politischer Druck, mit Erpressung verbundene Scheinverhandlungen und militärische Gewalt, gestützt auf materiellen und rasch zunehmenden finanziellen Beistand aus Washington, würden Vietnams junge Volksmacht in die Knie zwingen. Es sollte sich jedoch erweisen, dass sich ein Volk, welches bereits jahrzehntelang für seine Freiheit gekämpft und dabei unermessliche Opfer gebracht hatte, nicht im Handstreich um die Früchte seiner Revolution betrügen lässt. Zwar konnte nicht verhindert werden, dass der Gegner weite Gebiete des Landes mitsamt der Hauptstadt Hanoi in seinen Besitz brachte. Die stetig erstarkenden, von der Bevölkerung landesweit nach Kräften unterstützten Befreiungstruppen und Partisanenverbände leisteten den Aggressoren aber immer erfolgreicher Widerstand. Auch die permanente Verstärkung seiner Truppen bewahrte das französische Oberkommando in Hanoi allmählich nicht vor verlustreichen, mit schmerzhaften Gebietsverlusten verbundenen Niederlagen in den ausgedehnten Gebirgsregionen des Landesnordens und selbst in den Flachlandgebieten entlang der Küste.
Ende 1953 zählte das Corps Éxpeditionnaire Francais en Éxtrême-Orient (CEFEO) inzwischen 250.000 Mann, Franzosen, Nordafrikaner und zu einem großen Teil deutsche Fremdenlegionäre. Hinzu kam eine rund 300.000 Mann zählende Armee der in Hue installierten Marionettenverwaltung unter Ex-Kaiser Bao Dai. Frankreichs Militärausgaben für den Feldzug überforderten längst seinen Haushalt. Waren 1951 noch 12 Prozent der Aufwendungen für den Indochina-Waffengang von den amerikanischen Steuerzahlern getragen worden, so waren es 1953 schon 60 Prozent. 1954 trug Washington gar zu 80 Prozent Frankreichs Kriegskosten. Das Volumen US-amerikanischer Kriegsmateriallieferungen nahm ebenso dramatisch zu. Es stieg von 6.000 Tonnen pro Monat 1951 bis Anfang 1954 auf monatlich 88.000 Tonnen. Per Schiff sowie über Luftbrücken aus Europa, mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auch der BRD, gelangten in jenen Jahren aus amerikanischen Depots 340 Kampfflugzeuge, 1.400 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, eine große Anzahl Lastwagen, hunderte Flussschiffe und Landungsboote, die Ausrüstung mehrerer Artillerieregimenter, 150.000 Tonnen Infanteriewaffen sowie Munition aller Art einschließlich Napalmbomben nach Vietnam.
»Schlacht von strategischer Bedeutung«
Um die Jahreswende 1953/54 wurde deutlich, dass beide Seiten die Entscheidung suchten. Frankreichs Oberkommando fasste den für seine Truppen verhängnisvollen Entschluss, Vietnams Volksarmee im Raum Dien Bien Phu die alles entscheidende Schlacht aufzuzwingen. Man begann mit dem demonstrativ ungetarnten Bau eines riesigen Stützpunktes auf diesem Gebirgsplateau. Über eine Luftbrücke, wie sie Indochina noch nicht erlebt hatte, wurden gewaltige Mengen Baumaterial und -gerät, schwere Waffen und tausende Soldaten herangeschafft. So entstand auf der von dschungelbedeckten Bergkämmen gesäumten Fläche von 18 Kilometer Länge und einer Breite bis zu acht Kilometer eine waffenstarrende Festung mit zwei Feldflugplätzen, nach außen hin gesichert durch tiefgestaffelte Sperranlagen und Stellungen auf umliegenden Höhen. Dien Bien Phu wurde der größte und am stärksten befestigte Stützpunktkomplex in Indochina, von den französischen Militärs und hochrangigen amerikanischen Inspektoren als uneinnehmbar eingeschätzt.
Bei einer Blitzvisite in Dien Bien Phu zeigte sich der Oberkommandierende der USA-Landstreitkräfte im pazifischen Raum, General John O'Daniel, hinsichtlich der Perspektiven der geplanten Schlacht »enthusiastisch«. Auch USA-Vizepräsident Richard Nixon und Außenminister John Foster Dulles kreuzten in Nordvietnam auf. Im Golf von Bac Bo (Golf von Tonkin) gingen auf der Höhe der Hafenstadt Haiphong zwei Flugzeugträger der 7. USA-Flotte vor Anker. Expeditionskorps-Chef General Henri Navarre tönte angesichts zu erwartender gewaltiger logistischer Probleme des Gegners: »Nur in Dien Bien Phu und nirgendwo sonst werden wir den Sieg erringen.«
Französischer Plan war, Vietnams Armeeführung zu gleicher Truppenkonzentration zu verleiten und so in die Falle zu locken. Wie später aktenkundig wurde, wollte man die hastige Verlegung der Hauptkräfte der Volksarmee in diesen Raum provozieren, um sie in einem Gebirgsterrain, das kaum Manövriermöglichkeiten bot, mit Luftschlägen und konzentriertem Artilleriefeuer zermalmen zu können. Was das französische Oberkommando in Hanoi nicht wusste: Vietnam rüstete zeitgleich ebenso zum entscheidenden Kampf. Im Dezember hatte das Politbüro des ZK der Partei der Werktätigen Vietnams (PWV) unter Ho Chi Minhs Vorsitz beschlossen, eine »Schlacht von strategischer Bedeutung« eben im Raum Dien Bien Phu vorzubereiten. Mit der Leitung der Operation wurde der Oberkommandierende der Volksarmee, Politbüromitglied General Vo Nguyen Giap, betraut.
Von den Franzosen unbemerkt, wurden noch im Dezember unter meisterhafter Tarnung und gedeckt von dichtem Gebirgswald die ersten vietnamesischen Einheiten herangeführt. Auch blieb ihnen verborgen, dass an den überwucherten Hängen umliegender Berge Artilleriestellungen angelegt wurden. Meist in wochenlangen Fußmärschen zu Bereitstellungsräumen und Ausgangsstellungen legten vietnamesische Einheiten hunderte Kilometer durch Gebirge und Urwald zurück. Auf schwierigsten Transportwegen konnte der rückwärtige Dienst nur in sehr begrenztem Maße und zudem nur in weiter Entfernung Lastwagen einsetzen. Endlose Trägerkolonnen, zumeist junge Freiwillige aus den Reihen der im Gebirge siedelnden ethnischen Minderheiten, hatten vor und dann auch während der Schlacht, oft aus der Luft attackiert, tausende Tonnen Munition, Proviant, Verbandsmaterial und andere Güter in das Umfeld des Stützpunkts zu bringen. Transportmittel waren mehr als 10.000 Lastenfahrräder, Boote und Flöße, Pferderücken und die Schultern der Träger.
Anfang März waren in den mit Bunkern gespickten, von Grabensystemen durchzogenen, mit Minenfeldern und endlosen Stacheldraht-Kilometern gesicherten drei inneren Sektoren und zahlreichen Berg-Forts der Festung 17 Infanterie- und drei Artilleriebataillone, Pioniertruppen, Panzereinheiten, Kampf-, Transport- und Aufklärungsflugzeuge konzentriert. Das Expeditionskorps hatte dort rund 20.000 Mann seiner schlagkräftigsten Einheiten zusammengezogen. Ihnen standen, so westliche Quellen, etwa 50.000 Mann der Volksarmee gegenüber. Dazu gehörten zwei Infanteriedivisionen, drei Infanterieregimenter, ein Flak- und ein Pionierregiment sowie vier Artillerieabteilungen.
Mit einem überraschenden Artillerieschlag leitete die Volksarmee am 13. März ihre Offensivhandlungen ein. Als Ende März die zweite Angriffsphase begann, boten die USA den Franzosen massive Luftschläge strategischer B-29-Bomber an, nahm ein Operationsstab der US Air Force in Hanoi die Tätigkeit auf, wurden bereits Zielrouten erkundet. Der amerikanische Plan wurde international ruchbar und konnte nicht realisiert werden. Mitte April waren die Angreifer trotz verbissener Gegenwehr bis zum zentralen Flugplatz vorgestoßen, über den der Stützpunkt versorgt wurde. Deshalb bot Dulles am 23. April Außenminister Georges Bidault, wie erst später bekannt wurde, zwei Atombomben an. Paris schreckte zurück. In der zweiten Aprilhälfte zog die Volksarmee den Ring um den Stützpunkt immer enger. Am 1. Mai begann ihr finaler Sturm, der Führungsbunker fiel am 7. Mai.
Frankreichs Truppen hatten für den Wahnsinn einen hohen Preis gezahlt. 8.200 Mann wurden als tot oder vermisst gemeldet, 10.300 hatten den Weg in weit entfernte Gefangenenlager anzutreten, etwa 1.600 Mann – vorwiegend Nordafrikaner – waren übergelaufen. Sechs Bataillone der Fremdenlegion, zu 80 Prozent aus Deutschen bestehend, waren aufgerieben. Vietnams Armee machte enorme Kriegsbeute. Über ihre Verluste gibt es keine offiziellen Angaben; westliche Quellen beziffern sie auf wahrscheinlich etwa 20.000 Mann.
Nicht in Genf wurde Vietnam geteilt
Nachdem der eskalierende Krieg Anfang 1954 auf sowjetische Initiative zum Thema internationaler Beratungen geworden war, begann am 8. Mai in Genf eine Indochina-Konferenz auf Außenministerebene. Teilnehmer waren die UdSSR, Großbritannien, die USA, die sich im Verlauf zum »Beobachter« der Konferenz degradierten, Frankreich, die VR China, die DRV, die Bao-Dai-Verwaltung sowie die Königreiche Laos und Kambodscha. Die langwierigen, äußerst kontroversen Verhandlungen endeten am 21. Juli mit der Unterzeichnung von Abkommen über die Einstellung der Kampfhandlungen in Indochina und weiterer Dokumente. Am selben Tag ließ USA-Präsident Dwight D. Eisenhower wissen, die USA hätten »nicht teil an den von der Konferenz gefassten Beschlüssen und sind nicht an sie gebunden«.
Die drei Waffenruhe-Abkommen sahen vor, die Beendigung der Kampfhandlungen – wie in der Schlussdeklaration der Konferenz vermerkt – »unter internationale Kontrolle und Überwachung« zu stellen. Die französische Seite sicherte zu, ihre Truppen innerhalb bilateral vereinbarter Fristen aus den drei Ländern abzuziehen. Verboten wurde laut Schlussdeklaration, künftig ausländische Truppen und anderes Militärpersonal, Waffen und Munition nach Indochina zu entsenden oder diese Länder in Militärbündnisse einzubinden. Im Abkommen für Vietnam war vereinbart, die Streitkräfte der beiden kriegführenden Seiten zu separieren und dafür zwei »Umgruppierungszonen« zu fixieren. Festgelegt wurde eine »zeitweilige Demarkationslinie«, die »etwas südlich vom 17. Breitengrad« verlaufen sollte. Die Einheiten der Volksarmee waren nördlich und jene Frankreichs und der Bao-Dai-Verwaltung südlich dieser Linie zu konzentrieren. Die Umgruppierung der Truppen sollte binnen 300 Tagen vollzogen sein.
Laut Schlussdokument sollten in Vietnam »im Laufe des Juli 1956 allgemeine Wahlen unter Kontrolle einer internationalen Kommission durchgeführt werden«. Den »zuständigen repräsentativen Behörden der beiden Zonen« wurde aufgetragen, »ab 20. Juli 1955« darüber zu beraten. Die Genfer Beschlüsse stellten mit keiner Silbe die Einheit Vietnams in Frage. Festgeschrieben wurde nicht die Spaltung des Landes. Die Einrichtung der Umgruppierungszonen war ein rein organisatorischer Akt auf dem Gebiet der militärrelevaten Regelungen. Sie war kein Beschluss, die am 2. September 1945 für das ganze Land proklamierte DRV auf den Landesnorden zu reduzieren und dem Süden eine separate staatliche Neugeburt zu verordnen. Westliche Lesart, dass Genf Vietnam geteilt und zwei Staaten mit unterschiedlichen Regierungssystemen geboren habe, ist fraglos antikommunistischer Grundhaltung geschuldet und entbehrt jeder Grundlage.
Washington zögerte nicht einen Augenblick, die Genfer Vereinbarungen zu hintertreiben. Mit seinem Segen durfte der katholische Intellektuelle Ngo Dinh Diem im Oktober 1955 in dem als Hauptstadt eines südlichen Separatstaats auserkorenen Saigon eine »Republik Vietnam« ausrufen. Weisungsgemäß lehnte Diem wahlvorbereitende Gespräche mit dem Norden und die für Juli 1956 vereinbarten allgemeinen Wahlen rigoros ab. Massive finanzielle und materielle Hilfe der USA für das illegitime Regime und dessen Aufrüstung ließen nicht auf sich warten. Damit hatte Washington mit seinen Vasallen unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass an Frieden in Vietnam noch nicht zu denken war. Es sollten noch zwei Jahrzehnte Krieg, ab Frühjahr 1965 in Form direkter US-amerikanischer Aggression, vergehen. Am 30. April 1975 war Washingtons »Republik Vietnam« Geschichte.
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