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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Von der eigenen Klasse umgebracht (III und Schluss)

Dr. Gerhard Feldbauer

 

Vor 45 Jahren wurde Aldo Moro ermordet

Vermächtnis eines Reformers

 

Inhalt:

Prolog

1. Soziale Herkunft und politische Haltung

2. Gegner der DC-Rechten

3. Enrico Mattei, ein Großindustrieller gegen Washington

4. Apertura à Sinistra

5. Die faschistische Gefahr

6. Partner des Compromesso storico

7. Berlinguers Rolle

8. Der »Allende Italiens«

9. Die Attentäter

10. Moros Vermächtnis

Epilog

Anhang:

Verwendete Literatur

 

(Fortsetzung von Heft 6/2023: Von der eigenen Klasse umgebracht (II))

8. Der »Allende Italiens«

Moros zweite Öffnung nach links stieß in den USA auf unvergleichlich stärkeren Wider­stand als die erste gegenüber den Sozialisten. Er war erbitterten Angriffen ausgesetzt, die immer öfter in einer regelrechten Mordhetze gipfelten. Während er sich 1974 als Außenmi­nister in Begleitung Staatspräsident Giovanni Leones in Washington befand, wurde offen gedroht, »Italien in ein zweites Chile« zu verwandeln. Präsident Gerald Ford verteidigte die Rolle der USA beim Militärputsch Pinochets, dessen Diktatur die Faschisten in Rom als »Vorbild für Italien« feierten. »Wir haben dort getan, was die Vereinigten Staaten tun, um ihre Interessen im Ausland zu verteidigen«, erklärte Ford. Außenminister Kissinger rechtfertigte zur gleichen Zeit vor dem Kongress die Maßnahmen zur Verhinderung der »Beteiligung der Kommunisten an der Machtausübung in Italien oder anderen Ländern Westeuropas«. [64] Moros Frau Eleonore sagte während der parlamentarischen Untersuchung zum Mord an ihrem Mann aus, dass ihm in Washington gedroht worden war, wenn er seine Zusammen­arbeit mit den Kommunisten nicht aufgebe, werde er es »teuer bezahlen«. Ein hoher Beam­ter habe in Anspielung auf die Ermordung John F. Kennedys und seine Witwe gedroht, dass es sonst »eine Jaqueline in der Zukunft (Italiens) geben« werde. [65] Kissinger äußerte nach der Abreise der Italiener unmissverständlich, dass die CIA »Realitäten zu schaffen« habe. Deren früherer Vize-Direktor und Leiter des zum Geheimdienst gehörenden Center of Stra­tegic and International Studies, Ray Cline, bekräftigte in der »New York Times«, dass die »Situation in Italien durch die Geheimaktivitäten der CIA gelöst werden wird. Wie später ans Licht kam, war eine Tagung des Instituts im April 1976 sich einig, dass es höchste Zeit sei, »entschiedener in Italien einzugreifen«, um einen Regierungseintritt der Kommunisten zu verhindern. [66]

Kissinger verschärfte seine Angriffe auf Moro, wertete dessen Politik als »äußerst negativ«, nannte ihn den »Allende Italiens«, der »Italien in kommunistische Abhängigkeit« steuere. Immer öfter war gezielt von Italien als einem »zweiten Chile« die Rede. Kissingers Bot­schafter in Rom, der Großindustrielle John Volpe, bezeichnete eine Regierungsbeteiligung der IKP als »in grundsätzlichem Widerspruch zur NATO« stehend. Volpes Nachfolger Ri­chard Gardner nannte Moro noch nach dessen Entführung den »gefährlichsten Politiker Italiens«. [67]

9. Die Attentäter [68]

In unserem ADN-Büro in Rom erwarteten wir am 16. März 1978 im Montecitorio, dem Sitz der Abgeordnetenkammer, ab 9 Uhr die Debatte über die Amtseinführung der von Berlin­guer und Moro vereinbarten Kompromiss-Regierung. Es war etwa gegen 9:30 Uhr, als über unseren Fernschreibempfänger die Nachrichtenagentur »ANSA« noch vor der Rundfunk- und Fernsehanstalt »RAI« die erste Meldung über die Entführung Aldo Moros brachte. Der Konvoi aus zwei Fahrzeugen des DC-Führers war auf der Fahrt von seiner Wohnung in der Via di Forte trionfale zum Montecitorio an der im Norden der Stadt liegenden Kreuzung Via Fani-Stresa gestoppt und von einem Kommando der Brigate Rosse überfallen worden. Wei­tere Nachrichten informierten, dass sich der Überfall etwa zwischen 9:05 und 9:15 Uhr ab­gespielt hatte und an ihm etwa neun bis elf Täter beteiligt waren. Vier von ihnen hätten Uniformen der Fluggesellschaft »Allitalia« getragen und von einer geschlossenen Bar aus zahlreiche Salven auf das aus fünf Personen bestehende Begleitkommando Moros abgege­ben. Nur einem war es gelungen, seine Pistole zu ziehen und das Feuer zu erwidern, er habe aber niemanden getroffen. Vier der Polizisten waren sofort tot. Später wurde gemel­det, dass der fünfte während der Operation im Krankenhaus verstarb. Der DC-Vorsitzende war aus seinem Wagen gezerrt und in einen PKW der Entführer, einen FIAT 130, gestoßen worden, der sich vom Tatort entfernte. Wie »ANSA« weiter berichtete, hatten um 10:05 Uhr mehrere Zeitungen eine mit »Brigate Rosse« unterzeichnete Mitteilung erhalten: »Heute Morgen haben wir den Vorsitzenden der Democrazia Cristiana entführt und seine Eskorte, die ›Ledernacken‹ Cossigas [69], eliminiert. Ein Kommunique folgt.«

Der Anschlag gegen Aldo Moro war Höhepunkt der von der CIA inszenierten »Spannungs­strategie«, der Anni di piombo (bleiernen Jahre), die mit allen Mitteln eine Regierung mit den Kommunisten verhindern sollte. Beginnend mit der Entführung am 18. März 1978 und 55 Tage später der Ermordung Moros wurde dieses Mordkomplott in die Tat umgesetzt. Eine aktive Rolle spielte darin MSI-Führer Almirante, der die DC des Paktierens mit den Kommunisten beschuldigte, diese Regierung unfähig sei, »Sicherheit und Ordnung« zu ga­rantieren, das Land »den Kommunisten« ausgeliefert werde. Er forderte den Rücktritt des Staatspräsidenten, die Errichtung eines Präsidialregimes, die Aufnahme von Militärs in die Regierung, die Verhängung des Ausnahmezustandes und den Erlass von Notstandsgeset­zen. [70] Zur gleichen Zeit gaben sich in Washington die MSI-Vertreter die Klinke in die Hand. General Miceli vom Parteivorstand beriet während eines einwöchigen Aufenthaltes allein zwei Tage mit führenden Politikern, hohen Militärs und dem früheren CIA-Direktor Colby, wie die IKP »mit faschistischer Unterstützung« aus der Regierung »zu werfen« sei, schrieb der »Espresso«, in seiner Nr. 17/1978. Man stimmte überein, den NATO-Mechanismus »der geheimen politischen und militärischen Klauseln des Paktes« für Italien »in Gang zu setzen«. [71]

Nach Miceli reiste Almirante an den Potamac. Er rief, wie »Secolo d´Italia« groß aufge­macht am 30. April berichtete, zum »globalen Kampf gegen den Kommunismus« auf und propagierte für Italien die Errichtung eines Regimes, das wie unter Hitler und Mussolini »den Klassenkampf beseitigt«. Die regierungsamtliche Nachrichtenagentur »ANSA« melde­te am 27. April, Almirante habe seine Konzeption »zur Lösung der italienischen Krise« nach »chilenischem Vorbild« vorgelegt und sei auf einem »antikommunistischen Kongress« »mit großer Ehrerbietung« gefeiert worden. Während einer vom MSI organisierten Tagung einer »Europäischen Rechten«, zu der die französische Forces Nouvelles und die spanische Fuerza Nueva gehörten, sprach Almirante über den Kampf, um »den Vormarsch des Kom­munismus aufzuhalten«. Die MSI-Jugendfront klebte Plakate mit Aufschriften wie »Moro verrecke« oder »Moro, es ist Zeit, dass Du stirbst«. [72]

Für den Mord an Aldo Moro werden bis heute die linksextremen Brigate Rosse (BR – Roten Brigaden) verantwortlich gemacht. Die historische Wahrheit ist, dass der DC-Vorsitzende Opfer des von der CIA und italienischen Komplizen inszenierten Mordkomplotts wurde, in dem die BR durch eingeschleuste Agenten zum Werkzeug manipuliert wurden.

Am 9. Mai 1978 gegen zehn Uhr wurde in der Via Caetano in Rom ein roter Renault R4 abgestellt. Seit dem frühen Morgen hatte ein Kradfahrer für ihn eine Parklücke freigehal­ten. Es dauerte noch über drei Stunden, bis man im Polizeipräsidium durch einen anony­men Anruf erfuhr, dass sich im Kofferraum des Renaults die Leiche Aldo Moros befand. Er war in den Kofferraum gezwängt und erschossen worden. Moro trafen elf Kugeln, neun aus einer Maschinenpistole Skorpion mit Schalldämpfer, zwei aus einer Coltpistole 9 m/m ohne Schalldämpfer. Die letzten beiden Kugeln aus der Pistole waren laut Autopsie Gna­denschüsse. Die Obduktion ergab weiter, dass Moro elf Kilo an Gewicht verloren hatte, aber entgegen wiederholten offiziellen Verlautbarungen weder gefoltert noch unter Drogen gesetzt worden war.

Die Via Gaetano liegt im Zentrum von Rom. Nur wenige hundert Meter von dem abgestell­ten R4 entfernt befand sich die DC-Zentrale. Bis zur Abgeordnetenkammer und zum Senat waren es etwa ein Kilometer, und auch der Quirinale, der Amtssitz des Staatspräsidenten, lag nicht weit davon entfernt. Dieses immer schon gut bewachte Viertel war seit der Entführung Moros von einem dichten Polizeikordon umgeben und durch zahlreiche Straßensperren abgeriegelt. Hier sollte der Motorradfahrer unbemerkt etwa drei Stunden in der Nähe seiner Maschine auf den R4 gewartet haben? Der als gestohlen gemeldete Renault sollte unbehelligt sein Ziel erreicht und auch noch drei Stunden dort gestanden haben, ohne Aufsehen zu erregen?

Schon das musste neben zahlreichen bereits unmittelbar nach der Entführung bekannt ge­wordenen Fakten verdeutlichten, dass die BR nicht die alleinigen Täter waren, sondern hin­ter ihnen mächtige Hintermänner agierten. Ihre Rolle kam ans Licht, als 1981 die von dem früheren Mussolini-Faschisten Licio Gelli in Zusammenarbeit mit der CIA und den italieni­schen Partnern gebildete Freimaurerloge P2 aufgedeckt wurde. Sie war die Zentrale, die das Komplott gegen Moro inszenierte und leitete. Im Rahmen der Spannungsstrategie war in die Operation die 1990 enttarnte geheime NATO-Truppe Gladio (Kurzschwert) einbezo­gen. Mit der Liquidierung des christdemokratischen Reformpolitikers wollte die P2 einen Colpo bianco (kalten Staatsstreich) einleiten und ein Regime faschistischer Prägung instal­lieren. Hauptmotiv der Beseitigung Moros war, dass er – gegen die von den Faschisten für Italien betriebene »chilenische Lösung« – ein Regierungsabkommen mit den Kommunisten, die 1976 bei den Parlamentswahlen 34 Prozent erreichten, geschlossen hatte. Obwohl die­se Zusammenarbeit die IKP geschwächt und politisch-ideologisch der Großbourgeoisie unterworfen hätte, hatten führende US-Kreise panische Angst, es könnte insbesondere die NATO und ihre Strategie des »Rollback des Sozialismus« durcheinanderbringen. Denn Moro wollte mit Moskau den Austritt Polens aus dem Warschauer Vertrag verhandeln und als Gegenleistung Italiens Ausscheiden aus der NATO bewerkstelligen. Flaminio Piccoli, sein Nachfolger als DC-Vorsitzender, schrieb bereits am 6. August 1978 in der Südtiroler Zei­tung »Alto Adige«, dass Moro »ausgeschaltet wurde, weil er in den letzten drei Monaten in Gesprächen mit Amerikanern und den Russen seine Fähigkeit gezeigt hat, Initiativen zur Herstellung des nationalen Ausgleichs zu ergreifen«.

Bei der Untersuchung des Attentats durch eine Parlamentskommission kam ans Licht, dass Mitglieder der P2 »in den hohen Rängen des Militärs, der Geheimdienste, der Presse­welt, der Finanzen, der Politik« saßen, darunter 43 Generäle, die gesamte Führungsspitze der Geheimdienste, der komplette Generalstab des Heeres, etwa 400 hohe Offiziere, drei Minister und drei Staatssekretäre der Regierung Andreotti. Die Kommissionsvorsitzende, Tina Anselmi, stellte fest, dass in den mit der Fahndung befassten Stäben 57 P2-Mitglieder saßen, darunter fünf direkt im Krisenstab von Innenminister Cossiga, die alle Maßnahmen, welche zur Befreiung des DC-Vorsitzenden hätten führen können, verhinderten. Vertuscht wurde, dass 39 der am Tatort gefundenen Patronenhülsen aus Beständen der Spezialmuni­tion für Gladio-Einheiten stammten. Schon am 18. März 1978 verbreitete die römische »Repùbblica« die Information eines Geheimdienstoffiziers, dass es sich bei dem Überfall und der Ermordung der Eskorte um »eine militärische Aktion« handelte, die »ein Glanzstück an Perfektion« darstellte, die nur »von Militärs mit ausgetüftelter Spezialausbildung« durch­geführt werden konnte.

Der langjährige Kommandeur der geheimen NATO-Truppe »Gladio«, General Gerardo Serra­valle, bestätigte 1990 nicht nur diese Fakten, sondern enthüllte auch, dass »Gladio«-Ein­heiten an der Umsetzung des Komplotts beteiligt waren, Moro von »Gladio« zeitweise auf einem Stützpunkt bei Rom versteckt worden war. [73] Auch der offizielle Chef der Brigate Rosse, Mario Moretti, räumte ein, in den BR habe es »keine herausragenden Schützen« gegeben. [74]

Den Entführern war die Fahrstrecke Moros bekannt, die täglich wechselte und dem Chef der Eskorte jeweils erst am Morgen mitgeteilt wurde. Am Tatort befand sich der Gladio-Oberst Camillo Guglielmi, der den Ablauf beobachtete. Er war der für die Ausbildung der »Stay behind«-Einheiten auf dem NATO-Stützpunkt Cap Marrargiu auf Sardinien verant­wortliche Kommandeur. Dort wurden, wie der Chefredakteur der Zeitschrift »Tempo«, Livio Januzzi, bereits am 14. Juni 1975 auf einer Pressekonferenz in Rom enthüllte, Undercover­agenten für Einsätze in den BR ausgebildet, die Brigadisten anleiteten, wie Kommandoun­ternehmen zur Entführung und Ermordung von Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Justiz durchzuführen sind, wie das gegen Moro. Der leitende Staatsanwalt Giulio Infilesi bil­dete keine Sonderkommission, sondern ermittelte allein, 14 Tage verschleppte er die krimi­naltechnische Rekonstruktion am Tatort; Fotos von den unmaskierten Attentätern und ihren Fahrzeugen, die der Leiter einer KFZ-Werkstatt, der gerade ein Unfallauto fotografier­te, geistesgegenwärtig gemacht hatte, ließ er verschwinden; Hinweisen auf einen BR-Stütz­punkt, die sich später als richtig erwiesen, wurde nicht nachgegangen. Die Druckmaschi­ne, auf der die BR ihre Kommuniqués vervielfältigten, stammte aus einer Geheimdienstab­teilung; der diensthabende Offizier im Polizeipräsidium verschleppte die Auslösung der Fahndung; der Direktor des römischen Fernsprechamtes sorgte nach dem Überfall eine Stunde für den Ausfall der Telefonverbindungen, was die Koordinierung der Fahndung er­schwerte; in den Hosenaufschlägen des ermordeten Moro wurde Sand gefunden, der von den Tolfa-Hügeln nördlich von Rom stammte, wo sich ein Gladio-Stützpunkt befand. Minis­terpräsident Andreotti lehnte Verhandlungen mit den Entführern – bis dahin und danach auch wieder gängige Praxis – ab und lieferte seinen Parteivorsitzenden so dem angedroh­ten Tod aus.

Das Mitglied der Moro-Kommission Senator Sergio Flamigni [75] schrieb in seinem Buch »Das Spinnennetz«, dass die Untersuchungen ergaben, dass »der tatsächliche Chef der Brigate Rosse« der CIA-Agent Corrado Simoni war, der möglicherweise auch für den vatikanischen Geheimdienst Pro Deo arbeitete. Jedenfalls wurde der Agent nach der Beseitigung Moros bei der von Lech Walesa geführten Solidarnosc in Polen für die Untergrundarbeit gegen die kommunistische Regierung eingesetzt. Wie der »Corriere della Séra« am 14. März 1993 schrieb, wurde Simoni zusammen mit dem führenden Pro-Deo-Mann Abbé Pierre nach der Rückkehr aus Polen von Johannes Paul II. in Privataudienz empfangen.

Die Unterwanderung der BR durch die Geheimdienste war nicht allen ihrer Mitglieder be­kannt, darunter auch denen nicht, die Moro im »Gefängnis« bewachten. Das ging aus einer später bekannt gewordenen Äußerung der Brigadistin Laura Braghetti hervor, nach der sie die Aktion abbrechen, den DC-Führer freilassen und einfach abhauen wollten. [76] BR-Chef Moretti setzte in dieser Situation durch, dass Moro umgebracht wurde. Werner Raith, langjähriger Italienkorrespondent, für deutsche Landeskriminalämter häufig als Gutachter tätig, schätzte ein, dass der Mord durch Agenten, die sich »im innersten Kern der Roten Brigaden« befanden, bewerkstelligt wurde. »Ihr Zugriff auf die Entscheidungen geschah nicht mehr auf Umwegen, sondern direkt, nur so ließen sich die Aktionen ständig unter Kontrolle halten.« [77]

Im Oktober 2007 enthüllte Giovanni Galloni, zur Zeit der Affäre Moro dessen Vizesekretär, dass »die Vereinigten Staaten wußten, wo Aldo Moro gefangen gehalten wurde. Und Innen­minister Francesco Cossiga darüber viel mehr wußte, als er in diesen Jahren berichtete«. Galloni bestätigte ebenso die Infiltration der Brigate Rosse, von denen fünf Mitglieder, mehr oder weniger verantwortlich, die Kulisse der geheimdienstlichen Operation bildeten.

Das Verbrechen ist bis heute juristisch nicht aufgeklärt worden, die meisten Ermittlungen verliefen im Sande. Gravierender Fakt: Der Ort, in dem Moro 55 Tage versteckt wurde, ist bis heute unbekannt. Der langjährige Herausgeber des »Manifesto«, Luigi Pintor, hielt dazu im dritten Prozess gegen die BR im Oktober 1983 fest, dass im Ergebnis fünfjähriger Ermitt­lungen, der Verhöre, Gegenüberstellungen, Geständnisse und von 59 Schuldsprüchen nicht herausgefunden worden ist, »wo der Abgeordnete Moro 55 Tage eingesperrt war«. Die Un­tersuchungsbehörden haben auch hier alle aussagekräftigen Indizien und Beweise unbeach­tet gelassen. Es musste sich um ein für die Fahndung »unantastbares« Versteck gehandelt haben, untergebracht auf exterritorialem Gebiet, im Gebäude einer diplomatischen Vertre­tung, das keiner Überwachung unterlag. Raith schrieb: Es habe »nur einen winzigen Kern Ein­geweihter um Moretti (gegeben), die das oder die Verstecke kannten«. [78] Der sozialistische Abgeordnete und Mitglied der Moro-Kommission Luigi Covatta erklärte, dass sie alle schwei­gen, »kann nur eins bedeuten, dass mit dem Gefängnis der gesamte Hintergrund des Falles Moro aufkommen würde«. Das bestätigte auch die Aussage des Generals Romeo vom militä­rischen Geheimdienst SISMI vor der Moro-Kommission: Wenn etwas bekannt würde, »müss­ten sie es teuer bezahlen«. Offensichtlich aus Angst um ihr Leben, gaben sich auch BR-Chef Moretti und seine Anhänger gemäß dieser Linie als die alleinigen Täter aus.

Am 28. März 1978 hatte der Herausgeber des »Osservatore politico«, Mino Pecorelli, dar­auf verwiesen, dass am Tatort einer der Brigadisten getroffen wurde. Der Schütze musste der Begleitpolizist Iozzini gewesen sein, dem es als einzigem gelungen war, seine Waffe zu ziehen. In den Berichten vom Tathergang hatte es geheißen, er traf niemanden. Das wurde offensichtlich verschwiegen, weil es auch zur Fahndung, wo der Verletzte medizinisch ver­sorgt wurde, hätte führen müssen. Brisanter noch war, was Pecorelli über den Fluchtweg der BR mit Moro schrieb. Von der Via Trionfale fuhren die Entführer über die Via Carlo Belli, eine Privatstrasse, deren Einfahrt durch eine Metallkette mit Vorhängeschloß gesichert war, die sie mit einem mitgeführten Bolzenschneider aufbrachen. Ein Zeuge habe in dem 132er Fiat Moro erkannt, der mit einem schottischen Plaid bedeckt war. Ebenfalls in dem Fahrzeug habe der angeschossene Brigadist gesessen. Einige Zeit später bog der FIAT 132 in die Via Licionio ein, wo er von einem weiteren Zeugen gesehen wurde, diesmal ohne Moro in dem Fahrzeug.

Zu meinen Partnern in Rom gehörte der frühere Kommandant einer Partisanenbrigade Pino (Pippo) Frassati, leitender Mitarbeiter am Gramsci-Institut der IKP, der mir bei einem Tref­fen die komplizierte Situation erläuterte. Zwischen der Via Belli und der Via Calvo, die die Brigadisten passiert hatten, befand sich die Via Massimi und in dieser die Residenz des Erzbischofs Marcinkus. Gleich nebenan befanden sich zwei kleine Paläste des Istituto per le Opere religiose, des Instituts für religiöse Werke (IOR), wie die Bank des Vatikans sich sinnigerweise nennt. Die Vatikanbank aber, die Marcinkus viele Jahre leitete, gehörte zum Geflecht von Gellis P2 und der Mafia. Es war deshalb keineswegs Spekulation, sondern reale Möglichkeit, dass die Fahrt des Entführungskommandos bereits an diesem Ort ende­te und sich das »Volksgefängnis« zumindest vorübergehend dort befand oder dass da auch nur ein Fahrzeugwechsel vorgenommen wurde, meinte Pippo. Zumal sich der Eingang zur Garage des IOR in der Villa Massimi befand und die Fahrzeugkolonne oder wenigstens das Entführungsfahrzeug rasch verschwinden konnten. Pecorelli hatte geschrieben, dass das betreffende Gebiet Meter für Meter durchkämmt, Moro aber nicht gefunden worden war. Doch ausgenommen von der Durchsuchung waren natürlich auch die unter diplomatischer Immunität stehenden Gebäude des Vatikans.

Pippo unterhielt, offensichtlich aus seiner Partisanenzeit, einen Draht in die Questura, das Polizeipräsidium von Rom, und hatte so erfahren, dass der Konvoi der Entführer in der Via Bitossi an der Ecke zur Via Massimi hätte auf eine Sicherheitspatrouille stoßen können. Zwei Polizisten waren dort als ständige Eskorte des Untersuchungsrichters Walter Celenta­no, der als besonders sicherheitsgefährdet eingestuft war, postiert. Sie hätten sich stets unmittelbar bei dem Richter aufgehalten. Am Morgen der Entführung waren sie jedoch ab­gezogen und in die Via Fani beordert worden, die die Brigadisten aber bereits verlassen hatten. [79] Die Entführer hätten so die Via Massimi mit ihrer Geisel ohne Gefahr passieren können. [80]

Als Verstecke Moros wurden neben der Residenz des Erzbischofs Marcinkus die amerikani­sche und die israelische Botschaft in Betracht gezogen. In aufgefundenen BR-Dokumenten war weiter der Palazzo Orsini des Adelssproß Onorato Caetani vermerkt, der sich im hebräischen Viertel befand. Die Caetanis gehörten dem Orden der Cavalieri di Malta an, von dem wiederum 27 Ordensbrüder in der P2 organisiert waren, darunter der Chef des SISMI, Giuseppe Santovito, und dessen Leiter für den Nahen Osten, Oberst Stefano Giovannone, zuständig für Israel. In der Via Caetani, in welcher der R4 mit der Leiche Moros abgestellt wurde, befand sich die Residenz des Botschafters des Ordens der Ritter von Malta, des Prinzen Johannes Schwarzenberg. Der Botschafter und seine Frau kamen kurze Zeit nach dem Mord an Moro bei einem Autounfall ums Leben. Der Diplomat hatte sich mit dem Gedanken getragen, sich zu den Ereignissen zu äußern. [81]

Die BR hatten angekündigt, Moro in ihrem »Volksgefängnis« zu verhören, das auf Tonband aufzunehmen und der Öffentlichkeit zu übergeben, was nie geschah. Ein halbes Jahr nach seinem Tod wurde bei einer Razzia in Mailand lediglich die angebliche Abschrift des »Ver­hörs« in Maschinenschrift gefunden, von dem Tonband fehlt bis heute jede Spur. Den »Ver­hörern« musste eine »Panne« unterlaufen sein. Das Band musste bei der Aufnahme zu­nächst nicht wahrgenommene Töne, Vibrationen, typische Nebengeräusche enthalten, die sich nicht entfernen ließen, die aber das – für die Fahndungskräfte so unauffindbare – Ver­steck identifiziert hätten.

Das sogenannte Memoriale Moros fand der Carabinieri-General Alberto Dalla Chiesa nach Informationen eines V-Mannes im Oktober 1978 bei einer Razzia in einer BR-Wohnung in der Via Monte Nevoso in Mailand. Der General, ein verfassungstreuer Mann, dürfte die Dokumente, bevor er sie weitergab, nicht nur gelesen, sondern sich auch eine Kopie gefer­tigt haben. Die Seiten, die daraus verschwanden, gaben ihm einen Einblick in die Rolle des Geflechts von P2, Mafia und Staatsapparat bei der Ermordung Moros, machten ihn aber für die Drahtzieher auch zum gefährlichen Mitwisser. Um weitere Ermittlungen anstellen zu können, übernahm Dalla Chiesa im April 1982 den Posten des Anti-Mafia-Präfekten für Sizilien. Am 3. September wurde er mit seiner zweiten Frau, die er gerade geheiratet hatte, und seinem Fahrer in Palermo auf offener Straße erschossen. In seinem Haus wurden aus einem Safe alle Unterlagen entwendet.

Im Januar 1979 verließ die IKP die rechte Regierungskoalition. Der Historische Kompro­miss war, wie Berlinguer auf dem Parteitag im März 1979 eingestand, gescheitert. [82] Es gab keinerlei soziale oder ökonomische Reformen. Statt einer Zurückdrängung der faschisti­schen und rechten Gefahr kam es zu einer Verschiebung der Regierungsachse nach rechts, erhielten in der DC rechte und mit den Faschisten paktierende Kräfte den bestimmenden Einfluss auf die Politik. {83] Der politische Einfluss der IKP ging spürbar zurück. In den folgen­den Jahren verlor sie etwa ein Drittel ihrer 2,2 Millionen Mitglieder. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni 1979 war ihre Stimmenzahl zum ersten Mal seit Kriegsende rückläufig. Sie verlor gegenüber 1976 mit einem Schlag fast vier Prozent ihrer Wähler, bis 1987 rund acht. Das war auch ein Ergebnis der antikommunistischen Hetze, in der die Par­tei als Urheberin des Terrors der BR diffamiert wurde. Der DC gelang es erst drei Monate nach den Wahlen im August 1979, mit den Liberalen eine rechte Zentrumsregierung zu bil­den, die von den Sozialisten durch Stimmenthaltung gestützt wurde.

Es folgte eine Welle der Repression. Sie richtete sich mit aller Wucht vor allem gegen linke und als linksradikal apostrophierte Intellektuelle. Der Jagd auf sie fielen ganze Universitäts­fakultäten zum Opfer. In Padua befand sich darunter fast der gesamte Lehrkörper für politi­sche Wissenschaften, in Mailand der Direktor der Katholischen Universität, Maro Borro­meo. Der angesehene Professor Antonio Negri, wurde angeklagt, Chef der RB zu sein und die Entführung Moros organisiert zu haben. Tausende Linksradikale, viele von ihnen ohne sich eines Vergehens strafbar gemacht zu haben, wurden in die Gefängnisse geworfen, zirka 100.000 Personen von den polizeilichen Ermittlungen erfasst, rund 40.000 angeklagt, etwa 15.000 verurteilt. Es war ein Enthauptungsschlag, von dem sich die Linke bis heute nicht erholt hat, da die Opportunisten ein Jahrzehnt später die IKP in ihrer Mehrheit mit der Umwandlung in die sozialdemokratische Linkspartei PDS beseitigten. Die Versuche, in Gestalt der Rifondazione Comunista (PRC) eine starke Nachfolgerpartei aufzubauen, scheiterten ebenfalls an opportunistischen Eingriffen und führten zur Spaltung in heute vier kommunistische Parteien. [84]

10. Moros Vermächtnis

Moro war 55 Tage den Todesdrohungen seiner Entführer ausgesetzt, die ihn zwingen woll­ten, seine Politik der Zusammenarbeit mit der IKP zu widerrufen. Nach allem, was bekannt wurde, stand Moro für seine Überzeugungen ein, hat nicht nachgegeben und das mit dem Tode bezahlt. Aus einem Brief, den er einen Tag vor seiner Ermordung an seine Frau Eleo­nore schrieb, geht hervor, dass er von seinem bevorstehenden Ende wusste. Im BR-Ge­fängnis hat Moro um seine Befreiung, um sein Leben gekämpft, gleichzeitig seine zeitle­bens verfolgte Politik der Zusammenarbeit mit Sozialisten und Kommunisten verteidigt, mit der er versuchte, der faschistischen Gefahr entgegenzutreten. Als fünfmaliger Ministerprä­sident und mehrmaliger Außenminister besaß Moro natürlich, wenn auch nicht im Detail, Kenntnisse über die Rolle der CIA und der italienischen Geheimdienste, wusste, dass es die NATO-Truppe Gladio gab, und er erinnerte sich gut der Drohungen, die man in Washing­ton immer wieder gegen ihn ausgestoßen hatte. Es war für ihn nicht schwer, zu erkennen, dass die Stunde für ihn geschlagen hatte, er jetzt, wie ihm hohe Beamte aus Kissingers State Department drei Jahre vorher ins Gesicht gesagt hatten, für seine Zusammenarbeit mit den Kommunisten »teuer bezahlen« musste. Und er kannte den Mann, der das Todes­urteil über ihn verhängt hatte: Giulio Andreotti, den zuverlässigsten Erfüllungsgehilfen, den die Amerikaner in Rom hatten.

Den Tod vor Augen rechnete Moro unerbittlich mit dem Rechtskurs seiner Partei, der Re­gierung und allen, darunter selbst dem Papst, ab, die ihn dem Tod auslieferten. Das ge­schah in den Briefen, die er aus der Geiselhaft »nach draußen« übermittelte, in den Ge­sprächen mit den Entführen (von den BR als »Verhör« bezeichnet) und in den Aufzeichnun­gen, die er zu Papier brachte und die später »Il Memoriale di Aldo Moro« genannt und in zensierter Weise veröffentlicht wurden. [85] An DC-Sekretär Zaccagnini schrieb er, dass er »keinem vergeben und niemanden entschuldigen« werde. »Die DC solle nicht glauben, dass sie ihr Problem mit seiner Liquidierung gelöst hätte. »Ich werde ein unumstößlicher Be­zugspunkt für den Protest und das Suchen nach Alternativen bleiben, um zu verhindern, dass man aus der DC das macht, was heute aus ihr gemacht wird.« In einem Brief formu­lierte er, »Mein Blut wird über Euch kommen«. [86] Moro verlangte, dass an seinem »Begräb­nis weder Vertreter des Staates noch Parteifunktionäre teilnehmen.« [87] Er hielt fest, dass die DC »mit dem Rücken zur Wand steht« und »das Regime sich mehr und mehr korrum­piert«. Der »Wille der Kommunisten nach Klarheit und Sauberkeit (könne) nicht mehr durch die Democrazia Cristiana blockiert werden.« Moro führte die Strategie der Spannungen an, »die Italien jahrelang mit Blut überzogen« hatte, verwies auf die »Nachsicht und stillschwei­gende Duldung durch Staatsorgane und einige Sektoren der Democrazia Cristiana«, um dann mit den »außerhalb Italiens liegenden Verantwortlichkeiten« die Rolle der USA zu er­wähnen. »Man kann annehmen, dass mit unserer Politik eng verbundene Länder, die an ei­ner gewissen Richtung der Dinge interessiert sind, auf bestimmte Weise mit ihren Geheim­diensten aktiv sind.« Deutlich benannte Moro, dass seine Politik der Regierungszusammen­arbeit zuerst mit den Sozialisten, dann mit den Kommunisten das Hauptangriffsziel der Spannungsstrategie war. »Die sogenannte Strategie der Spannungen hatte das Ziel, auch wenn sie es glücklicherweise nicht erreicht hat, Italien nach den Angelegenheiten von 1968 und dem heißen Herbst 1969 wieder auf die Gleise der Normalität zurückzubringen.« Viel­leicht hoffte Moro, als er das niederschrieb, noch auf ein gutes Ende seiner Geiselhaft. Denn mit seiner Ermordung wurde dieses Ziel dann, zumindest teilweise, erreicht.

In verhüllter Form sprach Moro die verfassungswidrige Rolle an, welche die geheime NATO-Truppe Gladio nicht zuletzt auch in seinem Fall spielte, wenn er festhielt: »Es ist gewiss eine schwierige Intrige, die es hier zu entwirren gilt und deren Schlüssel vermutlich in einer spezialisierten Organisation, wahrscheinlich jenseits der Grenzen liegt.« Er verwies darauf, »welchen Anteil unsere Politiker daran haben«. Ein vernichtendes Urteil fällte Moro in diesem Zusammenhang über Andreotti, der »zum Unglück unserer Landes (...) an der Spitze der Regierung« stehe. Er zeigte dessen zwielichtige Beziehungen zur Mafia auf, seine Mitwisserschaft an faschistischen Terroranschlägen und – auch hier unter sichtlicher An­spielung auf Gladio – seine schändlichen Machenschaften als Verteidigungsminister. Er be­tonte, dass Andreotti »am längsten die Geheimdienste leitete und über die besten Bezie­hungen zur CIA verfügt«. Schonungslos fasste Moro zusammen: »Ein kalter Regisseur, undurchdringlich, ohne Zweifel an seinem Tun, ohne Herz, ohne jemals einen Funken menschlichen Mitleids. Das ist der Ehrenwerte [88] Andreotti, dem gegenüber die anderen nur gehorsame Ausführende seiner Befehle waren.« Dann traf Moro eine prophetische Vor­aussage, die 14 Jahre später mit der Anklage gegen Andreotti wegen Anstiftung zum Mord und Komplizenschaft mit der Mafia eintraf: »Sie werden sich eine Weile halten können, dann etwas weniger und schließlich werden sie in den traurigen Teil der Geschichte eingehen.«

Enttäuscht äußerte sich der DC-Vorsitzende über seinen Partner im Historischen Kompro­miss, IKP-Generalsekretär Enrico Berlinguer. Er klagte ihn an, dass er ihn, »der sich (Jahre voraus) der Kommunistischen Partei zugewandt hatte, der als einziger Verständnis zwi­schen Christdemokraten und Kommunisten realisiert hat, welches zur anerkannten und vertraglichen parlamentarischen Mehrheit geführt hat (...) jetzt dem Tod ausliefert«. Es war ein Vorwurf, der Berlinguer, auch wenn er sich dazu nie öffentlich äußerte, schwer getrof­fen und bis zu seinem frühen Tod 1984 belastet hat. Der Pragmatiker Moro erkannte den Pragmatismus Berlinguers (dessen Verteidigung der Fermezza und Intransigenza ihm die BR in Zeitungsausschnitten zugänglich gemacht hatten), der ihn opferte, und nun mit Andreotti als Partner versuchte, die Regierungsbeteiligung der IKP zu sichern.

Epilog

Die Ereignisse um den bis heute offiziell nicht aufgeklärten Mord an Aldo Moro rückten wieder einmal in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, als am 17. Januar 2023 der frühere Boss der Bosse der sizilianischen Mafia »Cosa Nostra« Matteo Messina Denaro, der seit seiner Verurteilung zu einer lebenslangen Haftstrafe 1992 flüchtig war, von den Carabinieri in Palermo in einer Privat-Klinik, in der er sich wegen eines Krebsleidens behandeln ließ, verhaftet wurde. Die faschistische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni eilte nach Palermo und feierte das als »einen großen Erfolg des Staates«. Dass der Super-Mafioso 30 Jahre der Fahndung entging und sich die letzten zwei Jahre unbehelligt unter falschem Namen in dieser Klinik aufhalten konnte, scheine vielmehr an den »nie beendeten Staatsmafia-Bezie­hungen zu liegen«, schrieb das linke »Contropiano« einen Tag später in seinem online por­tal. Das Magazin forderte, »Klarheit darüber, was in diesen dreißig Jahren passiert ist und wie es möglich war, dass der letzte exzellente Name der alten Cosa-Nostra-Führung erst jetzt schwerkrank (mit laut Aussagen der Ärzte nur noch einer ›kurzen Lebenserwartung‹) aufgespürt wurde«. Würde dem, was kaum zu erwarten ist, nachgekommen, wäre das ein Stich ins Wespennest der faschistischen Vergangenheit von Giorgia Meloni und ihren Kum­panen. Um das zu verhindern, begann neben der Suche nach versteckten Schätzen und Geld auch eine Suche nach vertraulichen Dokumenten Denaros. [89]

Denn zu den über 30 Morden, die Denaro selbst verübte oder anordnete, befanden sich die Untersuchungsrichter Giovanni Falcone am 13. Mai 1992 und Paolo Borsellino am 19. Juli 1992. Beide wurden umgebracht, weil sie dem Geflecht der Mafia mit der Democrazia Cristiana (DC), den MSI-Faschisten und Geheimdiensten auf der Spur waren. Meloni wollte mit ihrer Gratulation vergessen machen, dass sie mit ihren aus dem MSI – in dessen Jugendfront sie 1992 beitrat und später zur Leiterin wurde – hervorgegangenen Brüdern Italiens knietief in diesem Sumpf steckt. Was sagen die Fakten dazu aus:

Der Mafia-Coup unter Denaro gelang zunächst nur teilweise. Denn gegen die Schlüssel­figur dieses Geflechts, den mehrmaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti, erhob der Staatsanwalt von Palermo Gian Carlo Caselli am 27. März 1993 auf der Grundlage der Ermittlungen Falcones und Borsellinos Anklage wegen Komplizenschaft mit der Mafia. In einem zweiten Prozess in Perugia wurde er der Anstiftung zum Mord an dem Herausgeber des »Osservatore politico«, MinoPecorelli, angeklagt. Der wollte seine Rolle im Mordkom­plott gegen Aldo Moro, an dem das MSI entscheidend beteiligt war, enthüllen und wurde deshalb 1979 von Mafia-Killern, die Andreotti laut Anklage dazu angestiftet hatte, ermor­det. Zu den Enthüllungen Pecorellis hätte gehört, dass Andreotti, wie der römische »Euro­peo« später, am 15. Oktober 1983, aufdeckte, der geheime Chef der faschistischen Putschloge Propaganda due (P2) war, der Zentrale des Mordkomplotts gegen Moro, in der Silvo Berlusconi, der Chef der faschistischen Forza Italia (FI) Mitglied des Dreierdirekto­riums war, und dessen FI heute in Melonis Regierung sitzt.

 

Anhang:

Verwendete Literatur

Bellu, Giovanni Mario; D'Avanzo, Giuseppe: I Giorni di Gladio (Die Tage von Gladio), Rom 1991.

Biscione, Francesco M. (Hg.): Il Memoriale di Aldo Moro rinvenuto in Via Monte nevoso a Milano (Die in der Monte nevoso-Straße in Mailand gefundenen Aufzeichnungen Aldo Moros). Rom 1993.

Braghetti, Laura: Il Prigionéro (Der Gefangene). Mailand 1998.

Cipriano, Antonio e Gianni: Sovranita limitata (Beschränkte Souveränität), Rom 1991.

Curcio, Renato: Mit offenem Blick, Berlin 1997.

Dalla Chiesa, Nando: Delitto imperfetto. ll Generale, la Mafia, La Società italiana (Das unvollkommene Verbrechen. Der General, die Mafia, die italienische Gesellschaft). Mailand 1984.

De Lutiis, Giuseppe:

I Servici segreti in Italia (Die Geheimdienste in Italien. Rom 1991.

Il Colpo di Via Fani (Der Überfall in der Via Fani). Mailand 2007.

    Doni, Gino: Mein Blut komme über euch. Moro oder die Staatsräson. München 1978.

    Faenza, Roberto; Fini, Mario: Gli Americani in Italia (Die Amerikaner in Italien), Mailand 1976.

    Faenza Roberto: Il Malafare (Die verrufenen Geschäfte), Mailand 1978.

    Flamigni, Sergio:

    La Tela del Ragno (Das Spinnennetz), Mailand 1993.

    Trame atlantice. Storia della Loggia massonica segreta P2 (Atlantische Dramen. Die Geschichte der geheimen Freimaurereloge P2). Mailand 1996.

    Il mio Sangue ricadrà su di loro (Mein Blut komme über Euch), Mailand 1997.

    Il Covo di Stato. Via Gradoli 96 e il Delitto Moro (Das Staatsversteck. Die Gradoli-Strasse 96 und das Verbrechen an Moro). Mailand1999.

    Franceschini, Alberto: Das Herz des Staates treffen, Wien 1990.

    Franco, MassLa Telaimo: Andreotti. Visto da vicino (Andreotti. Aus der Nähe gesehen). Mailand 1989.

      Galli, Giorgio:

      Stòria del PCI, Mailand 1993.

      Staatsgeschäfte, Affären, Skandale, Verschwörungen, Hamburg 1994.

        Irnberger, Harald: Die Terrormultis, Wien/München 1976.

        Pecorelli, Francesco; Sommella, Roberto: I Veleni di »OP«. Le »notizie risersavate« di Mino Pecorelli (Die Gifte des »OP«. Die diskreten Nachrichten von Mino Pecorelli). Mailand 1995.

        Raith, Werner: In höherem Auftrag. Der kalkulierte Mord an Aldo Moro. Berlin 1984.

        Scascia, Leonardo: Die Affäre Moro. Frankfurt/M. 1989.

        Seifert, Stefan: Lòtta armata. Bewaffneter Kampf in Italien. Die Geschichte der Roten Brigaden. Amsterdamm 1991.

        Serravalle, Gherardo: Gladio. Rom 1991.

         

        Publikationen des Autors (eine Auswahl)

        Agenten, Terror, Staatskomplott. Der Mord an Aldo Moro, Rote Brigaden und CIA. PapyRossa, Köln 2000.

        Marsch auf Rom. Faschismus und Antifaschismus in Italien. PapyRossa, Köln 2002.

        Aldo Moro und das Bündnis von Christdemokraten und Kommunisten im Italien der 70er Jahre. Essen 2003.

        Berlusconi ein neuer Mussolini? 2. Auflage. Neue Impulse, Essen 2003.

        Die Recherchen des Commissario Pallotta. Warum Aldo Moro sterben musste. Eine Kriminalgeschich­te nach Tatsachen, Erich-Weinert-Bibliothek der DKP Berlin, Heft 11/2011.

        Compromesso storico. Der Historische Kompromiss der IKP und die heutige Krise der Linken. Schrif­tenreihe »Konsequent« der DKP Berlin, Heft 2/2013.

        Geschichte Italiens. Vom Risorgimento bis heute. PapyRossa, Köln 2008, erweiterte und fortgeschrie­bene Auflage 2015.

        Die Niederlage der Linken in Italien und der Renegat Napolitano. Schriftenreihe »Konsequent« der DKP Berlin, Heft 1/2015.

        Geschichte Italiens. Vom Risorgimento zur Gegenwart. PapyRossa, Köln 2017 (Kurzfassung der Ausga­be von 2015).

        Die Strategie Palmiro Togliattis während und nach der Befreiung Italiens vom Faschismus. Schriften­reihe »Konsequent« der DKP Berlin, Heft 1/2018.

        Umbruchsjahre in Italien. Als Auslandskorrespondent in Rom 1973 bis 1979. PapyRossa, Köln 2019.

        Giorgia Meloni und der italienische Faschismus. PapyRossa, Köln 2023.

         

        Anmerkungen:

        [64] Flamigni: Il Tela del‘ Ragno, Il Delitto Moro, Mailand 1993, S. 11 f.; »Unita«, 28. Sept. 1974.

        [65] »Osservatore Politico«, Rom, 13. Sept. 1975; Flamigni, a. a. O., S. 112.

        [66] Regine Igel: Andreotti, Politik zwischen Geheimdienst und Mafia, München 1997, S. 155, 136.

        [67] Flamigni, a. a. O., S. 114 ff.

        [68] Diese meine mit handfesten Quellen belegte Darstellung hat ein gewisser Henning Bölke in der Zeitschrift »Analyse & Kritik« (Ausgabe vom 18.10.2002) nach Erscheinen meines Buches »Agenten, Terror, Staatskomplott. Der Mord an Aldo Moro, Rote Brigaden und CIA« (PapyRossa, Köln 2000) u. a. als »Verschwörungstheorien« diffamiert. Ich habe seinerzeit alle seine Verleumdungen zurückgewiesen. Die Wikimedia-Enzyklopädie Deutschland hindert das nicht, sie weiter zu verbreiten und zu schreiben, Feldbauer betreibe »als ›Italien-Experte‹ eine Fortsetzung seines alten DDR-Journalismus«.

        [69] Des Innenministers.

        [70] MSI-Parteiblatt »Secolo d´ Italia«, 19. März 1978.

        [71] »Panorama«, 662/1978.

        [72] »Il Popolo«, 22. April 1978.

        [73] Serravalle, Gerardo: Gladio, Rom 1991.

        [74] Mario Moretti: Brigate Rosse, Interview von Carla Mosca und Rossana Rossanda, Hamburg 1996, S. 143 f.

        [75] Sergio Flamigni, Mitglied der IKP, später der PDS, hat zum Thema fünf Bücher geschrieben: La tela del Ragno. Il delitto Moro. Mailand 1993. – Trame atlantiche. Storia della Logia massonica segreta P2. Mailand 1996. – Il mio sangue ricadra su di loro. Gli scritti di Aldo Moro, prigioniero delle BR. Mailand 1997. – Convergenze parallele. Le Brigate rosse, i servici segreti e il delitto Moro. Mailand 1998. – Il Covo di Stato. Via Gradoli e il delitto Moro. Mailand 1999.

        [76] »Der Spiegel«, 11/1998; Laura Braghetti: Il Prigionero, Mailand 1998.

        [77] Raith, Werner: In höherem Auftrag, Der kalkulierte Mord an Aldo Moro, Berlin 1984, S. 150.

        [78] Ebd., S. 163.

        [79] »Umbruchsjahre in Italien. Als Auslandskorrespondent in Rom 1973 bis 1979« des Autors, PapyRossa, Köln 2019, S. 118 f.

        [80] Bei der parlamentarischen Untersuchung der Rolle der P2 nach 1981 wurde bekannt, dass die Weisung vom diensthabenden Polizeikommissar Esposito in der Questura kam, der Mitglied der P2 war.

        [81] Flamigni: Konvergenze parallele, S. 135 ff.

        [82] »Unita«, 31. März bis 3. April 1979.

        [83] Flamigni, 1996, passim.

        [84] Das sind der Partito della Rifondazione Comunista (PRC), der Partito Comunista Italia (PCI), der Partito Comunista dei Lavoratori (PCL) und der Partito Comunista (PC). Siehe Feldbauer: Giorgia Meloni, a. a. O., Anhang.

        [85] Biscione, Francesco (Hg.): Il Memoriale di Aldo Moro rivenuto in Via Monte evoso a Milano, Rom 1993.

        [86] Flamigni hat diese Worte als Titel bei der Herausgabe der Briefe Moros genommen. »Il mio sangue ricadrà su di loro«.

        [87] Doni, Gino: Mein Blut komme über Euch, Moro oder die Staatsraison, München 1978, S. 133.

        [88] Ehrenwerter (Onorévole), Anrede für Abgeordnete.

        [89] »ANSA«, 18. Januar 2023.

         

        Mehr von Gerhard Feldbauer in den »Mitteilungen«: 

        2023-06: Von der eigenen Klasse umgebracht (II)

        2023-05: Von der eigenen Klasse umgebracht (I)

        2022-11: Am 28. Oktober 1922 kam der faschistische Diktator Benito Mussolini an die Macht