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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Unvereinbare Interessen benennen!

Dr. Artur Pech, Schöneiche

 

Diskussionsbeitrag von der KPF-Bundeskonferenz am 20. April 2024

 

Liebe Genossinnen und Genossen,

mich hat am Donnerstag in der Sitzung des Ältesten­rates ein – neudeutsch sagt man dazu wohl – Déjà-vu-Erlebnis getroffen. Das hat mich dazu bewogen, die Reihenfolge dessen, worüber ich jetzt hier reden will, ein Stück weit zu ändern und mit etwas Abstraktem anzufangen.

Es ging um »Gerechtigkeit«. Die nehmen jetzt so manche für sich in Anspruch. Da entsteht eine neue Partei, die Gerechtigkeit im Namen führt. Und da gibt es eine andere, die unter der Losung in Wahlkämpfe zieht: »Macht das Land gerecht!« Ich habe mir die Frage gestellt, ob es denn wirklich so ist.

Wenn man die Frage nach der Gerechtigkeit stellt, – quasi für alle Menschen –, dann hat das mit Sozialismus nichts mehr zu tun. Dann ist das nicht nur Verzicht. Ein erheblicher Teil derer, die da so diskutieren, weiß es nicht besser. Das kann man ihnen nicht übelnehmen.

Wer mal ein marxistisch-leninistisches Grundlagenstudium absolviert hat, der muss jetzt deutlich über 50 sein. Da ist es für einige nicht als Vorwurf, aber für andere auch als Vor­satz zu betrachten, von einer klaren klassenmäßigen Orientierung abzulenken.

Insofern sehe ich schon ein Problem, die Frage zu stellen: Gerechtigkeit – ja, für wen denn? Und dann komme ich zu Friedrich Engels und seiner Feststellung, Gerechtigkeit ent­scheidet sich im Feld der Ökonomie [1]. Gerechtigkeit entscheidet sich mit den Eigentums­verhältnissen an den Produktionsmitteln. Oder polemisch andersrum gefragt: Wie gerecht kann denn Kapitalismus, wie gerecht kann denn Ausbeutung sein?

Und meine Verantwortung, auch meine Schuld – muss ich sagen –, sehe ich darin, über viel zu viele Jahre – auch jetzt in der LINKEN –, im Ringen um Kompromisse, um möglichst große Gemeinsamkeiten, auf sachliche Klärungen nicht genügend gedrungen zu haben. Die Klarheit ist weg, weil es möglich war, den Prozess so zu steuern.

Also, ich zeige nicht mit Fingern, das ist relativ einfach, sondern: hinterher ist man immer schlauer. Aber diese Anmerkung muss ich schon machen, weil wir ohne Klarheit in dieser Frage nicht zu einer sozialen, einer Klassenorientierung zurückfinden – ihr habt das vorhin im Bericht gehört. Und ohne dieser Klarheit hat sich die Partei erledigt. Dann braucht es die nicht mehr, weil die anderen Felder schon besetzt sind.

Das war der theoretische Teil vorweg. – Ich habe ein zweites Problem der Parteientwick­lung. Gemeinsam mit Heinz Hillebrand habe ich vor anderthalb bis zwei Jahren in Branden­burg den Karl-Liebknecht-Kreis gegründet. Zweck war und ist immer noch, Genossen auf der Basis sozialistischer Positionen zusammenzuhalten. Im Ergebnis haben Landesvor­stand und Landesausschuss im Dezember beschlossen, den Karl-Liebknecht-Kreis als Lan­desarbeitsgemeinschaft aufzulösen. Und in einer Zeitung konnte ich den schönen Satz lesen: »Na, dann geht doch zu Sahra!« Das ist die Wahrheit.

Warum das mit der Sahra so nicht funktioniert, habe ich vorhin am Beispiel Gerechtigkeit deutlich gemacht. Und wer um Parteientwicklung weiß, weiß auch, dass taktisches Ver­schweigen, das man vielleicht aus irgendwelchen momentanen Erlebnissen heraus begrün­den kann, am Ende zu inhaltlichen Prozessen führt, die sich nicht zurückdrehen lassen.

Im Ältestenrat begegnete mir die Floskel, der Gerechtigkeitsbegriff habe eine breite An­sprache, insofern sei nicht darauf zu verzichten, auch wenn das nicht wissenschaftlich sei.

Das war das Déjà-vu-Erlebnis für mich. Ähnliches habe ich bei der Verteidigung von Ergeb­nissen einer wissenschaftlichen Arbeit im Jahre 1989 gehört. Da wurde mir entgegen­gehalten: Was du da entwickelst, das ist ja wissenschaftlich alles korrekt, aber politisch nicht zu gebrauchen.

Wo wir mit dieser Auffassung gelandet sind, ist heute Stoff für Historiker.

Das hat zu tun damit, dass wir unser eigenes Versagen eben nicht genauestens betrach­ten. Und wenn wir jetzt wieder einmal eine neue Orientierung geben wollen – wenn der Vorstand sie geben will – die wieder nach dem Motto läuft: wir ersetzen Analyse durch Narrative, liefern eine neue Erzählung, in der Hoffnung, dann wird alles besser (und so läuft es jetzt), dann wird uns das nicht helfen.

Das ist eine wesentliche Seite der Realitätsverweigerung. Und wenn mir entgegengehalten wird: »Aber es gibt doch so viele Analysepapiere!« ist festzuhalten: Ja, aber es gibt kein Papier, das über den Satz »Wir haben zu viel gestritten, deshalb haben uns die Leute nicht mehr gewählt.« hinaus die Frage beantwortet, was an der Politik der LINKEN zu ändern ist. Wir haben es mit der Ablenkung von der Frage zu tun, worüber denn der Streit ging. Und wenn das nicht geklärt wird, dann wiederholt es sich.

Und jetzt zu dem Thema, mit dem ich eigentlich anfangen wollte – zur Friedensfrage: Für mich war einer der Ausgangspunkte ein Schreiben von Hans Modrow, der der damaligen Parteiführung der LINKEN ins Stammbuch geschrieben hat, dass sie das Gedenken an Karl und Rosa im Januar missbraucht. [2]

Das hat mich dazu geführt, mich noch einmal ernsthaft und intensiver mit den Originaltex­ten zu befassen. Und einen dieser Texte habe ich seitdem wiederholt politisch verwendet. Karl Liebknecht schrieb am 8. Mai 1916: »Würden die deutschen Sozialisten zum Beispiel die englische Regierung und die englischen Sozialisten zum Beispiel die deutsche Regie­rung bekämpfen, so wäre das eine Farce oder Schlimmeres. Wer den Feind, den Imperialis­mus, nicht in den Repräsentanten angreift, die ihm Auge in Auge gegenüberstehen, son­dern in denen, die ihm und denen er weit vom Schusse ist, und noch gar unter Approbation und Förderung der eigenen Regierung, ist kein Sozialist, sondern ein trauriger Offiziosus der herrschenden Klassen. Eine solche Sorte Politik ist Kriegshetzerei und nicht Klassenkampf, sondern das Gegenteil davon.« [3]

Ich habe dieses Zitat mehrfach verwendet. Und ich habe es nicht adressiert. Ich habe es so zitiert, wie ich es hier vorgetragen habe. Aber ich habe in einer Mitgliederversammlung in den letzten Wochen den Aufschrei eines Spitzenfunktionärs der LINKEN gehört, ich hätte ihn als Kriegshetzer beschimpft.

Also, er hat ja mindestens das Zitat verstanden. Das Problem ist: Wir haben in dieser LINKEN einen erheblichen Teil derer – das habt ihr im Bericht vorhin beschrieben – die eine klare Position zum Frieden nach wie vor vertreten. Wir haben aber auch gegenteilige Positionen. Und da geht es nicht um Erkenntnisse, da geht es auch nicht um irgendwelche Theorien. Da geht es um eine unvereinbare Politik.

Und so lange die Politik des Vorstandes dabeibleibt – auch das habt ihr angesprochen, zu sagen, »wir müssen das Einigende voranstellen und die Streitpunkte ausklammern«, so lange wird diese Doppelzüngigkeit weitergehen.

Und dann muss man sagen – es wurde vorhin in die Frage gekleidet, ob oder inwieweit der Oskar da Recht hatte mit der Friedenspartei - zum Teil hat er eben Recht. Für einen Teil der Betroffenen. Und es geht hier nicht – und damit sind wir wieder bei Liebknecht, es geht hier nicht um Erkenntnisse. Nicht nur.

Es geht um unvereinbare Interessen, die sich auch innerhalb der LINKEN finden. [4] Und wenn wir die nicht benennen, und wenn wir nicht den Kampf um diese Dinge in der Sache führen, dann dürfen wir uns über die Entgleisung, über die fortschreitende Entgleisung nicht wundern.

Ich habe nicht die Absicht aufzugeben. Mir ist aber bei der Aufstellung der Kandidaten für den Kreistag entgegengehalten worden: »Also eigentlich hätten wir aber erwartet, dass du gehst. Dass du ordentlich abtrittst.«

Und da sage ich: Neben allem, was ich inhaltlich noch versuche: Das Feld räumen, um es denen zu überlassen, die eine solche Politik betrieben, die die LINKE in eine solche Situa­tion geführt haben, das ist etwas, was für mich nicht infrage kommt.

Der Text folgt dem gesprochenen Wort. Er wurde vom Autor durch Fußnoten nachträglich erweitert.

 

Anmerkungen:

[1] Friedrich Engels (1881), Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk, MEW Bd. 19 S. 247: »Über soziale Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit wird durch eine einzige Wissenschaft entschieden – durch die Wissenschaft, die sich mit den materiellen Tatsachen von Produktion und Austausch befaßt, die Wissenschaft von der politischen Ökonomie«. In der Sprache des Dichters kleidete das Anatole France 1894 in die Worte: »Den Armen liegt es ob, die Reichen in ihrer Macht und ihrem Müßiggang zu erhalten. Dafür dürfen sie arbeiten unter der majestätischen Gleichheit des Gesetzes, das es Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.« Die rote Lilie, Paris 1894, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe, München 1919, S. 112.

[2] »Am Wochenende findet die jährliche Ehrung in der Gedenkstätte der Sozialisten unter Beteiligung der Parteiführung statt. Dieses ehrende Gedenken hat eine lange Tradition in der Arbeiterbewegung – aber im Selbstverständnis des Parteivorstandes sind Haltung und Erkenntnisse der vorangegangenen Generationen von Sozialisten und Kommunisten keine Richtschnur des Handelns. Im Grunde wird diese Demonstration, die doch die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit sichtbar verkörpert, von der politischen Führung instrumentalisiert, also missbraucht. Wer aber keine Vergangenheit hat, hat auch keine Zukunft.« In: Erklärung des Ältestenrates zum Austritt von Christa Luft aus der Partei DIE LINKE, junge Welt vom 7. Januar 2022, S. 8.

[3] Karl Liebknecht, An das Königl. Kommandanturgericht, Berlin, den 8. Mai 1916, in: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 9, zweite ergänzte Auflage, Berlin 1971, Bd. 9, S. 17.

[4] Karl Liebknecht, Meinungsverschiedenheiten und Klassengegensätze (Über die Gegensätze in der Sozialdemokratie) Bd. 9 S. 296 ff. – Dort S. 298 f.: »Sind die Differenzen in der deutschen Arbeiterbewegung nur subjektive ›Meinungs‹- oder objektive soziale Differenzen? Zweifellos nicht nur ersteres, sondern letzteres, und zwar entscheidend. Es kündigen sich darin geradezu neue Klassenscheidungen an; richtiger: Es treten damit Klassenunterschiede deutlich an die politische Oberfläche, … [Das Interesse] der Berufsbürokratie der Arbeiterbewegung … ist durchaus auf Vermeidung jeder ernsthaften Auseinandersetzung, jedes entscheidenden Konflikts; auf Offizialität; auf eine beschauliche Fortsetzung einer mäßig bewegten, von den herrschenden Klassen wohlgeduldeten, ja gern gesehenen Arbeiterbewegung gestellt, die die ›Organisationen‹ und – ihre Stellungen, ihre Existenzen nicht aufs Spiel setzt. Die Organisation ist ihnen Selbstzweck, nicht Mittel zum revolutionären Zweck. Der Kampf ist ihnen nicht Zweck der Organisation, sondern die Organisation Zweck des ›Kampfs‹; die Erhaltung und Förderung der Organisation, d. h. ihrer Existenzquellen, ist der Zweck, zu dem sie – um der Organisation Zulauf zu verschaffen – überhaupt nur für Kämpfe zu haben sind; für Kämpfe in loyalen Grenzen, über die sie nur widerstrebend von den Massen hinausgerissen werden können. Sie sind keine Revolutionäre, höchstens Reformisten; und im tiefsten Sinn – objektiv – eine an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in paradoxer Form schmarotzende Schicht.«

 

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