Vom Eichmann-Komplizen zum Gehlen-Experten
Klaus Eichner, Lentzke
Der Österreicher Alois Brunner, Jahrgang 1912, war einer der wichtigsten Mitarbeiter von Adolf Eichmann und an Judenvernichtungen in Wien (1939-1941), Berlin (1942/43), Griechenland (1943) und in Frankreich (1943-44) sowie in der Slowakei (1944 bis Februar 1945) führend beteiligt. Er begann seine Nazi-Karriere als Mitglied der damals noch in Österreich verbotenen NSDAP. 1938 kam er in Wien in Kontakt mit Adolf Eichmann als dessen Mitarbeiter in der "Zentralstelle für jüdische Auswanderung", deren Leitung er 1941 übernahm. Unter Regie dieser Tarneinrichtung für die Judenverfolgung in Österreich wurden allein in Wien rund 180.000 Juden in den Tod getrieben. Brunner kommandierte danach in seinen jeweiligen Einsatzorten Sondereinheiten von Gestapo, SD und SS zur Deportation von Juden in die Vernichtungslager. Nach Zeugenaussagen handelte er dabei "eiskalt und völlig gefühllos".
Laut dem Simon Wiesenthal-Center war SS-Hauptsturmführer Brunner verantwortlich für den Tod von 128.500 Menschen. Simon Wiesenthal bezeichnete das Duo Eichmann-Brunner als "Zwiegestirn des Todes".
Brunner lebte bis 1954 unter falschem Namen in der BRD.
Er kam 1945 von Linz nach München und arbeitete unter falschem Namen als LKW-Fahrer für die US-Armee. Lassen wir es offen, ob die US-amerikanische Abwehr hier geschlafen hat oder sich bereits damals seiner bediente. Immerhin galt ja bereits zu dieser Zeit die Maxime der amerikanischen Geheimdienste "Es war unbedingt notwendig, daß wir jeden Schweinehund verwendeten, Hauptsache, er war Antikommunist" (Aussage des CIA-Mitarbeiters Harry Rositzke).
Seit 1947 arbeitete Brunner in einer Grube in Essen und war unter dem Namen "Alois Schmaldienst" polizeilich gemeldet. Als er zum Betriebsrat gewählt werden sollte, kamen Zweifel an seiner Identität auf. Das Innenministerium der Republik Österreich hatte danach im Januar 1955 ein Verfahren "wegen falscher Namensführung" eingeleitet, aber Brunner war seit Anfang 1954 aus Essen verschwunden.
Die generell verbreitete Legende über den weiteren Werdegang von Alois Brunner besagt: Im Frühjahr 1954 erhielt er angeblich von einem SS-Mitarbeiter aus seiner Pariser Zeit dessen Paß auf den Namen Dr. Georg Fischer und reiste damit im Auftrag der Organisation Gehlen als deren illegaler Resident nach Syrien.
Nun entspricht es der allgemein menschlichen und der nachrichtendienstlichen Logik, daß eine solch wichtige Geheimdienstposition, wie sie ein illegaler Resident in einem geostrategischen Schlüsselland darstellt, nicht von einem blutigen Laien ausgefüllt werden kann. Dazu braucht man entsprechende Ausbildung und auch Erfahrungen in der nachrichtendienstlichen Arbeit. Der Resident eines Geheimdienstes wird ja nicht in diesem Land stationiert, um nur an Cocktail-Empfängen teilzunehmen.
Damit dürfte eindeutig klar sein, daß Brunner in der Zeit von 1945 bis 1954 als international gesuchter Kriegsverbrecher in der Bundesrepublik unter den Fittichen, also unter dem Schutz, der CIA und des Bundesnachrichtendienstes lebte und seine Geheimdienstkarriere als Spezialist für den Nahen Osten vorbereitete. Das reiht sich ein in eine Vielzahl ähnlicher Personalentscheidungen, ob als hauptamtliche Gründergeneration der Organisation Gehlen oder als Agentenführer, Einflußagenten bzw. als geheimdienstliche Auslandsrepräsentanten des deutschen Imperialismus in der Nachkriegszeit. Der ehemalige Bundesminister und Verteidigungsstaatssekretär Andreas von Bülow konstatiert: "Die Zugehörigkeit zur SS, zur Gestapo oder zum SD war zu einem Markenzeichen geworden, das in Geheimdienstkreisen, aber nicht nur dort, für eine schnelle Aussicht auf Anstellung sowie hinreichend Schutz vor Verfolgung und Bestrafung sorgte." [Vgl. Andreas von Bülow: "Im Namen des Staates – CIA, BND und die kriminellen Machenschaften der Geheimdienste", Piper, 1998, S. 387.]
Unter diesen Voraussetzungen wird auch die Legende, Brunner habe sich die Personaldokumente eines SS-Kumpans aus der Zeit seines Einsatzes in Frankreich beschafft, um als Dr. Georg Fischer nach Syrien auszureisen, stark angekratzt. Wer unter den Fittichen von General Gehlen in einen Auslandseinsatz geschickt wird, braucht solcherart Hilfen nicht.
Es gibt Hinweise, daß Brunner zum großen Kreis jener faschistischen Geheimdienst- und Subversionsspezialisten gehörte, die der SS-Spezialist Otto Skorzeny im Auftrag der CIA und der Organisation Gehlen ausgewählt hatte, um die deutschen und amerikanischen Positionen in geostrategisch bedeutsamen Regionen durch die Hilfe beim Aufbau von Geheimdiensten dauerhaft zu sichern.
Als eine seiner Tarnungen für die BND-Aktivitäten fungierte Brunner in Syrien als Vertreter der Dortmunder Aktienbrauerei DAB.
1960 verhörte die syrische Geheimpolizei Brunner – als Ergebnis soll er eine Position als "Berater für Judenfragen" bei einem syrischen Geheimdienst erhalten haben. Nach anderen Versionen fungierte er als Sicherheitsberater der syrischen Regierung und als Waffenhändler.
Danach realisierte er bis 1962 unter dem Tarnnamen Ali Mohammed nachrichtendienstliche Aufträge Gehlens und der CIA in Kairo und kehrte anschließend zurück nach Damaskus. Dort war er u.a. als Co-Direktor der Waffenschieberfirma OTRACO tätig und war häufig Gast auf Empfängen westdeutscher Konzerne in Ägypten und Syrien.
In Damaskus unterhielt er zahlreiche Kontakte zu westdeutschen Diplomaten, Journalisten und Touristen und war auch in der österreichischen Gemeinde gut bekannt.
Die Kontakte waren so ergiebig, daß Brunner 1985 der Zeitschrift BUNTE ein Interview geben konnte, in dem er so massiv antisemitische Ausfälle von sich gab, daß selbst die BUNTE nur eine zensierte Fassung veröffentlichte. 1987 folgte ein Interview für die österreichische Zeitschrift KRONE.
In all den Jahren gab es immer wieder mehr oder weniger intensive, jedoch immer erfolglose Bemühungen von Justizbehörden und Geheimdiensten, Brunner aufzuspüren bzw. seiner habhaft zu werden.
Ein Briefbombenanschlag im Jahre 1961, bei dem Brunner ein Auge verlor, wird dem israelischen MOSSAD zugeschrieben. Desgleichen später eine Briefbombe aus Österreich, die ihm vier Finger der linken Hand zerfetzte.
Österreichische Behörden fühlten immer wieder einmal in Syrien vor, ließen sich aber auch schnell mit nichtssagenden Auskünften abspeisen.
Mehrere formale Auslieferungsanträge der Bundesrepublik und anderer Staaten sowie ein Interpol-Haftbefehl und Aktivitäten des Simon-Wiesenthal-Zentrums blieben ohne Erfolg. Auch als am 2. März 2001 ein französisches Gericht Brunner nochmals wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Abwesenheit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte, kam es niemals zur Ergreifung dieses Massenmörders. Den Prozeß hatte der französische Anwalt Serge Klarsfeld als Präsident der Vereinigung der Söhne und Töchter der jüdischen Deportierten Frankreichs 1987 angestrengt.
Nach unbestätigten Angaben soll Brunner ca. 1992 oder 1996 verstorben sein.
Anfang des Jahres 2011 fragte der Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE, Jan Korte, im Bundeskanzleramt nach Akten über die braune Vergangenheit des Bundesnachrichtendienstes, später konkret über Akten zu Alois Brunner. Entgegen sonstiger Gewohnheiten erhielt er vom BND sechs Aktenordner, die bis auf Pressematerial fast leer waren. Und doch erhellen diese Akten einige Hintergründe des Umgangs des BND mit dem Fall Brunner.
Ein Mitarbeiter des Sicherheitsreferates des BND hatte am 1. Juli 1988 vermerkt: "Eine Sichtung der hier vorhandenen 581 Seiten (Microfilm) ergab, daß das gesamte Material fast ausschließlich aus der Zeit 1957 bis 1964 stammt und von Quellen und Gesprächspartnern aus Nahmittelost geliefert wurde." Er vermerkt weiter, daß es in den "hier vorhandenen Unterlagen" keinen Hinweis gebe, "daß Brunner zu irgendeiner Zeit für den BND tätig war."
Aber Jan Korte fand auch einen Hinweis, daß der leitende BND-Mitarbeiter Volker Foertsch "persönliches Wissen" habe, daß Brunner ehemals BND-Mitarbeiter in Damaskus gewesen sei.
Offenbar hat – zumindest in dieser Angelegenheit – das Bundeskanzleramt massiv Einfluß auf die Akten- und Archivarbeit des BND genommen. Auf Anweisung des Bundeskanzleramtes von 1994 sollten die Brunner-Akten im Rahmen einer "Notvernichtungshandlung" beseitigt werden. Zuvor hatte ein BND-Mitarbeiter dem Bundeskanzleramt noch einmal mitgeteilt: "Zu Brunner alias Fischer liegt im BND umfangreiches Erkenntnismaterial vor, das fast ausschließlich aus der Zeit von 1957 bis 1964 stammt."
Immerhin ist es beachtlich, daß nach den BND-Akten General Gehlen mit Adenauers Kanzleramtschef Globke zwischen 1960 und 1962 mehrfach Gespräche über Brunner geführt hatte. Auf dieser Ebene beschäftigte man sich gewiß nicht mit "kleinen Fischen".
Gehlen verhandelte in der Angelegenheit Brunner im September 1960 auch mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Dr. Rudolf Vogel. Vogel war ab 1940 Sonderführer (Z) bei der faschistischen Luftwaffe, fungierte als Zensuroffizier und war in Saloniki Kommandeur einer Propagandakompanie. Von 1949 bis 1965 war er Bundestagsabgeordneter der CDU, ab 1950 stand er als Vortragender Legationsrat I. Klasse im Wartestand der bundesdeutschen Außenpolitik zur Verfügung. Neben späteren Verwendungen als Botschafter war Vogel 1965 z.B. auch Mitglied des dreiköpfigen Untersuchungsausschusses für die Haushaltsplanung der Geheimdienste der BRD im Rahmen des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages. Der Inhalt der Gespräche zwischen Gehlen und Vogel ist angeblich nicht rekonstruierbar, da der BND keine alte Technik mehr hat, um vorliegende Tonband- und Filmaufnahmen von diesem Kontakt auszuwerten. MdB Dr. Vogel soll aber bei der angeblichen Flucht von Brunner nach Syrien eine Rolle gespielt haben. [Zitate und Details aus: Rene Heilig: "Notvernichtung" im Fall Brunner; ND vom 23. 07. 2011.]
Neben Eichmann stand Brunner immer im Zentrum der Aufmerksamkeit des MfS der DDR, die zuständige Hauptabteilung IX/11 führte ein umfangreiches Dossier über Brunner. Jetzt haben Medien in Österreich Dokumente des MfS veröffentlicht, nach denen das französische Ehepaar Beate und Serge Klarsfeld im Kontakt mit Behörden Syriens und der DDR Vereinbarungen herbeiführen wollten, die eine Abschiebung Brunners in die DDR zum Ziele hatten. 1989 sollen diese Verhandlungen fast abgeschlossen gewesen sein.
Das Ende der DDR kam der Abschiebung zuvor. Bei der Auflösung des MfS wurden 1990 die zuständigen Ermittler der "Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen" Ludwigsburg auf diesen noch nicht abgeschlossenen Vorgang aufmerksam gemacht. Die Behörden der Bundesrepublik waren aber offensichtlich nicht daran interessiert, den Vorgang zu Ende zu führen.
Es wäre für das neue, größere Deutschland wohl ein kompliziertes Problem gewesen, die Verantwortung für den geheimdienstlichen Schutz und den jahrelangen Einsatz als BND-Repräsentant im Nahen Osten eines der letzten lebenden Hauptverantwortlichen für den Holocaust zu übernehmen. Ein erweiterter "Eichmann-Prozeß" in Berlin – das durfte ganz einfach nicht sein!
Aber zumindest für die Historikerkommission, die die NS-Vergangenheit der Organisation Gehlen/des BND aufarbeiten soll, müßten dieser Vorgang und ähnliche Vorgänge [Anregungen könnten sie u.a. auch entnehmen aus: Eichner/Schramm: Angriff und Abwehr – Die deutschen Geheimdienste nach 1945; edition ost, 2007.] Anlaß für entsprechende Recherchen in den BND-Archiven sein – wenn sie denn auch wollen!
Klaus Eichner, geboren 1939, arbeitete seit 1957 in der Spionageabwehr der DDR und als Analytiker im Bereich C der Abteilung IX der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA). Später leitete er diesen Bereich bis zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit.
In den "Mitteilungen" erschienen von Klaus Eichner unter anderem: Ein "Sturm", der keiner war, Heft 1/2010, Seite 19; Vom Ostspion Hitlers zum Chefspion der BRD, Heft 6/2009, Seite 23; Agenten und Menschenrechte, Heft 5/2006, Seite 7.
Mehr von Klaus Eichner in den »Mitteilungen«:
2011-02: Klaus Barbie
2011-01: Symbol für ein freies Afrika
2010-01: Ein »Sturm«, der keiner war