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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Vor 30 Jahren starb Erich Honecker

Egon Krenz, Dierhagen

 

Niemand von den Mainstream-Medien wollte 1994 von mir auch nur einen einzigen Satz über das Lebenswerk des langjährigen DDR-Staatsoberhaupts und SED-Generalse­kretärs Erich Honecker veröffentlichen. Selbst langjährige Weggefährten schmähten ihn. Mich haben sowohl sein Tod als auch der Umgang einiger seiner engsten Genossen mit ihm damals betroffen gemacht.

Aus der Situation heraus schrieb ich einen Text, dessen Inhalt – so glaube ich jedenfalls – weiter aktuell ist. Obwohl ich im Politbüro der SED zu den Initiatoren seines Ausschei­dens aus allen Ämtern zählte, vergesse ich nicht, dass er Jahrzehnte einer der aktivsten Kämpfer gegen den deutschen Imperialismus und Faschismus war. Seit seiner Befrei­ung aus der Haft durch die Sowjetarmee ließ er sich von dem Grundgedanken leiten, der auf den Schwur seiner Leidensgefährten von Buchenwald zurück geht: NIE WIEDER KRIEG, NIE WIEDER FASCHISMUS.

Ich freue mich, dass die Mitteilungen den Artikel von 1994 anlässlich des 30. Todesta­ges von Erich Honecker veröffentlichen:

 

Lasst uns in Würde von ihm Abschied nehmen

Zum Tode Erich Honeckers am 29. Mai 1994

Als mich die Nachricht erreichte, dass Erich Honecker in seinem Exil die Augen schloss, stellte ich mir eine Frage, die den aufrichtigen Umgang mit der jüngsten deutschen Geschichte berührt: Wer von deutschen Politikern hätte wohl ganz vorn an seinem Grabe gestanden, wäre Erich Honecker noch zu DDR-Zeiten, sagen wir nach seinem Besuch in der Bundesrepublik 1987, gestorben?

Wahrscheinlich der Bundeskanzler. Er schätzte Honecker, wie er ihm bei einem Zusam­mentreffen am Vorabend der Beerdigung von Tschernenko am 12. März 1985 in Mos­kau sagte, als »Partner, auf den Verlass« sei.

In einem vertraulichen Brief an Erich Honecker hatte Helmut Kohl schon am 24. Okto­ber 1983 bekannt: »Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik tragen vor dem deutschen Volk gemeinsam eine große Verantwortung für die Sicherung des Friedens. ... Deshalb greife ich den von Ihnen gewählten Begriff einer notwendigen Koalition der Vernunft gerne auf.«

Eine Botschaft entgegengesetzten Inhalts erhielt Honecker aus Moskau: Da die West­deutschen neue NATO-Raketen stationieren, haben sie zwischen beiden deutschen Staaten einen Raketenzaun errichtet. Darüber hinweg – so Gorbatschow – dürfen die Deutschen keinen Dialog führen. Honecker widersetzte sich: Die Stationierung sowjeti­scher Raketen als Gegenmaßnahme »löst bei uns keinen Jubel aus«. Er forderte einen »Dialog mit allen, die gegen Raketenstationierung sind«.

Dass es zu keiner neuen Eiszeit zwischen den Blöcken kam, dass Raketen zwar statio­niert, aber nie in Gang gesetzt wurden, dass der Frieden nicht brüchiger, sondern stär­ker wurde, das gehört zum Lebenswerk Erich Honeckers. Eine unvernünftige Politik hätte damals leicht dazu führen können, dass die Deutschen in ein nicht wiedergutzu­machendes Abenteuer gestürzt worden wären.

Als die DDR noch existierte, erkannte man auch in Westdeutschland Honeckers Frie­densleistung an. Die Zeitung DIE WELT veröffentlichte am 26. August 1987 Umfrage­ergebnisse, nach denen 75 Prozent der Bundesdeutschen Honeckers Politik »friedlie­bend« nannten. Sollte man angesichts seines Todes nicht fähig sein, diese auch im einheitlichen Deutschland zu würdigen?

Möglich, dass auch der inzwischen verstorbene Altbundespräsident Karl Carstens an das Honecker-Grab gekommen wäre. Nach ihren Begegnungen bei den Trauerfeierlichkeiten für den jugoslawischen Präsidenten Tito in Belgrad und für Breschnew in Moskau hatten beide Staatsoberhäupter Respekt voreinander. Nicht nur Kommunist, sondern auch deut­scher Patriot sei Honecker, hatte Carstens damals gesagt. Ist das jetzt vergessen?

Exaußenminister Genscher vermied wegen seiner Funktion in der Regel auf deutschem Boden offizielle Kontakte zur DDR-Führung. Doch die Reputation Erich Honeckers auf der internationalen Bühne war ihm wichtig genug, um seit 1985 auf eigenen Wunsch hin regelmäßige Treffen mit einem persönlichen Beauftragten des SED- Generalsekre­tärs durchzuführen, um ihm Dinge zu sagen, die »nur für das Ohr des Staatsratsvorsit­zenden bestimmt« seien. In Vorbereitung wichtiger Bonner Entscheidungen zur Ostpoli­tik lud er Honeckers Beauftragten ein, um den Rat der DDR zu hören oder um Empfeh­lungen zu ihrem Verhalten zu geben. Wäre ein solches Vertrauen eines Deutschen zu einem Deutschen in der Zeit des Kalten Krieges heute nicht ein Beispiel für die ehrliche Aufarbeitung deutscher Nachkriegsgeschichte?

Soweit ich das Verhältnis Strauß-Honecker kenne, glaube ich, auch Franz Josef Strauß wäre Gast der Trauerfeier gewesen. Während Honeckers Besuch am 11. September 1987 in München hatte der CSU-Vorsitzende den DDR-Staatsratsvorsitzenden gelobt: »Die Signale aus der DDR für guten Willen, so die Reisegenehmigungen, die Amnestie für Straftäter, die Abschaffung der Todesstrafe, zu der sich nicht einmal Frankreich habe entschließen können, sind verstanden worden. Herr Honecker, Sie haben Wort gehalten.« Warum soll Strauß plötzlich unrecht gehabt haben?

Ich vermute, auch Helmut Schmidt hätte es sich nicht nehmen lassen, an Honeckers Bei­setzung teilzunehmen. Er weiß besser als jeder andere, was er zusammen mit Honecker an Gutem für beide Staaten auf den Weg brachte, nachdem Wehner, Bahr und Mischnick dafür den Weg bereitet hatten. Schmidt hatte von Honecker den Eindruck »eines Man­nes, der noch immer seinen Jugendidealen nachhing«, Honecker ist ihm weniger »als Funktionär Moskauer Prägung erschienen … Seine Hoffnung auf Entspannung und Abrüs­tung war echt … Je älter er wurde, desto deutscher wurde sein Empfinden«, erinnert sich Helmut Schmidt. Und der Altbundeskanzler erscheint glücklicherweise nicht als einer, der es nachträglich als nötig empfand, sich zu korrigieren. Aus anderem SPD-Mund hörte Honecker noch im Frühjahr 1989 beste Gesundheitswünsche, damit er »im Interesse deutsch-deutscher Kontinuität noch lange in seinen Ämtern bleiben kann.« Da diese Wor­te vom letzten Treffen des damaligen Fraktionsvorsitzenden der SPD, Jochen Vogel, mit Erich Honecker stammen, können sie kaum vergessen sein.

1987 hätte sich auch noch Klaus Bölling ganz nach vorn gedrängt. Er hatte, als dies noch karrierefördernd war, eine differenzierte, in der Gesamtaussage aber treffende Charakteristik Honeckers gegeben. Zum Verhalten der DDR Anfang der 80er Jahre gegenüber ihrem polnischen Nachbarn wusste er zu berichten: »Es ist Honeckers Ver­dienst, dass er sich schließlich auf die Seite derer stellte, die von einer Warschauer oder Danziger Bartholomäus-Nacht immer dringlicher abrieten.«

Natürlich wären auch jene zur Beerdigung gekommen, die im Winter 1990 in der Noch-DDR Honecker Unterkunft verweigerten. Es war ein Trauerspiel, dass sich Genossen, die einem Erich Honecker im Amt zugejubelt hatten, nicht in der Lage sahen, ihm wenigstens ein Dach über den Kopf zu schaffen, als er nach einer schweren Operation das Krankenhaus verlassen musste. Als Obdachloser wurde er von Vertretern der Evan­gelischen Kirche aufgenommen. Kirchenleute gaben ihm und uns allen eine Lektion zum Thema Toleranz und Menschenwürde.

Bei der Trauerfeier hätte der eifrige Pressesprecher der DDR-Staatsanwaltschaft nicht gefehlt, der, als Honecker schon am Boden lag, in einem Buch die antifaschistische Ver­gangenheit seines ehemaligen Generalsekretärs infam ins Zwielicht brachte. Dass sich die Jüdin, die Honecker angeblich bei der Gestapo verraten haben sollte, dann aus Israel mit der Botschaft meldete, Honecker habe ihr das Leben gerettet, wurde nach der Diffamie­rung leider nur noch von wenigen zur Kenntnis genommen. Der Anstand und das bessere Wissen sollten Erich Honeckers antifaschistische Haltung gerade in dieser Zeit ins Licht rücken, in der politischer Machtpoker der Rechten eine neofaschistische Gefahr gebärt.

Erich Honecker hat mir bis zuletzt nicht verziehen, dass ich zu jenen Politbüromitglie­dern gehörte, die ihn 1989 zum Rücktritt aufforderten. Ich tat es in der Überzeugung, dass dies der einzig mögliche Weg sei, um die DDR zu reformieren. Ich war von der Lau­terkeit der persönlichen Ambitionen Erich Honeckers bis zu jenem Zeitpunkt überzeugt, da er wider besseres Wissen an starren Dogmen der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Entwicklung unseres Landes festhielt.

Und dennoch: Nicht alle Fehler lassen sich aus persönlichen Irrtümern erklären. Erich Honecker war ein Mann seiner Zeit, geprägt von den Umständen dieser Zeit. Vieles hat­te er subjektiv anders gewollt. Doch Kalter Krieg und Bündnistreue im Warschauer Pakt setzten Rahmenbedingungen, denen sich auch Erich Honecker nicht entziehen konnte.

Deshalb plädiere ich für ein geschichtlich gerechtes Urteil über das Leben, das Wirken und das Scheitern Erich Honeckers. Es wäre zu billig anzunehmen, Erich Honecker wäre mit dem Vorsatz angetreten: Entweder ein blühender Sozialismus eigener Handschrift oder ein Scherbenhaufen des linken Erbes, falls das Experiment misslingt.

Er wollte den Traum vom Sozialismus – den ihm sein Vater im Saarland ins Bewusstsein gepflanzt hatte, für den er 10 Jahre seiner Jugend in Hitlers Zuchthäusern saß und deretwegen er nach seiner Befreiung nicht in seine westdeutsche Heimat zurückkehrte – in den Farben der DDR verwirklichen.

Vor dem Honecker-Besuch in der Bundesrepublik schrieb Helmut Schmidt: »Auch wenn wir politisch nie Freunde werden können, lasst ihn uns würdig empfangen – empfangt ihn als einen unserer Brüder.«

Diese Logik könnte heute auf dem Boden des vereinten Deutschlands lauten: »Lasst uns in Würde von ihm Abschied nehmen – verabschieden wir ihn als einen unserer Brüder.« Dies wäre für die Glaubwürdigkeit deutscher Politik nicht unwichtig und ein Zeichen wider die Heuchelei.

 

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2022-03: Ausgeschlossen – nicht ausgetreten

2020-06: Ein Widerwort zur Präsidentenrede

2020-05: Gedanken zum Tag der Befreiung