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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Ein "Sturm", der keiner war

Klaus Eichner, Berlin

 

Mit dem von den Medien und Politikern immer wieder strapazierten Begriff des "Sturmes auf die Stasi-Zentrale" soll den Bürgern auch heute noch suggeriert werden, welche Helden an diesem 15. Januar 1990 am Werk waren. Aber was sind das für Helden, die gegen ein bereits im Koma liegendes Opfer mit Vandalismus und Rowdytum vorgehen?

Es folgt eine Analyse der Ereignisse von Klaus Eichner, der sich selbst in dieser Nacht im Objekt aufhielt. Klaus Eichner lehnt den Begriff "Stasi" als politischen Kampfbegriff ab, muß ihn hier aber oft im Rahmen der Zitate verwenden. Dafür bittet er um Entschuldigung! – Red.

 

Nun laufen die Gebetsmühlen der Geschichtsfälscher und der "Stasi-Jagd-Meute" schon wieder auf Hochtouren.

Bereits am 8. Dezember 2009 verbreitete die Birthler-Behörde eine Einladung zu einem Festakt und einem Bürgerfest am 15. und 16. Januar 2010. In dieser Einladung heißt es:

"Am 15. Januar 1990 besetzten mutige Bürgerinnen und Bürger der DDR die Zentrale der Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg. Sie wollten vor allem die Vernichtung der Stasi-Akten stoppen. Etwa 2000 Demonstranten erstürmten die vier Jahrzehnte lang gesicherte Stasi-Zentrale und besiegelten das Ende der Staatssicherheit. Die schließlich gesicherten Geheimdienstunterlagen waren und sind Grundlage zur Aufarbeitung der SED-Diktatur."

Bürgerrechtler greifen an

Wie sah diese Besetzung real aus? In den ersten Januartagen 1990 verbreitete das Neue Forum einen Aufruf zu einer Aktions-Kundgebung am 15. Januar 1990 vor den Toren des MfS in der Berliner Ruschestraße/Normannenstraße.

Das Flugblatt enthielt folgende Forderungen: "Sofortige Schließung aller Stasi-Einrichtungen; Hausverbot für alle Stasi-Mitarbeiter; Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen das MfS; Offenlegung der Befehlsstrukturen zwischen SED und Stasi; Stasi in die Volkswirtschaft und Verzicht auf die Bildung neuer Geheimdienste."

Aufgerufen wurde: "Schreibt Eure Forderungen an die Mauern der Normannenstraße!

Bringt Farbe und Spraydosen mit!

Wir schließen die Tore der Stasi!

Bringt Kalk und Mauersteine mit!"

Die Steine sollten angeblich zum "Zumauern" dienen – aber die Besetzer wollten ja rein in das Objekt; und mit Steinen kann man auch werfen, wie noch am gleichen Abend praktiziert. Damit hatten die Organisatoren aber den brüchigen Konsens der Gewaltfreiheit in diesen Tagen verlassen.

Die Zentrale des MfS war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr von eigenen Kräften des MfS gesichert, sondern von VP-Angehörigen. Diese kontrollierten bei ausfahrenden PKW z.B. die Kofferräume. Ein VP-Angehöriger vor der Kamera von Elf99: "Wir sollten mit unseren flüchtigen Kontrollen bei den Ausfahrten verhindern, daß erfahrene Geheimdienst-Profis irgendwelche Unterlagen herausschmuggeln würden – ein lachhaftes Unternehmen."

Gegen 17 Uhr sammelt sich in der Ruschestraße eine große Menschenmenge, Medienberichte sprechen von mehreren tausend Menschen. Die Stimmung wird immer mehr angeheizt. Erste Demonstranten erklettern das eiserne Doppeltor an der Ruschestraße – da wird es von innen schon geöffnet. Einige Bürgerrechtler wollen sich das "Verdienst" an dieser Aktion zurechnen lassen – aber es waren VP-Angehörige aus dem Wachpersonal, die das Tor öffneten.

Die Menge der Demonstranten strömte in den Hof des MfS und wandte sich dem Versorgungstrakt zu. In diesem Haus 18 waren keinerlei Diensträume des MfS. Dort waren Speisesäle, Konferenzräume und vielfältige Versorgungseinrichtungen (Kaufhalle, Friseur, Buchhandlung, Reisebüro) und deren Verwaltungsbüros.

Im ND vom nächsten Tag wurde die Situation mit folgenden Worten beschrieben:

"Die Spitze tobte auf das Haus 18 – ein Büro- und Versorgungstrakt – zu. Steine zertrümmerten die Glasfront des Eingangs. Damit war der Weg in das Gebäude frei. Johlend stürmte eine große Menge in das mehrgeschossige Haus. Papiere und Möbel flogen aus zerschlagenen Fenstern auf das Pflaster. Randalierer verwüsteten die Räume und plünderten in Büro- und Diensträumen, in der Kantine, in einem Buchladen und in der Theaterkasse, was nicht niet- und nagelfest war." [Vgl. Neues Deutschland, 16. Januar 1990: Erst gestürmt, dann verwüstet]

Am 17. Januar informierte der stellvertretende Innenminister und Chef der VP, General-major Dieter Winderlich, auf einer Pressekonferenz über das Ausmaß der Sachschäden und bezifferte deren Höhe auf eine Million Mark. Vertreter des Neuen Forum wiederum bezweifelten bei einer Ortsbegehung in der Normannenstraße die Höhe der Schadenssumme. Winderlich teilte mit, daß die Kriminalpolizei des Präsidiums der Volkspolizei Berlin eine Einsatzgruppe zur Untersuchung der schweren Sachbeschädigungen, des Rowdytums und des Diebstahls, zu denen es am 15. Januar kam, gebildet hat. Über die Ergebnisse der Untersuchungen gab es danach keine Unterrichtung der Öffentlichkeit.

Das Fernsehen der BRD war natürlich von Anfang an dabei, mir ist insbesondere eine Kameragruppe mit Fritz Pleitgen als Reporter in Erinnerung. Dieser reckte anklagend angebliche Gehaltsstreifen mit Monatsverdiensten zwischen 6.000 und 8.000 Mark oder eine Speisekarte in die Kamera, auf der kulinarische Angebote wie Kaviar, Räucheraal o.ä. zu finden waren. Natürlich mit der Aussage, daß das die tägliche Kost der Mitarbeiter des MfS in ihrer Kantine gewesen sei. Insider wissen, daß sich in dem Versorgungstrakt ein kleiner spezieller Speisesaal befand, in welchem Minister Mielke ab und zu ausländische Gäste empfing. Nur von dort könnte eine solche Speisekarte stammen. Aber in vielen Medienberichten über die Jahrestage dieses Ereignisses finden wir immer wieder diese Verleumdungen, zum Beispiel in der Berliner Zeitung vom 15./16. Januar 2005 folgende Aussagen (nach dpa):

"Die Wut war nicht mehr zu stoppen. Als am 15. Januar 1990 aufgebrachte Demonstranten in die Berliner Stasi-Zentrale eindrangen, konnten sie es nicht fassen: Räucheraal und Krabben auf der Kantinen-Speisekarte, mit Roastbeef und Haifischflossensuppe in Dosen gefüllte Lagerräume, holzgetäfelte Konferenzräume. Statt ihrer Stasi-Akten sahen sie diesen für DDR-Verhältnisse unvorstellbaren Luxus."

Die mit der Berichterstattung über die Besetzung der MfS-Zentrale verbundene Lügenkampagne war einer der Ausgangspunkte der jahrelang weiter wirkenden "Stasi-Hysterie".

Ein kleiner Teil der Demonstranten beteiligte sich nicht am Vandalismus in diesem Komplex. Zielstrebig nutzten sie den Zugang über eine Fußgängerbrücke zum Haus 2, dem Sitz der Spionageabwehr (Hauptabteilung II). Dort verschafften sie sich mit Gewalt Zugang zu 18 Diensträumen. Die Auswahl der betroffenen Räume verriet Insiderkenntnisse. Das war nicht verwunderlich, denn erst im Dezember 1989 war ein Abteilungsleiter der Hauptabteilung II, Oberstleutnant Rainer Wiegand, gemeinsam mit seiner Sekretärin und Geliebten zum Bundesnachrichtendienst übergelaufen. Er hatte offensichtlich die Orientierungen für die Einsatzgruppe des BND geliefert. Mit dieser Aktion gerieten größere Aktenbestände, darunter auch alte und relativ wertlose Materialien, in die Hände der "Demonstranten".

Dazu gehörten auch solche Kuriositäten wie die 90 Seiten umfassende Materialsammlung der Auswertung der Spionageabwehr über US-Präsident Ronald Reagan, die diesem später als Geschenkband zu seinem 81. Geburtstag überreicht wurde. Das Geschenk kam von einem langjährigen Mitarbeiter eines USA-Geheimdienstes, der dazu erklärte, er habe sie von "einem Antikommunisten gekauft, der die Beute im Januar 1990 beim Sturm auf das Stasi-Hauptquartier in Berlin gemacht habe." [Berliner Zeitung vom 11. Februar 1992: "Reagan erhielt seine Stasi-Akte"]

Agonie und Selbstaufgabe

Aus den Erinnerungen von Mitarbeitern der Spionageabwehr geht hervor, daß in diesen Stunden der Besetzung des MfS die Mitarbeitergruppe der Hauptabteilung II mehrfach vom Lagezentrum des Bundesamtes für Verfassungsschutz angerufen wurde, um Auskunft über die Lage vor Ort zu erhalten. [Vgl. Helmut Wagner: Schöne Grüße aus Pullach, edition ost, 2000, S. 183] Eine frühe "deutsch-deutsche" Zusammenarbeit? Wohl eher der deutliche Hinweis an den bis dahin gefürchteten Gegner: Wir sind über Euch ziemlich genau informiert!

Die amerikanischen Geheimdienste schienen etwas den Anschluß verpaßt zu haben. Der damalige Leiter der Abteilung Sowjetunion/Osteuropa in der CIA-Zentrale, Milton Bearden, erinnert sich:

"Die Fernsehberichterstattung über die Erstürmung der Stasi-Zentrale erregte auch die Aufmerksamkeit von Präsident Bush, und er fragte den CIA-Mitarbeiter, der ihn, wie üblich, über die tagesaktuellen Geheimdiensterkenntnisse informierte, ob sich die CIA denn ihren Anteil an den Dokumenten sichere, die auf die Straßen Ost-Berlins herabregneten. CIA-Chef Webster erfuhr vom Interesse des Präsidenten, und bald führte das, was als beiläufige Bemerkung im Weißen Haus begonnen hatte, bei der Agency zu hektischer Betriebsamkeit.

Webster erkundigte sich, ob seine Leute sich schon Stasi-Akten beschafft hätten. Die Antwort war Nein, und der CIA-Direktor fragte nach, ob wir vielleicht neue Leute in Berlin brauchten. Die Botschaft war unmißverständlich." [Vgl. Milt Bearden/James Risen: Der Hauptfeind – CIA und KGB in den letzten Tagen des Kalten Krieges; Siedler Verlag, 2003; S. 508] Die CIA-Zentrale schickte extra einen hochrangigen Beamten nach Berlin, um dem Leiter der CIA-Residentur vor Ort, David Rolph, "Beine zu machen".

Am 16. Januar übernahm ein selbsternanntes "Bürgerkomitee Normannenstraße" die Kontrolle im Gebäudekomplex.

Die Besetzung der MfS-Zentrale in Berlin war der Höhepunkt der von verschiedenen Kreisen der Bürgerbewegung organisierten und angeführten DDR-weiten Kampagnen gegen das MfS. Zu diesem Zeitpunkt waren alle Kreis- und Objektdienststellen sowie die 15 Bezirksverwaltungen des MfS nicht mehr arbeitsfähig, acht der Bezirksverwaltungen durch Bürgerkomitees besetzt. Das heißt, dieser sogenannte "Sturm" auf die MfS-Zentrale war ein Angriff auf einen Gegner, der sich bereits in der Agonie befand.

Ministerpräsident Modrow hatte in seiner Regierungserklärung am 17. November 1989 die Bildung eines Amtes für Nationale Sicherheit (AfNS) bekanntgegeben. Aber bereits am 7. Dezember 1989 beschloß der Zentrale Runde Tisch auf Betreiben von Vertretern der Bürgerbewegung, das AfNS aufzulösen und die Objekte des Amtes durch die Volkspolizei zu sichern. Insbesondere drängten die Bürgerrechtler darauf, die Aktenvernichtung einzustellen.

Die Regierung Modrow gab dieser Forderung nach und beschloß am 14. Dezember die Auflösung des AfNS und die Neubildung eines Verfassungsschutzes und eines Nachrichtendienstes der noch bestehenden DDR. Der Zentrale Runde Tisch drängte auf die schnelle Realisierung dieser Entscheidung und bildete eine Arbeitsgruppe Sicherheit zur Überwachung der Auflösung des AfNS. Zugleich forderte er die Regierung auf, die Entscheidung über die Bildung von Verfassungsschutz und Nachrichtendienst aufzuheben. Die Regierung entsprach dieser Forderung und erklärte am 12. Januar 1990 vor der Volkskammer, daß bis zur Volkskammerwahl (damals noch für den 6. Mai vorgesehen), keine neuen Dienste geschaffen würden.

In den Bezirken und in der MfS-Zentrale war zu diesem Zeitpunkt die Auflösung bereits im vollen Gange. Die Mehrheit der Führungskader, Minister, Stellvertreter, Leiter und Stellvertreter von Hauptabteilungen, war bereits aus dem Dienst ausgeschieden. In den Diensteinheiten gab es in immer neuen Wellen Aufforderungen an die Mitarbeiter, sich Arbeitsplätze im zivilen Leben zu suchen.

Am 10. Januar waren die Waffenkammern auch der MfS-Zentrale geräumt worden, die dort gelagerten Infanteriewaffen wurden in Einrichtungen des MdI untergebracht.

Gleichzeitig war es zu verschiedensten Formen politischer Proteste unter den Mitarbeitern des MfS gekommen. Es bildeten sich Mitarbeiterräte zur Kontrolle der Leitungen der Abteilungen, in Parteiversammlungen kam es zu heftigen Kritiken am Führungspersonal, zu Vorwürfen über Machtmißbrauch und Privilegienwirtschaft; auf dem Hof des MfS fand erstmalig eine Protestkundgebung von mehreren hundert Mitarbeitern statt. [Details siehe Klaus Eichner: "Aufstand am ‚Monarchenhügel’" – in Spurensicherung IV: Niedergang der DDR, GNN-Verlag, 2002, S. 187]

Das Öffnen der schweren Eisentore in der Rusche- und Normannenstraße war nur noch ein symbolisches Zeichen für das nahende Ende der DDR.

Jedoch war der Aufruf des Neuen Forum unter den Bedingungen der offensichtlichen und den Bürgerbewegungen bestens bekannten Auflösungsprozesse eine bewußte Machtdemonstration, die auch auf die Vertreter anderer Oppositionsgruppen ausstrahlen und den Führungsanspruch des Neuen Forum markieren sollte. Mit dieser Demonstration nahm man bewußt in Kauf, daß eine chaotische Situation entstand und Gewaltexzesse zur realen Gefahr wurden, auch wenn einige dieser Vertreter die Schärpe "Keine Gewalt" trugen. Die Staatsorgane der DDR waren zu dieser Zeit bereits handlungsunfähig, trotz der tagelangen Ankündigungen der "Aktionskundgebung" erfolgte keine Verstärkung der Sicherungskräfte der Volkspolizei, der Zentrale Runde Tisch tagte in diesen Stunden in Permanenz weit weg vom Ort des Geschehens. Es ist auch in diesem Fall dem besonnenen und verantwortungsbewußten Verhalten der im Objekt des MfS verbliebenen Mitarbeiter des MfS zu verdanken, daß keine weitere Eskalation der Auseinandersetzungen stattfand. Jeder, der dort vor Ort war, wird sich an die extremen physischen und psychischen Belastungen dieser Stunden erinnern.

Mit der Besetzung der Zentrale am 15. Januar 1990 wurde uns nochmals deutlich bewußt, welchen Erkenntnisgewinn über unsere Quellenlage westliche Geheimdienste bei einem direkten Zugriff zu unseren Informationsablagen erreichen konnten. Das motivierte uns, unabhängig von allen Beschlüssen und Befehlen über die Einstellung der Aktenvernichtung, diesen Prozeß weiter zu beschleunigen. Um so dringlicher war es außerdem, in Abstimmung mit dem Zentralen Runden Tisch einen Beschluß über die Selbstauflösung der HVA zu erreichen und diese Auflösung konsequent zu realisieren.

Mit der Aktion "Sturm auf die MfS-Zentrale" hatten bestimmte Kräfte der Bürgerrechtsbewegung die alleinige Kontrolle über den Prozeß der Auflösung der Sicherheitsorgane übernommen. Das betraf auch die Tätigkeit der staatlichen Komitees zur Auflösung des AfNS in den Bezirken und in Berlin.

Dieser Tag dürfte ein weiterer Höhepunkt der Selbstaufgabe der DDR gewesen sein. Aber das Ende des MfS war nur eine logische Folge eines Niedergangsprozesses, der das ganze System des Realsozialismus in Europa erfaßt hatte und kurze Zeit später mit der Implosion dieses Systems endete.

 

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