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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Von der eigenen Klasse umgebracht (I)

Dr. Gerhard Feldbauer

 

Vor 45 Jahren wurde Aldo Moro ermordet

Vermächtnis eines Reformers

 

Inhalt:

Prolog

1. Soziale Herkunft und politische Haltung

2. Gegner der DC-Rechten

3. Enrico Mattei, ein Großindustrieller gegen Washington

4. Apertura à Sinistra

5. Die faschistische Gefahr

6. Partner des Compromesso storico

7. Berlinguers Rolle

8. Der »Allende Italiens«

9. Die Attentäter

10. Moros Vermächtnis

Epilog

Anhang:  Verwendete Literatur

 

Prolog

Aldo Moro ist als führender Repräsentant des linken Flügels der Partei Democrazia Cristia­na (DC) mit seiner Regierungszusammenarbeit zunächst mit Sozialisten, später mit Kom­munisten zweifelsohne der bekannteste bürgerliche italienische Reformer der Nachkriegs­zeit. Am 9. Mai 1978 fiel er einem Mordkomplott zum Opfer, dessen Drahtzieher reaktionä­re Kreise in Washington und Rom waren, die damit seine Zusammenarbeit mit der Kommu­nistischen Partei (PCI) unter Generalsekretär Enrico Berlinguer auf Regierungsebene zum Scheitern brachten. Die Erinnerung an den 45. Todestag Aldo Moros wird dieses Jahr in Italien besondere Aufmerksamkeit finden, weil es im »Compromesso storico« (»Histori­scher Kompromiss«) mit Berlinguer um die Bildung einer breiten Volksfront – der Kommu­nisten, Sozialisten und katholischen Volkskräfte – zur Verhinderung eines faschistischen Machtantritts ging. Nach dem Scheitern dieser antifaschistischen Einheitsfront gelang es 1994 den Faschisten der Forza Italia (FI) des Medien-Tycoon Berlusconi, mit dem 1946 als Nachfolger der Mussolini-Partei gebildeten Movimento Sociale Italiano (MSI) und der ras­sistischen Lega eine Regierung zu bilden, die mit Unterbrechungen bis 2011 währte. Im September 2022 haben dieselben Kräfte in Gestalt der von der aus dem MSI hervorgegan­genen Brüder Italiens (FdI) von Giorgia Meloni geführten faschistischen Allianz aus dersel­ben FI und der Lega erneut die Parlamentswahlen gewonnen und am 22. Oktober – 100 Jahre nach dem Marsch Mussolinis im Oktober 1922 auf Rom, der Errichtung der faschisti­schen Diktatur, die bis 1945 dauerte – eine Regierung gebildet. [1] In jüngster Zeit melden sich Kommunisten und Linke zu Wort, um die Erfahrungen Berlinguers im Kampf gegen den Faschismus aufzugreifen, um sie im Widerstand gegen die faschistische Regierung unter Meloni zu nutzen. Er sei ein Kommunist, der für »eine Gesellschaft, in der Arbeiter und Arbeiterinnen entscheiden, was und wie produziert wird«, kämpfte, und Kommunisten und andere Linke sollten an seiner »demokratischen Alternative« – einer Zusammenarbeit und Verständigung der Volkskräfte kommunistischer und sozialistischer mit denen katholischer Inspiration – anknüpfen, schrieb das kommunistische Magazin »Contropiano« zu seinem 38. Todestag am 13. Juni 2022. Denn die Aufgabe könne nur darin bestehen, ein – wie vor 45 Jahren von Berlinguer und Moro verfolgtes ähnliches Bündnis aller Volkskräfte gegen den Faschismus zu bilden. Das umso mehr, als derzeit die Möglichkeiten bzw. die Bereit­schaft dazu in Italien kaum gegeben scheinen.

Ähnlich ist die Lage in Deutschland, mit der in der DKP bekannten Situation, einer weiteren Splitterpartei KPD und linken Grüppchen mit kommunistischem Anspruch und einer Partei DIE LINKE, die aus dem opportunistischen Chaos keinen Ausweg findet, in der trotzdem die KPF nicht aufgibt und eine Hoffnung ist. Auch hier kann die Schlussfolgerung nur darin bestehen, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, auf die Arbeiterkämpfe, die Friedens­bewegung, den antifaschistische Widerstand, aber auch auf das Festhalten an demokrati­schen Traditionen unter den verschiedensten Vertretern der Intelligenz und bürgerlicher Kräfte zu setzen. Auch wenn viele von ihnen keine entschiedenen antikapitalistischen Posi­tionen beziehen, vermitteln sie letztendlich die Hoffnung, dass sie die Zukunft ihres Landes so wie bisher nicht hinnehmen werden. Diese Hoffnung hat ihre Basis in der Mehrheit der arbeitenden Menschen, die sich nicht ewig damit abfinden wird, dass sie von Vertretern des Kapitals, ob aus der SPD mit Liberalen und Grünen oder CDU-Bündnissen regiert und immer mehr von ihnen zur Armut verdammt werden. Es wird der Tag kommen, wo sie dem menschenfeindlichen System ein Ende bereiten und eine sozial gerechte Gesellschafts­ordnung errichten werden. Der 1997 verstorbene DDR-Wissenschaftler Jürgen Kuczynski sagte dazu in seinen Spätschriften »Asche für Phönix« über Aufstieg, Untergang und Wie­derkehr neuer Gesellschaftsordnungen: Wir bleiben »der Idee des Sozialismus treu«. Und zwar nicht nur, »weil wir Marxisten sind«, sondern weil uns die Erfahrungen der Geschichte die Erkenntnis vermitteln, die durch die heutige gesellschaftliche Entwicklung bestätigt werden, dass »nur eine sozialistische Lösung der sozialen Frage in unserer Epoche existiert«. Diese Gesellschaftsformation werde, wenn möglicherweise unter einem anderen Namen, »den Sieg davontragen«. Darauf zielte auch der Titel »Asche für Phönix«, mit dem er der Gewissheit Ausdruck gab, dass der Sozialismus aus seiner Asche hervorsteigen wird. [2]

Ein weiterer Gesichtspunkt ist, und auch das dürfte nicht nur auf Italien zutreffen, zu ver­folgen, wie die reaktionärsten Kräfte des Imperialismus schon immer auf den Faschismus setzten, um ihre Herrschaft zu sichern und Kommunisten und Linke, selbst Sozialdemokra­ten und Reformer auf den Positionen des Kapitals, auszuschalten.

Kommunisten haben – entgegen anderslautenden Unterstellungen – Reformen immer große Bedeutung beigemessen. Und hier sollte aus dem theoretischen Reservoir Lenins geschöpft werden, der einen Verzicht »auf den Kampf für die Durchsetzung von Reformen« grundsätzlich ablehnte. Er bezeichnete sie als »ein Hilfsmittel für den Klassenkampf«, betonte, sie seien nicht mit Reformismus zu verwechseln, müssten sich im Gegenteil auch »gegen die Opportunisten richten«, denen man auf diesem Gebiet nicht das Feld überlas­sen dürfe. [3] Gleichzeitig bejahte er, dass »Anhänger der proletarischen Revolution Kompro­misse oder Abkommen mit Kapitalisten schließen«. Dabei komme es darauf an, »durch alle Kompromisse hindurch die revolutionäre Taktik und Organisation, das revolutionäre Bewusstsein, die Entschlossenheit, Erfahrenheit der Arbeiterklasse und ihres organisierten Vortrupps, der kommunistischen Partei, zu bewahren, zu festigen, zu stählen, weiterzuent­wickeln.« [4]

Reformistische Konzepte, für die sich unter Vertretern liberaler oder flexibler Kreise der Bourgeoisie in Krisensituationen Befürworter fanden, stießen allerdings meist auf den Widerstand der rechten, vor allem der reaktionärsten Kreise des Kapitals, die sie meist verhinderten. In nicht wenigen Fällen geschah das durch die physische Liquidierung der Reformer. Obwohl selbst für flexible oder liberale bürgerliche Politiker die kapitalistische Gesellschaftsordnung generell die Grundlage von Reformen darstellte. Ihr Ziel war, mit Sozialdemokraten bzw. Sozialisten oder anderen Reformisten eine Zusammenarbeit zu erreichen, um Krisen ihres Systems zu begegnen und es zu festigen oder ihm auch auf ein­zelnen Gebieten günstigere Bedingungen zu verschaffen. Was das Schicksal diesbezügli­cher Reformer betrifft, sei an Matthias Erzberger oder Walter Rathenau in der Weimarer Republik erinnert, die in außenpolitischen Fragen versuchten, Reformen der Regierungspo­litik durchzusetzen. Zu ihnen ist sicher auch John F. Kennedy zu rechnen, der einige zaghaf­te reformähnliche Zugeständnisse im Inneren der USA ins Auge fasste. Ein ähnliches Schicksal erlitt der bürgerlich-liberale Olof Palme.

Der nach 1945 entstandenen faschistischen Gefahr entgegenzutreten, war wesentliches Ziel, das IKP-Generalsekretär Enrico Berlinguer und der Vorsitzende der Democrazia Cris­tiana (DC), Aldo Moro, verfolgten, als sie Mitte der 70er Jahre das Compromesso stòrico genannte Abkommen über eine Regierungszusammenarbeit schlossen. Bei seiner Wertung sind allerdings einmal historische Unterschiede zu beachten und zum anderen, dass Berlin­guers Konzept der sogenannte Eurokommunismus zugrunde lag, der eine Absage an grundlegende Fragen des Leninismus und selbst des Marxismus einschloss. Die IKP gab wesentliche, für den perspektivischen Kampf einer kommunistischen Partei charakteristi­sche Positionen auf.

Ich möchte einfügen, dass ich mit meiner Frau Irene, die als Foto-Reporterin arbeitete, für die Nachrichtenagentur »ADN« der DDR von 1973 bis 1979 in Rom tätig war, Aldo Moro bei zahlreichen offiziellen Anlässen wie Staatsempfängen oder als Redner in Parlaments­debatten persönlich kennen lernte. Es war für mich menschlich sehr ergreifend, miterleben zu müssen, wie er seine Treue zu demokratischen Traditionen und sein Bekenntnis zur Zusammenarbeit mit den Kommunisten mit dem Leben bezahlte. Ihm habe ich unter ande­rem die 2003 geschriebene Schrift »Aldo Moro und das Bündnis von Christdemokraten und Kommunisten im Italien der 70er Jahre« [5] gewidmet. Aldo Moro ist auch die Hauptfigur meiner Kriminalerzählung »Warum Aldo Moro sterben musste. Die Recherchen des Com­missario Pallotta«, deren fiktive handelnde Personen ebenfalls meinem Freundes- und Bekanntenkreis in Rom entnommen sind. [6]

Mit dem Mord an Moro wurde nicht nur der Linken, sondern auch der traditionell nach Links tendierenden bürgerlichen Mitte jene bis in die Gegenwart reichende schwere Nie­derlage beigebracht, die den Vormarsch der Rechten und Faschisten bis ins 21. Jahrhun­dert ermöglichte, wovon der letzte Akt, die Bildung einer Regierung unter der Führerin der FdI Meloni mit Faschisten zeugt.

Was die USA und ihre CIA betrifft, hat sich bis heute grundsätzlich nicht das Geringste geändert. Unverändert wird auf Drohungen, Gewalt, Mord und Terror gesetzt. Die Beispiele dafür reichen von der Haltung gegenüber China und Russland über die Haltung zur Ukrai­ne, zu Afghanistan, Syrien und den Palästinensern bis zu Kuba und Venezuela. Nicht zu vergessen, die Bundesrepublik ist immer mit dabei. [7] Es dürfte genügen, daran zu erinnern, dass in der Ukraine im Krieg mit Russland – von den USA gefördert und von der EU unter­stützt – der am Leben erhaltene Bandera-Faschismus [8] eine aktive Rolle spielt, die 2. Panzer­division der SS »Das Reich«, die Charkow 1943 »befreite«, heute in der Ukraine verehrt wird, es »starke Verbände von Rechtsradikalen«, darunter das bekannte »Asow«-Regiment, gibt, insgesamt diese rechtsextremen Gruppen »ungefähr 100.000 Kämpfer stark« sind, dass die nach dem Sturz von Wiktor Janukowitsch 2014 gebildete neue Regierung aus dieser »natio­nalistischen extremen Rechten« hervorgegangen ist, deren erste Amtshandlung das »Verbot des Russischen« war, und diese Gefahr »nicht einfach eine Erfindung« der Russen ist. [9]

1. Soziale Herkunft und politische Haltung

Der 1916 in der Kleinstadt Maglie im südlichen Apulien geborene Aldo Moro kam aus den einfachen Verhältnissen einer ländlichen Pädagogenfamilie. Der Vater war Schulinspektor, die Mutter Elementarschullehrerin. Der sehr begabte Schüler studierte Jura an der Univer­sität von Bari, an der er anschließend promovierte, sich habilitierte und später eine Profes­sur für Strafrecht übernahm. Seit 1943 gehörte er der DC an. In Moros Bewusstsein hatte sich das einheitliche nationale Handeln während der Resistenza tief niedergeschlagen. Davon ausgehend ging es ihm während seiner Regierungszeit und als DC-Vorsitzender darum, seiner Partei und damit dem kapitalistischen Gesellschaftssystem, das sie verkör­perte, eine stabile Regierungsmehrheit zu verschaffen. Das hielt er nur durch die Einbezie­hung zunächst der Sozialisten und später der Kommunisten für möglich. [10]

Moro reifte frühzeitig zu einem außerordentlich fähigen Politiker mit Realitätssinn für die Probleme des eigenen Landes als auch internationaler Fragen heran. Er galt als volksver­bunden und war, geradezu ein Novum in der italienischen Politik, niemals in einen Beste­chungsskandal verwickelt. 1946 in die Konstituante gewählt, gehörte er danach bis zu sei­nem Tod ununterbrochen der Abgeordnetenkammer an. Er stand fünfmal der Regierung vor, wurde 1948 das erste Mal zum Staatssekretär ernannt, danach mehrmals zum Außen­minister und Chef anderer Kabinettsressorts. Für die 1979 anstehenden Präsidentenwah­len galt er als aussichtsreichster Kandidat seiner Partei.

Als Gegner der NATO blieb er am 27. März 1949 demonstrativ der Parlamentssitzung fern, die den Beitritt beschloss. Der Ministerpräsident De Gasperi schloss ihn deswegen aus dem Kabinett aus. Viele Politiker hielten seine Karriere für beendet. Die DC bezahlte je­doch bei den Parlamentswahlen 1953 den pro-atlantischen Kurs De Gasperis mit einer schweren Niederlage. Von 48,5 Prozent (1948) sackte sie auf 40,1 ab. Während De Gaspe­ri abdankte, kehrte Moro in die Politik zurück und 1955 in die Regierung. Vor den Wahlen hatten die DC-Rechten einen Gesetzentwurf für eine Rückkehr zum reaktionären Mehr­heitswahlrecht eingebracht, der in verblüffender Weise dem ähnelte, mit dem Mussolini sich 1924 in einer betrügerischen Scheinwahl eine Mehrheit gesichert hatte. Der Entwurf sah vor, der Parteienkoalition (die DC wollte im Bündnis mit Sozialdemokraten, Liberalen und Republikanern antreten), die über 50 Prozent erreicht, zwei Drittel aller Parlaments­sitze zuzusprechen. [11] Das Gesetz scheiterte am entschiedenen Widerstand, den vor allem IKP und ISP organisierten.

Als Moro 1963 den ersten Auftrag zur Regierungsbildung erhielt, setzte er die erste aper­tura à sinistra (Öffnung nach links) durch und nahm die 1947 von De Gasperi mit den Kom­munisten ausgeschlossenen Sozialisten wieder in das Kabinett auf. Die Parlamentswahlen 1976 stürzten die DC erneut in die Krise. Sie selbst konnte zwar ihre Stimmen halten, aber die Sozialisten, die sich in der Regierung verschlissen, erreichten nur noch 10,2 Prozent, während die der IKP sprunghaft um 7,3 auf 34,4 Prozent anstiegen. Als DC-Vorsitzender begann Moro nun, die Kommunisten in die Regierungszusammenarbeit einzubeziehen. Gegen die von 12,6 Millionen Italienern gewählte IKP konnte das Land, so Moros Meinung, nicht mehr regiert werden. Das von ihm mit Berlinguer über die Regierungszusammenar­beit geschlossene Abkommen ging als Compromesso stòrico in die Geschichte ein. [12]

2. Gegner der DC-Rechten

Seit der Berufung De Gasperis 1947 zum Ministerpräsidenten führte die Democrazia Cris­tiana (DC) als großbürgerliche Partei, bis sie 1992/93 im Korruptionssumpf unterging, fast ununterbrochen die Regierungen an.Sie entstand unter dem Namen Partito Popolare Italiano (PPI) im Juni 1919 auf Initiative des Priesters Don Luigi Sturzo, um auf der Grundla­ge der Verankerung im Katholizismus und eines klassenübergreifenden Konzepts eine gegen die sozialistische Arbeiterbewegung gerichtete Partei der Mitte zu schaffen. Dank der Unterstützung des Vatikans gelang es ihr, vor allem mittelständische Schichten und Bauern zu gewinnen und bei den Wahlen im November 1919 mit 20,6 Prozent den dritten Platz zu belegen. Während die Kurie, die Mussolinis Marsch auf Rom befördert hatte, auch danach eine wichtige Stütze seiner Regierung blieb, bildete sich in der PPI ein antifaschis­tischer Flügel heraus. Auf Betreiben des Vatikans wurde Don Sturzo entmachtet und die Volkspartei 1925 für aufgelöst erklärt. [13] Der nach dem Mord an dem Sozialistenführer Giacomo Matteotti im Juni 1924 wachsende antifaschistische Widerstand zwang den Vati­kan zum Lavieren. Offiziell würdigte er »die feste Haltung des Duce«, musste aber gleich­zeitig verfolgten Funktionären der PPI Zuflucht gewähren. Mit De Gasperi an der Spitze existierte die Volkspartei in Rudimenten de facto weiter und wirkte unter dem Dach der legalen Azione Cattolica, in der sich unter dem bedeutendsten katholischen Sozialtheoreti­ker Giorgio La Pirra ein starker linker Flügel herausbildete.

Im Oktober 1942 in Democrazia Cristiana umbenannt, wurde die Partei zum Sammel­becken der großbürgerlichen Politiker, die mit Hitlerdeutschland brechen wollten. Nach dem Sturz des »Duce« im Juli 1943 gehörte die DC dem Nationalen Befreiungskomitee (CLN) an und trat mit IKP, ISP und anderen Oppositionsparteien 1944 in die antifaschisti­sche Einheitsregierung ein. Ihre Verankerung im Katholizismus, aber auch ihr antifaschisti­sches Image und eine bis in die 70er Jahre hinein starke linke Strömung sicherten der DC, wenn auch mit einem schrumpfenden Wähleranteil von 48,5 Prozent (1948) auf 29,2 (1992), eine Massenbasis auch unter den Arbeitern.Neben zwischen den Fronten lavierenden Strömungen bildete sich nach 1945 ein starker rechter und ein linker Flügel heraus. Durch den Übertritt zahlreicher Mussolini-Faschisten in die DC entstand ein schwarzerRand.Vor allem, aber nicht nur, von diesem ging das Paktieren von DC-Rechten mit dem 1946 als Nachfolger der Partei Mussolinis gebildeten Movimento Sociale Italiano (MSI) aus.

Der reaktionäre Kurs der DC-Rechten zeigte sich im Paktieren mit den MSI-Faschisten. 1950 empfingen Staatspräsident Einaudi und Ministerpräsident De Gasperi eine Delegati­on der MSI-Führung. 1953 erhielt das Kabinett Pella eines zur DC gewechselten Mussolini-Faschisten, 1957 die Regierung Zoli und danach die Regierung von Antonio Segni nur mit den Stimmen der MSI die erforderliche Mehrheit. 1960 versicherte sich Fernando Tambro­ni, ein früherer Hauptmann der Miliz der RSI [14], seit 1926 Mitglied der Mussolinipartei und nunmehriger Ministerpräsident der DC, der Unterstützung seiner faschistischen Kumpane. 1962 wurde der Bewerber der DC Antonio Segni und 1972 Giovanni Leone nur mit den Stimmen des MSI zum Staatspräsidenten gewählt. Der PPI-Gründer Don Sturzo rief 1952 die DC und die anderen bürgerlichen Parteien auf, zusammen mit dem MSI und den Mon­archisten einen Einheitsblock gegen die »rote Machtübernahme« zu bilden. [15]

Die DC zeigte sich erkenntlich. Pella empfing 1953 eine Delegation der CISNAL-Gewerk­schaft, und Zoli genehmigte der MSI, den Leichnam Mussolinis in dessen Heimatort nach Predappio zu überführen und dort in einem Ehrenhain beizusetzen. Die Feiern gestalteten sich zu einer Verherrlichung Mussolinis und der unter seinem Regime begangenen Verbre­chen. Die Witwe des Diktators erhielt eine Rente bewilligt, während sie Antifaschisten und Verfolgten des Mussoliniregimes in unzähligen Fällen verweigert wurde. Das MSI-Blatt »Sècolo d’Italia« bekam offizielle Staatszuschüsse.

Stärker als auf zentraler Ebene konnte das MSI in den Parlamenten der Regionen und Pro­vinzen sowie in Städten und Gemeinden vor allem im Mezzogiorno, dem Süden des Lan­des, Fuß fassen. Ihre Wahlergebnisse wuchsen 1972 in vier Regionen auf 15 und mehr Prozent an. In 47 von insgesamt 100 Provinzhauptstädten war sie in den Parlamenten mit Ergebnissen zwischen zehn und 35 Prozent vertreten. In den Regionen Kampanien, Apu­lien, Sizilien und Sardinien regierte die DC mehrere Legislaturperioden mit der MSI oder erhielt deren Unterstützung. In fast allen Provinzstädten sowie in 1.500 Städten und Gemeinden war die MSI mit etwa 40.000 Ratsmitgliedern vertreten. In über 100 Städten und Gemeinden stellte sie die Bürgermeister, und in zahlreichen weiteren wurden die Stadtoberhäupter der DC mit ihren Stimmen gewählt. [16] Auf zentraler Ebene belegte die MSI mit Stimmen zwischen 5,9 und 6,8 Prozent, zeitweise auch zirka neun Prozent [17] den vierten Platz im Parlament, ehe sie 1994 mit 13,4 Prozent den dritten erreichte. Um das Paktieren zu kaschieren, legte DC-Innenminister Mario Scelba ein Gesetz (Legge Scelba) vor, nach dem das MSI und seine paramilitärischen Organisationen gemäß der Verfassung aufgelöst werden sollten. [18] 1952 verabschiedet, wurde es nie gegen die MSI angewendet.

Zur Wahrung eines Restes von antifaschistischem Konsens einigten sich die bürgerlichen Parteien mit der IKP und ISP darauf, das MSI an keiner zentralen Regierung zu beteiligen. Man sprach von den Parteien des Arco Costituzionale, von dem das MSI ausgeschlossen blieb. Der Verfassungsbogen erwies sich – lange, bevor er im April 1994 mit der erstmali­gen Aufnahme des MSI in die Regierung Berlusconis auseinanderbrach – als ein brüchiger Konsens, der dazu diente, die Gefahr des Faschismus zu verdecken.

Maßgeblicher Repräsentant des rechten DC-Flügels wurde der siebenmalige Ministerpräsi­dent und Senator auf Lebenszeit Giulio Andreotti. Vom Image seiner Teilnahme an der Resistenza profitierend stand er mehrfach auch an der Spitze linker Zentrumsregierungen und konnte sich so lange Zeit als Mann der Mitte und des Ausgleichs vorstellen. Der Gewährsmann Washingtons, Vertraute des Vatikans und Komplize der Mafia stieg zur Schlüsselfigur des Mordkomplotts gegen Moro auf. Während seiner Amtszeit als Verteidi­gungsminister (1956-62) erfolgte der Aufbau der CIA-geführten geheimen Nato-Truppe Gladio, die bei allen Putschversuchen zur Errichtung eines Regimes faschistischen Typs die Fäden in der Hand hielt. Als Zentrale der Umsturzaktionen fungierte die ebenfalls von der CIA geschaffene Geheimloge Propaganda due (P2). Während an ihrer Spitze formell der Altfaschist und Geheimdienstagent Mussolinis Licio Gelli stand, galt als ihr eigentlicher Chef Andreotti. [19] Am 27. März 1993 wurde Andreotti wegen Komplizenschaft mit der Mafia angeklagt. Ein zweiter Prozess folgte in Perugia wegen Anstiftung zum Mord an dem von Mafia-Killern erschossenen Herausgeber des »Osservatore politico«, Mino Pecorelli, der angekündigt hatte, dessen Rolle bei der Ermordung Moros zu enthüllen. Unter anderem wurde bekannt, dass die »Ehrenwerte Gesellschaft« auf Betreiben Andreottis der DC in Süditalien jahrzehntelang Wählerstimmen beschafft hatte, wofür angeklagten Mafiosi Straffreiheit garantiert wurde. Im Verfahren in Perugia wurde Andreotti zu 24 Jahren Gefängnis verurteilt, 1999 in der Revision freigesprochen, was der Kassationshof 2003 bestätigte. In Palermo gab es einen Freispruch »zweiter Klasse« wegen Mangels an Beweisen. Der Einspruch der Staatsanwaltschaft wurde letztinstanzlich 2003 vom Kassationsgericht ebenfalls zurückgewiesen. [20]

Im Ergebnis der Resistenza entstand in der DC in Gestalt einer »Initiativa Democratica« jedoch auch ein starker linker Flügel. Es handelte sich um eine Gruppe, die sich den antifa­schistischen Traditionen verpflichtet fühlte und nach der Niederlage des Faschismus für eine soziale Erneuerung der Gesellschaft auf christdemokratischen Grundlagen eintrat. Aldo Moro gehörte von Beginn an zu ihren führenden Köpfen. Es ging den Erneuerern um antifaschistisch-demokratische Veränderungen, bei denen sie in vielen Fragen mit den Sozialisten und Kommunisten übereinstimmten.

Ihre sozialen Reformen gingen von der kapitalistischen Gesellschaftsordnung aus. Damit wollten sie den in der Arbeiterbewegung vorherrschenden Sozialismusvorstellungen eine christliche Alternative entgegenstellen. Diese Kräfte wendeten sich mehrheitlich gegen den proamerikanischen und auf konservativen Grundlagen von De Gasperi eingeschlage­nen antikommunistischen Kurs der kapitalistischen Restauration als auch gegen die erbit­terte Frontstellung gegen die Linke insgesamt und traten dafür ein, die Regierungszusam­menarbeit mit IKP und ISP fortzusetzen.

3. Enrico Mattei, ein Großindustrieller gegen Washington

Noch vor Moro wurde der Großindustrielle des staatlichen Sektors Enrico Mattei zu einem der führenden Repräsentanten. Der 1906 geborene Mattei, ein Ingenieur und Chemieun­ternehmer, gehörte als Kommandeur einer Partisanenbrigade zu den führenden katholi­schen Antifaschisten. Ferrucio Parri [21] berief ihn zum Regierungsbeauftragten für das Erdöl­unternehmen Agip, aus dem 1953 der staatliche Energiekonzern »Ente Nazionale Idrocar­buri« (ENI) hervorging, der Mattei das Monopol sicherte. Als Präsident der ENI verfügte er über eine strategisch entscheidende Position in der Wirtschaft und als Mitglied der Abge­ordnetenkammer über eine entsprechend politische Funktion.

Mattei weigerte sich, die ENI der Herrschaft der US-amerikanischen Standard Oil unterzu­ordnen. Um Italien aus deren Abhängigkeit zu lösen, schloss er Lieferverträge mit der Sowjetunion, die vorsahen, 30 Prozent des Landesbedarfs zu sichern. Weiteren Verbrauch deckte er durch Abkommen mit arabischen Staaten. Das berührte – von den Profiten, die der Standard Oil entgingen, einmal abgesehen – die Versorgung der in Italien dislozierten NATO-Verbände und der im Mittelmeer operierenden 6. US-Flotte, für welche die ENI zuständig war. Für Washington war Mattei einer »der gefährlichsten Feinde«, seine Energie­politik »eine Bedrohung der amerikanischen wirtschaftlichen und politischen Positionen in Italien und im Nahen Osten«. [22] Mattei trat gegen den italienischen NATO-Beitritt auf, und nachdem dieser erfolgt war, für den Austritt. Eine Anzahl Großindustrieller, darunter FIAT-Chef Agnelli, brachte seinem Kurs bezüglich der wirtschaftlichen Unabhängigkeit Interesse entgegen. Diese Haltung zielte darauf ab, Italien aus der Blockkonfrontation mit dem stän­digen Risiko des Übergangs in eine weltweite militärische Auseinandersetzung herauszu­halten. Der ENI-Chef, der in der IKP und der ISP, aber auch in seiner eigenen Partei als Prä­sidentschaftskandidat zur Diskussion stand, unterstützte nicht nur Moros Absicht, die Sozialisten wieder in die Regierung aufzunehmen, sondern plädierte bereits 1955 für eine »Lösung der kommunistischen Frage über kraftvolle soziale und ökonomische Reformen«. [23] James King, Sonderbotschafter Präsident Kennedys, berichtete aus Rom, »dass Mattei eine effektive Kontrolle über die Regierung« ausübe. [24] Für die CIA war der Bericht letzter Anlass, den »Fall Mattei« auf ihre Weise »zu lösen«. Bereits im Januar 1962 kam es zu einem ersten Attentatsversuch, der jedoch scheiterte. Der nächste Anschlag am 27. Okto­ber gelang. Mit seinem Privatflugzeug stürzt der ENI-Chef bei Pavia ab.

Der Tod Matteis brachte für Washington mit einem Schlag die Lösung aller Probleme. [25] Der Befürworter einer sozialverträglichen Lösung der »kommunistischen Frage« war ausge­schaltet. Unter dem nun wachsenden Einfluss der proatlantischen Kreise wurde in Rom postwendend ein ENI-Nachfolger ganz nach dem Geschmack der Standard Oil ernannt: Eugenio Cefis, Finanzier der Faschisten im Geflecht der von der CIA zur Ausschaltung der Kommunisten betriebenen Spannungsstrategie. Er unterzeichnete bereits im März 1963 ein neues langfristiges Abkommen, in dem die italienische Ölversorgung wieder ganz unter die Kontrolle der Standard Oil gestellt wurde.

Als 1990 die CIA-Geheimtruppe Gladio aufgedeckt wurde, kam ans Licht, dass es ein Anschlag dieser geheimen NATO-Truppe war. Ein Offizier der Leibwache, der den Motor des Flugzeuges vor dem Start manipulierte, gehörte zu ihren Mitgliedern. [26]

Eine mehrteilige Fortsetzung folgt – beginnend mit Teil II und dem Kapitel »4. Apertura à Sinistra« (»Öffnung nach Links«) – in den nächsten Heften der KPF-Mitteilungen und online.

 

Anmerkungen:

[1]  Buch des Autors »Giorgia Meloni und der Faschismus«, PapyRossa Verlag, Köln 2023.

[2]  Jürgen Kuczynski: Asche für Phönix – Oder: Vom Zickzack der Geschichte. Aufstieg, Untergang und Wiederkehr neuer Gesellschaftsordnungen, Köln 2019.

[3]  W. I. Lenin: Das Militärprogramm der proletarischen Revolution, Werke Bd. 23, Berlin/DDR, 1957, S. 80. Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR (B), Werke Bd. 24, Berlin (DDR 1959, S. 235. Vorschläge des Zentralkomitees der SDAPR an die zweite Sozialistische Konferenz, Werke Bd. 36, Berlin/DDR, S. 362.

[4]  W. I. Lenin: Über Kompromisse, Werke Bd. 30, Berlin/DDR, S. 485. Der »linke Radikalismus«, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Werke Bd. 31, Berlin/DDR, 1959, S. 22.

[5]  Neue Impulse Verlag, Essen 2003.

[6]  Schriftenreihe »Konkret« der DKP Berlin, Heft 1/2011.

[7]  Siehe Vincent Bevins: Die Jakarta Methode. Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt, PapyRossa, Köln 2023. Rezension des Autors in »junge Welt«, 20. Februar 2023, S. 15.

[8]  Stepan Bandera gründete während des Überfalls der Hitlerwehrmacht auf die UdSSR die Ukrainische Aufstandsarmee (OUN) und andere Formationen, die an der Seite der Wehrmacht gegen die UdSSR eingesetzt wurden.

[9]  Der Schweizer Militärexperte und frühere Oberst Jacques Baud in der Schweizer Zeitschrift »Zeitgeschehen im Fokus« (Ausgabe Nr. 5/6 vom 15. März 2022) zu den Hintergründen des Krieges in der Ukraine. Der Oberst war für den Schweizer Strategischen Nachrichtendienst tätig, Leiter der Abteilung »Friedenspolitik und Doktrin« der UNO für friedenserhaltende Operationen in New York (2009–2011) und nahm an weiteren militärischen UN-Missionen teil.

[10]  Moro, Aldo: Scritti e Discorsi. Rom 1990, S. 458 f. La Rocca, Felice: L’Eredità perduta. Aldo Moro e la crisi italiana. Catanzaro 2001, S. 23 ff.

[11]  I Giorni, della Storia. Cronaca quotidiana dal 1815. Novarra 1997, S. 552 ff. La Rocca, S. 24.

[12]  Moro, S. 3160; »La Repùbblica«, Rom; 14. Okt. 1978.

[13]  Don Sturzo war bis Ende 1922 ihr Generalsekretär, danach bis zur Auflösung Mitglied des Dreierdirektoriums.

[14]  Repùbblica Sociale Italiano (RSI), nach dem Sturz Mussolinis von diesem unter der Besatzung der Hitlerwehrmacht im Herbst 1943 als Rumpfitalien gegründeter Marionettenstaat.

[15]  Giorni, passim; Alighiero Tondi: Vatikan und Neofaschismus, Berlin/DDR 1955, S. 46.

[16]  Giorni, passim.

[17]  1972 nach der Vereinigung mit der Monarchistischen Partei.

[18]  Legge 20 Giugno 1952, »Gazetta Ufficiale«, Roma; 23. Juni 1952, Nr. 143.

[19]  »Europeo«, 15. Oktober 1982.

[20]  Pecorelli, Francesco/Sommella, Roberto: I Veleni di »OP« (Die giftigen Nachrichten des »OP«), Mailand 1994.

[21]  Vorsitzender der Aktionspartei, von Juni bis Dezember 1945 Premier der antifaschistischen Einheitsregierung.

[22]  Faenza, Roberto/Fini, Marco: Gli Americani in Italia, Mailand 1976, S. 295, 321.

[23]  »Panorama«, 2. Dez. 1990.

[24]  Faenza, S. 278.

[25]  »New York Times«, 28. Okt. 1962.

[26]  Roberto Faenza: Il Malaffare. Dall’ America di Kennedy all’ Italia, a Cuba, al Vietnam, Mailand 1978, S. 295, 321.

 

Mehr von Gerhard Feldbauer in den »Mitteilungen«: 

2022-11: Am 28. Oktober 1922 kam der faschistische Diktator Benito Mussolini an die Macht

2021-01:  Ein Leninist klassischen Typs, Vertreter des Konzepts der Weltanschauungspartei

2019-04:  Mit den Kampfbünden Mussolinis schlug vor 100 Jahren die Geburtsstunde des Faschismus