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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Wahlen in der Krise – Krisenwahlen

Dr. Artur Pech, Schöneiche

 

Am 16./17. September wird der Bundesausschuss einen Vorschlag für die Kandidaturen der LINKEN zum Europaparlament 2024 beschließen. Entschieden wird darüber im zweiten Teil des Bundesparteitages in Augsburg. Und morgen und übermorgen (26./27. August 2023) soll der Parteivorstand über den Entwurf eines Wahlprogramms beschließen.

Das grundsätzliche Problem wurde bereits vor einem Jahr mit der Informationsvorlage der Parteivorsitzenden für den Parteivorstand unter dem Titel »Erzählung Europawahl 2024« deutlich.

Da wurden politische Analysen durch Erzählungen ersetzt. Danach sind »Bedrohungen durch einen autoritären Kapitalismus im Sinne Putins« der Hauptgrund für die Notwendigkeit einer »Weiterentwicklung unserer europapolitischen Positionen«.

Als ich das las, kamen mir die Worte Karl Liebknechts in den Sinn, mit denen er während des ersten Weltkrieges eine solche Politik charakterisierte: »Würden die deutschen Sozialis­ten z. B. die englische Regierung und die englischen Sozialisten z. B. die deutsche Regierung bekämpfen, so wäre das eine Farce oder Schlimmeres ... Eine solche Sorte Politik ist Kriegs­hetzerei und nicht Klassenkampf, sondern das Gegenteil davon.« [1]

In der »Erzählung Europawahl 2024« wird an die Stelle einer Analyse der Politik der Europäi­schen Union und der Interessen, denen diese Politik folgt, die Beschreibung eines Stim­mungsbildes in der Wählerschaft gesetzt, von dem linke Politik dann ausgehen soll. Danach bringe die EU trotz aller Fehler im Alltag mehr Vorteile als Nachteile und der Frieden inner­halb der EU-Grenzen sei eine historische Errungenschaft.

Bedauernd wird konstatiert, dass die Zustimmung zur EU sinkt und die Stärkung ihrer Insti­tutionen als Voraussetzung für ihre globale Wirksamkeit betrachtet.

Wenn es heißt, die »nationalen Regierungen und die EU-Kommission haben nicht den Mut sich mit Reichen und Konzernen anzulegen«, dann ist eine linke Position völlig verloren gegangen, denn die Erkenntnis, dass die »moderne Staatsgewalt nur ein Ausschuß« ist, »der die gemein­schaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet«, ist schon seit 1848 nachlesbar. [2]

Im Antrag für das vorige EU-Wahlprogramm hieß es noch: »Die Europäische Union braucht einen Neustart mit einer vollständigen Revision jener vertraglichen Grundlagen, die militaris­tisch, undemokratisch und neoliberal sind«. Diese klare Position wurde jedoch schon auf dem Bonner Parteitag getilgt und durch unverbindliche Absichtserklärungen ersetzt.

Das fand in den bisher bekannten Fragmenten für ein EU-Wahlprogramm auch mit »linken« Vorschlägen für den Wirtschaftskrieg gegen Russland seine Fortsetzung, die in der Realität bereits gescheitert sind.

Die Europäische Union befindet sich in einer mehrfachen Krise. Geschaffen, um die globa­le »Wettbewerbsfähigkeit« der »europäischen« Konzerne zu verbessern, wird jetzt konsta­tiert: »Die Position der EU als globale wirtschaftliche Großmacht ist zunehmend gefährdet«  [3].

Nahm die EU in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts im globalen Ranking mit einem Anteil von über 20 Prozent am kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt noch Platz 1 ein, ist sie nun hinter die Volksrepublik China und die USA auf Platz drei zurückgefallen.

Die gegen die Weltherrschaft des Dollarsystems gerichteten Neuordnungsprozesse im Glo­balen Süden zeigen, dass die Zeiten der Unterordnung vorbei sind. Selbst die FAZ hat erkannt, dass die Entwicklung der BRICS ein Ausdruck der Neuverteilung der globalen Machtverhältnisse ist. Ich zitiere: »Die Vorstellung, dass sich Aufsteiger wie China in die bestehenden Strukturen eingliedern lassen, hat sich nicht erfüllt. Stattdessen kommt es zur Konkurrenz der Ordnungsentwürfe. In Osteuropa wird sie derzeit gewaltsam ausgetra­gen.« Und weiter: »Da die westliche Vorherrschaft ihren Höhepunkt schon überschritten hat, ist das letztlich ein Nachhutgefecht. In vielen Gesellschaften außerhalb Europas, vor allem den wirtschaftlich erfolgreichen, hat sich ein neues Selbstbewusstsein herausgebildet, das westliche Belehrungen und Zielsetzungen nicht mehr hinnimmt, sondern stärker auf eigene Interessen achtet. Das ist ein Grund, warum sich selbst demokratische Länder wie Brasilien, Indien oder Südafrika in der Ukrainefrage neutral verhalten.« [4] – Soweit die FAZ.

Den Krieg in der Ukraine in den Kontext eines »Nachhutgefechts« im Kampf um die globale Vorherrschaft zu stellen – das sollte sich mal ein Linker in der LINKEN trauen!

Da ist diese Zeitung deutlich klüger als der Vorsitzende der LINKEN, der die Bundesregie­rung schon mal aufforderte, gemeinsam mit Brasilien und China Druck gegen Russland aufzubauen. [5]

Der EU-Gipfel mit südamerikanischen Staaten im Juli in Brüssel hat gezeigt, dass Freihan­delsabkommen nur noch zum gegenseitigen Nutzen zu haben sein werden. Und die CELAC-Staaten verweigerten sich auch dem Bestreben der EU, sie als »unterstützendes Hinterland« zu nutzen.

Der von der EU nach dem Abschneiden von russischen Importen so elementar benötigte Zugang zu Rohstoffen und Absatzmärkten für teure EU-Produkte werden nicht wie bisher billig und unter ungleichen Voraussetzungen zu haben sein. Die BRICS-Gruppierung und ihre gestern auf dem Gipfel in Südafrika verkündete Erweiterung markieren einen Wende­punkt gegen die bisherige vom »Wertewesten« dominierte Ordnung und werden den USA wie der EU nachhaltige Probleme bereiten.

Vor diesem Hintergrund werden (fast) alle Hebel in Bewegung gesetzt, um den Niedergang aufzuhalten. Das ist der tiefere Grund des Strebens nach »strategischer Autonomie«. Dem Positionsverlust soll auch mit militärischen Mitteln und mit den Mitteln des Wirtschafts­krieges begegnet werden. Die Weichenstellungen reichen bis weit vor den Beginn des Krie­ges in der Ukraine zurück. Aber gerade im Angesicht dieses Krieges, der sehr schnell in eine globale Katastrophe münden kann, gehört der Frieden in den Mittelpunkt nicht nur des Wahlprogramms, sondern der ganzen politischen Arbeit der LINKEN.

Wie nach außen, so auch nach innen: Die Widersprüche innerhalb der EU haben sich ver­schärft. Mit Großbritannien ist erstmals ein Mitglied aus der EU ausgeschieden. Und im Gegensatz zu den öffentlichen Deklarationen sind auch in der EU die Unterschiede größer geworden.

Der Abstand zwischen den Staaten der EU mit dem höchsten und dem geringsten BIP pro Kopf hat sich von 40.400 Kaufkraftparitäten im Jahr 2000 bis zum Jahr 2022 mit 71.200 annähernd verdoppelt. [6] Damit einher geht in der ganzen Europäischen Union eine unüber­sehbare politische Rechtsentwicklung. Bei deren Beurteilung werden die tatsächlichen Ver­hältnisse gerne verkehrt.

Wo Ängste aus drohenden Existenzverlusten erwachsen und an der obwaltenden Demokra­tie verzweifeln lassen, wo, wie im Kreis Sonneberg, bei einem Anteil von 44 Prozent Min­destlohnbezug der Abwälzung von Kriegskosten sorgenvoll entgegengesehen wird, werden Menschen den demagogischen rechten Rattenfängern regelrecht zugetrieben. Und wenn sie dann zu (mindestens verkappten) Nazis erklärt werden, hat die Selbstgefälligkeit einen Gipfel erreicht.

Das schrieb übrigens gestern die FAZ den sogenannten »Eliten« mit den Worten
ins Stammbuch, das »Motiv der Zuwendung zur AfD ist der Eindruck, es mit einer zuneh­mend abgehobenen politischen und intellektuellen Elite zu tun zu haben, die die Sorgen der Bürger nicht mehr versteht und auch nicht willens oder in der Lage ist, sich mit ihnen zu verständigen. Daraus erwächst offenbar bei vielen das Bedürfnis, es ›denen‹ einmal richtig zu zeigen.« [7]

Insgesamt folgte die »Erzählung« zur EU-Wahl einem Ansatz, der schon mehrfach geschei­tert ist – auch wenn sich darin korrekte Aussagen finden.

Eine Auseinandersetzung mit Details würde dazu führen, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen.

Gebraucht wird ein linkes Gegenprogramm, dass die Sorgen der Menschen ernst nimmt und sich nicht in verbalen eurokratischen Pirouetten verliert, die außer ihren Schöpfern kaum jemanden interessieren.

Abschließend noch ein Wort zur Kandidatennominierung. Unsere Stellungnahme dazu hat ja einigen Wirbel verursacht.

In unserer Erklärung heißt es: »Wenn die von Carola Rackete mustergültig gelebte Solidarität mit den Opfern der EU-Abschottungspolitik im Mittelmeer mit der Anschlussfähigkeit an die Kriegspolitik der EU verbunden wird und wesentliche Teile der Begründungen für die Kriegs­politik der EU übernommen werden, dann wird jede Orientierung und die Reflexionsfähigkeit der Partei DIE LINKE verloren gehen. Denn die Menschen, deren Leben Carola Rackete im Mittelmeer rettete, sind Opfer der auch von der EU betriebenen Ausplünderung des globalen Südens.«

Der wenig bekannte Beschluss des Bundesausschusses zur Aufstellung der Vorschlagsliste für die Wahl im Jahr 2024 erwartete »von den Kandidatinnen und Kandidaten ... dass sie die Programmatik der Partei DIE LINKE aktiv vertreten«.

Im Gegensatz dazu wurde unmittelbar nach der Präsentation der Vorschläge der Parteivor­sitzenden von den Bewegungsaktiven in einer Pressekonferenz mit Carola Rackete eine »radikale Erneuerung der Partei unter anderem auch in der Außen- und Sicherheitspolitik« gefordert. Insofern muss diese Kandidatur auch als Teil einer Politik begriffen werden, mit der die friedenspolitischen Grundsätze des Erfurter Programms entsorgt werden sollen.

Nicht die Erklärungen, diese Politik muss sich ändern.

Das gilt für die Europäische Union, das gilt aber auch für DIE LINKE.

In einem Webinar (ca. 130 Teilnehmer) am 25. August 2023 gehaltener Vortrag.

 

Anmerkungen:

[1] Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Berlin 1971 Bd. 9, S. 17.

[2] Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 464.

[3] Europäische Wettbewerbsfähigkeit. Potenziale nutzen, um nachhaltig zu wachsen, IW Report 20/2022, Köln 25.02.2022, S. 3.

[4] Nikolas Busse, Der Gegenpol, FAZ, 22.08.2023, S. 1.

[5] Interview mit dem Spiegel, 05.02.2023.

[6] Die zugrunde liegenden Zahlen sind in Kaufkraftstandards (KKS) ausgedrückt, einer einheitlichen Währung, die Preisniveauunterschiede zwischen Ländern ausgleicht und damit aussagekräftige BIP-Volumenvergleiche erlaubt. Quelle: © Statistisches Bundesamt (Destatis), 2022 | Stand: 31.07.2023/ 01:09:43.

[7FAZ, 24.08.2023, S. 10.

 

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2023-05: »... nicht Klassenkampf, sondern das Gegenteil davon«

2020-07: 70 Jahre Vertrag über die Oder-Neiße-Friedensgrenze

2016-02: Grenzregime heute