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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Unsere Verantwortung – die Kraft aufbringen zu kämpfen

Ellen Brombacher, Berlin

 

Schlusswort vom 25. August 1989

 

Vorbemerkung: Heute wird viel von der Zeitenwende gesprochen. Die liegt allerdings mehr als dreißig Jahre zurück. Als ich im Zusammenhang mit einem Buchprojekt über meine Eltern mein persönliches Archiv durchsah, fand ich eine Rede, die ich als Mitglied des Sekretariats der Bezirksleitung Berlin der SED auf der Volksbildungsaktivtagung in Pankow am 25. August 1989 hielt. Volksbildungsaktivtagungen fanden zum Auftakt der Schuljahre in allen Kreisen der DDR statt. Alle Schulen waren dort mit mehreren Kolleginnen und Kollegen vertreten, darunter die Direktoren und Parteisekretäre. Im Sommer 1989 war die Situation im Land bereits sehr angespannt. Wenngleich wir uns heute mit anderen, weitaus gefährlicheren Pro­blemen herumschlagen, gibt es doch unübersehbare Parallelen zumindest in einer Hinsicht: Je komplizierter eine Situation, umso dringlicher die Notwendigkeit, Nachdenklichkeit und zugleich Standhaftigkeit an den Tag zu legen. Insofern fand ich, dass die nachfolgende Rede durchaus aktuell ist und schlug vor, sie zu dokumentieren. Da ich das Schlusswort nach Stichpunkten gehalten habe und die Abschrift nach deren Tonbandaufnahme erfolgte, muss­te ich sie redigieren. Inhaltlich habe ich sie unverändert belassen.

6. August 2022

 

Im vergangenen Jahr zur Volksbildungsaktivtagung in Mitte war es schon nicht ganz leicht, sich vorzubereiten. Und ich glaube, wir alle spüren und werden bald schon erfahren, dass vor uns ein mit Sicherheit sehr kompliziertes Schuljahr liegt und uns unendlich viele Fra­gen erwarten. Manche davon haben wir selbst, und wir haben mit dem Antworten keine Zeit, bis alles klar ist, sondern wir müssen uns im Streit in mancher Frage die Antwort selbst suchen.

Mittwochabend – vielleicht hat der eine oder der andere von Ihnen den Film gesehen – lief im Fernsehen der Film »Die Verlobte«. Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die 10 Jahre in faschistischer Haft verbringt und dabei ihren Mann verliert. Es ist die Geschichte von tiefer Menschlichkeit und unbeugsamer politischer Überzeugung.

Es war sicher kein Zufall, dass der Film ausgerechnet vorgestern Abend lief, dem 50. Jah­restag des Abschlusses des Nichtangriffspaktes zwischen der Sowjetunion und dem faschistischen Hitler-Deutschland. Und wir erleben im Film den marternden Zweifel – ich finde, dass das künstlerisch ungeheuer gut gestaltet worden ist – vieler Kommunisten, dort eingepfercht im faschistischen Kerker, ob die Sowjetunion ihre Prinzipien nicht verkauft hat. Wir erleben den Triumph von Faschisten in dieser Situation. Da gibt es eine Szene, wo die eine Aufseherin zu der Verlobten, also zu der Lindau, sagt: »Na, Lindau, wir sind ja jetzt Verbündete.«

Und wie mühsam suchten die Genossinnen und Genossen nach einem Standpunkt zu diesem scheinbaren Phänomen. Mein Vater hat mir ähnliches erzählt darüber, wie es ihnen seinerzeit in der Emigration erging. Die Kommunisten suchten nach einer Antwort. Gerade die Inhaftierten, bar jeder Information, sich nur auf ihre Erfahrungen, auf ihre bisherigen Überzeugungen verlassend.

Was wussten sie genau? Sie wussten genau, was Faschismus ist. Sie haben erlebt, wie der Faschismus groß werden konnte. Sie wussten um den maßlosen Hass von Faschisten gegen die Sowjetunion und gegen Kommunisten; und abgeleitet davon haben sie qualvoll den Schluss gezogen, dass es zu dieser Zeit wohl keine andere Möglichkeit für die Sowjet­union mehr gab.

Zu dieser Feststellung gelangten nun auch vor wenigen Monaten sowjetische und polni­sche Historiker in einer auch bei uns veröffentlichten gemeinsamen Erklärung; trotz bestimmter Fragen – Ihr habt das alle gelesen – die in dem Papier als problematisch und kritisch angemerkt sind.

Ich habe, kurz bevor diese Erklärung zustande kam und veröffentlicht wurde, u.a. in der sowjetischen Zeitschrift »Die neue Zeit« die Tagebuchnotizen von Beneš gelesen. Es ist hochinteressant, wie dieser Mann, der also nun einwandfrei ein bürgerlicher Politiker war und kein verkappter Kommunist, die Situation vor dem Krieg geschildert hat, die Haltung der Sowjetunion und die Zwänge, denen man ausgesetzt war.

Bittere Realitäten unseres Alltags

Als ich den Film »Die Verlobte« zum ersten Mal sah – das liegt gut 10 Jahre zurück – hätte ich mir nicht vorstellen können, dass wir eine Zeit erleben werden, in der die Notwendig­keit dieses Abkommens nicht nur von reaktionärsten Historikern der Bundesrepublik in Frage gestellt wird – die haben das bekanntlich immer getan –, sondern in der z.B. ein sowjetischer Historiker im Zusammenhang mit diesem Vertrag die Westgrenzen der UdSSR in Frage stellt, ebenso die rechtliche Zugehörigkeit der baltischen Republiken zur Sowjet­union. Wenn mir das vor zehn Jahren jemand gesagt hätte, ich sage ganz offen und ehrlich, ich hätte ihn für verrückt erklärt.

Wenn mir seinerzeit jemand gesagt hätte: Im Mai 1989 wird eine sowjetisch-polnische His­torikerkommission den Vertrag für notwendig befinden und im August 1989 wird der Sejm einstimmig dafür stimmen, den Vertrag sozusagen in Frage zu stellen und zu verurteilen, ich hätte es nicht geglaubt.

Aber wir wussten ja damals nicht, dass solche Situationen entstehen können, wie wir sie zum Beispiel jetzt in Polen erleben; dass also Solidarność den Ministerpräsidenten stellt. In den West-Nachrichten wurde heute früh über den ersten nichtkommunistischen Chef einer Regierung in einem kommunistischen Staat gesprochen. Das trifft es in der Sache. Vor zehn Jahren kannten wir den Begriff den Solidarność überhaupt noch nicht. Er ist uns erst seit dem Jahre 1980 im Bewusstsein.

Keiner von uns hätte es wohl für möglich gehalten, dass 50 Jahre nach Beginn des 2. Welt­krieges in dieser Weise noch einmal Nachkriegsergebnisse diskutiert und in Frage gestellt werden, dass der Revanchismus fröhlichste Urstände feiert und dass den Neofaschisten in der Bundesrepublik, in Frankreich und andernorts die Anträge auf Mitgliedschaft nur so ins Haus flattern, wie das Schönhuber sagte.

Und doch, liebe Genossen und Kollegen, ist dies eine der schweren, ja, ich möchte sagen, ein Teil der bitteren Realitäten unseres Alltags. Und ich sage das hier nicht, um zu klagen, sondern, weil es nur unsere Art sein kann, die Wahrheit zu nehmen, wie sie ist, aber das aufrecht und in der unbedingten Bereitschaft, zu arbeiten und zu kämpfen.

Manchmal wird die reale Schilderung einer Lage mit Pessimismus verwechselt. Pessimis­mus oder Optimismus betreffen nicht die Frage, ob man Realist ist, sondern wie man sich zur Realität verhält.

Ich möchte noch einmal auf den Film »Die Verlobte« zurückkommen. Wir hatten Besuch, als der lief. Ein Freund von uns. Ein Mann, der Ende der 30er Jahre als 12jähriger jüdischer Junge aus Hitlerdeutschland mit einem Kindertransport nach England kam, gemeinsam mit seinem Bruder. Die beiden haben überlebt; die anderen Familienmitglieder wurden ermor­det.

Unglaublich, wie deren Manipulation griff

Als Soldat der englischen Armee kam er als junger Mann nach Deutschland zurück. Im Film »Die Verlobte« - wer ihn gesehen hat, weiß worüber ich jetzt spreche – wurden Doku­mentaraufnahmen gezeigt, wie Truppenteile der deutschen Wehrmacht kurz vor Kriegsaus­bruch durch Berlin paradieren. Und wie vielleicht 100.000 Leute – wahrscheinlich ist das untertrieben, es mag eine Million gewesen sein – an den Straßenrändern standen und mit unvorstellbarem, hysterischem Jubel diese Parade begrüßten. Ich kommentierte: »Unglaub­lich, was die aus den Menschen gemacht hatten, wie deren Manipulation griff«. Unser Freund sah mich an und sagte: »Wieso? Warum griff? Wirkt Manipulation heute weniger? Guck Dir doch die Hysterie an, bezüglich des Geschehens an der ungarisch-österreichi­schen Grenze. Ist das nicht das Resultat von Manipulation? Was treibt die Leute dort in Massen hin?« Und er fragte weiter: »Hast Du Sonntagabend den Film von Rolf Schnabel gesehen? Die Sache mit den Flüchtlingen. Hat Dich das an nichts erinnert? Kam da keine Assoziation, wie das ist, mit der Flüchtlingsproblematik, immer dann und dort, wo man die Lage anheizen will, um sie letztlich im Sinne des Kräfteverhältnisses zu verändern?«

Jetzt kann man sagen: Alles viel zu einfach! In der DDR hauen die Leute ab, und Ihr gebt die Schuld der anderen Seite. Ich gebe zu – ich sag auch was dazu – man kann es sich mit dieser Sache nicht leicht machen. Aber halt so rum nicht und so rum nicht. Man kann die Fragen stellen, warum gehen denn so viele junge Leute? Es sind doch in erster Linie junge. Das ist ja das, was sozusagen ganz besonders schmerzt. Sie sind doch bei uns erzogen worden. Haben wir nicht etwas falsch gemacht? Aber ganz bestimmt.

Ich glaube, da braucht man keine Untersuchung anzustellen. Gibt es nicht Probleme in unserem Land, die bei vielen Leuten zu Irritationen führen? Ganz sicher.

Nehmen wir nur die Frage mit der Reiserei, weil jeder von uns damit in unzähligen Diskus­sionen zu tun hatte und fürderhin sicherlich immer wieder mit dieser Problematik zu tun haben wird: Warum können nur die fahren, die Verwandte haben und die ohne nicht und all diese Dinge.

Und wir wissen, wie schwer die Antwort fällt. Wir wissen, wie wenig überzeugend die Argu­mente sind, die uns zur Verfügung stehen, so die Frage des ökonomischen Faktors oder die Tatsache der Nichtanerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR in der Bundesrepublik. Wir erleben ja, wie es jetzt läuft: Da wird der DDR-Pass gegen den BRD-Pass ausgetauscht und die Sache hat sich. Darüber redet gerade kaum einer.

Aber Fakt ist, dass allein dieser Vorgang des Passtausches im Grunde genommen eine aggressive völkerrechtswidrige Handlung ist. Und trotz dieser Eindeutigkeit lässt sich das so schwer vermitteln. Warum fällt es uns so ungeheuer schwer, gerade in dieser, die Staatsbürgerschaft betreffenden Frage eine Wirkung in unserem Sinne zu erzielen? Man­che verschließen sich unseren Argumenten total, denken noch nicht einmal darüber nach. Das wissen wir alle.

Eine andere Sache. Gibt es nicht in unserem Alltag so manches, was jeden von uns ärgert, ja, manches, was einen in Wut bringen kann? Ganz ohne Zweifel gibt es das. Insofern wäre die Antwort, »die, die gehen, sind alle nur manipuliert«, zu einfach. Natürlich steht da Unzufriedenheit Pate, manches berechtigt, manches aus falschen Vorstellungen heraus, manches unberechtigt. Ich finde, dass vor allem die Judith von der Ossietzky-EOS zu dieser Problematik hier ausgezeichnet gesprochen hat, und der Beifall hat ja auch bewiesen, dass eine solche Position, ein solcher Standpunkt, unsere gemeinsame Akzeptanz findet.

Aber, sind diese zu kritisierenden Dinge – und das ist jetzt die zweite Seite der Medaille – ein Grund, die Heimat zu verlassen? Für einen Arzt, seine Patienten im Stich zu lassen, für einen Facharbeiter, seine Kollegen usw., ich glaube, wenn man die Frage so stellt, dann muss man sagen: Nein.

»Wahnsinn«

Und, dann nehmen wir mal im Kontext dazu die Reaktionen, die man also von den jungen und nicht mehr ganz jungen Leuten hört, die dann da plötzlich im Westen angelangt sind: »Wahnsinn«, »Ach, ich kann es noch gar nicht fassen« und ähnliches – viel mehr kommt ja im Regelfall nicht. So ungeheuer diese Worte klingen; die Substanz ist beschränkt. Und auch dann, wenn deren Aussagen etwas weitergehen, als dass es also »Wahnsinn« ist und dass man es noch gar nicht fassen kann, reduzieren sich die Aussagen doch im Großen und Ganzen auf drei Dinge, die als vorteilhaft bewertet werden: Den Konsum, die reichhal­tigere Lebensmittelversorgung und die Frage des Reisens. Wer will, kann im Urlaub mit dem Fahrrad nach Paris.

Ich will nichts vereinfachen, aber ich glaube, wenn man bei all denen, die über Ungarn-Ös­terreich in die BRD kommen und die im Westfernsehen befragt werden, deren Antworten gemäß dem soeben erwähnten Raster addieren würde, so würden 95, zumindest aber 90 Prozent der Antworten in dieses Raster passen.

Und dafür geht man in ein Land – und jetzt setz ich einmal ganz hart dagegen – in dem Faschisten schon wieder bis zu 10 Prozent Stimmen kriegen, in dem Heiner Geißler nicht zuletzt deshalb von Kohl abgelöst wird, weil er sich nachdrücklich und bestimmt gegen ein wahltaktisches Zusammengehen mit den Republikanern ausgesprochen hatte. Dafür lässt man soziale Sicherheit und andere Sicherheiten hinter sich; lässt Freunde, Bekannte, Eltern hinter sich – manche sogar ihre Kinder – zunächst einmal in der Budapester Bot­schaft, in der Hoffnung, die werden schon hinterherkommen. Ein Zeichen von außerordent­lichem Charakter, finde ich.

Das ist schon wider die eigenen objektiven Interessen, und nichts anderes verstehen wir unter dem Begriff »Manipuliert sein«. Und nun führen wir uns doch noch einmal das Szena­rium vor Augen, das da seit Anfang des Jahres läuft: Aufnahme Nr. 1: Der Stacheldraht zwi­schen Ungarn und Österreich wird durchgeschnitten. Dann etwa 14 Tage lang: Der erste Stachel vom Stacheldraht, der zweite Stachel vom Stacheldraht, und es formt sich das Bewusstsein: Da ist ein Loch. Dann die ersten illegalen Grenzübertritte. Jeder einzelne wird medial vermarktet, so oft, dass jeder mitkriegen muss: Da kann man abhauen, und es haben welche versucht, und siehe da, es klappt ganz prima.

Parallel die Sache mit den Botschaftsbesetzungen. Und das, was vom Westen als die erste Massenflucht bezeichnet wird, als dieses paneuropäische Treffen an der ungarischen Grenze stattfand – da wo das Loch ist – das wurde von den Leuten vom Malteser-Hilfsbund mit vorbereitet. Die verteilten die Einladungen zum Paneuropäischen Treffen. Wer richtig was erleben wolle, solle da hingehen, das sei ein großes Fest. Und die einen gingen zum Fest und die anderen gingen weiter in den Westen.

Viele von uns teilen sich das Westfernsehen schon dosiert zu, weil man das psychisch jeden Abend schwer erträgt. Die Welt kriegt den Eindruck vermittelt, ein schlimmeres Land als diese DDR gibt es wohl nirgendwo. Wenn ich zynisch wäre, würde ich sagen, also nach den Darstellungen der West-Medien ist im Vergleich zur DDR Südafrika das reine Paradies.

Aber jetzt werde ich unsachlich. Emotionen taugen ja nicht zur Einschätzung politischer Prozesse. Sachlich ist: Unter den Flüchtlingen aus der DDR findet sich vor den Westka­meras kein wirklicher Asylbewerber – das hat hier auch schon eine Rolle gespielt. Unter Asylbewerbern versteht man ja Leute, die politisch, die rassisch, die ethnisch oder religiös verfolgt sind.

Warum das alles?

Die moderne Version von »Heim ins Reich«

Jeder, der in den Westen gegangen ist, glaubt, sein Motiv zu haben. Ich habe selbst, das bringt die Arbeit so mit sich, mit genügend Leuten gesprochen, die gegangen sind in der Vergangenheit. Ich habe mit einem 19-jährigen Mädel gesprochen, die war fürchterlich ver­gnatzt darüber, dass sie in ihrem Betrieb, ohne dass man mit ihr geredet hatte, einfach ver­setzt worden ist in eine andere Abteilung, wo sie nicht hin wollte. Sie war verärgert dar­über, dass die Tatsache, dass sie dagegen opponiert hat, überhaupt nicht beachtet worden ist. Man hat ihr vielmehr zu verstehen gegeben, dass sie ruhig quatschen könne, in die andere Abteilung müsse sie so oder so. Das Mädchen hat eine Oma im Westen und sie entschied: Ich gehe nicht in die andere Abteilung. Ich stelle einen Ausreiseantrag. Kein schlechter Mensch, aber nicht bereit, mit Schwierigkeiten umzugehen. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Wir alle hier wissen aus eigener Erfahrung, dass sich diese Ausreise­problematik als äußerst vielfältig erweist.

Darum sage ich: Aus welchem Motiv heraus der einzelne auch immer geht – solche wie wir hier würden vermutlich in jedem einzelnen Falle andere Schlüsse ziehen. Aber, was auch subjektiv bei jedem Ausreiseantragsteller dahintersteckt – ich gehe mal ganz verständnis­voll damit um –, objektiv gebündelt in der Sache, wem es also dient, das können wir sehen. Es ist die moderne Version von »Heim ins Reich«.

Klaus hat ja im Referat schon ähnliches gesagt. Und im Saal beobachtete ich schon auf dem einen oder anderen Gesicht ein bisschen Ungläubigkeit oder auch mal ein Lächeln. Nur, wir müssen uns doch die Frage stellen, wie sind denn diese Reden von Theo Waigel z.B. zu verstehen? Oder die Erklärung von Ministern der Bundesregierung? Die Vertriebe­nenverbände waren immer präsent, auf die wurde nie verzichtet. Die Flüchtlingsfrage wur­de immer instrumentalisiert und wird es aktuell in hohem Maße.

Oder wie soll bewertet werden, wenn von Westberlin aus über Fernschreiber in unseren Teil Berlins Fernschreiben gesendet werden, in denen sinngemäß steht: »Bald ist es bei euch auch so weit. Die Wiedervereinigung Deutschlands steht vor der Tür. Schreibt Euch mal die Namen der Leute auf, die Schuld sind an der Misere im Osten, damit sie, wenn es so weit ist, einer gerechten Bestrafung zugeführt werden.«

Jetzt kann einer sagen, das ist ein Verrückter. Warum hat es denn den Verrückten vor fünf Jahren nicht gegeben? Warum gibt es denn den ausgerechnet jetzt? In dieser angeheizten hysterischen Situation? Also, ich glaube, wir sollten das schon alles sehr ernst nehmen. Es gibt ein Paradoxon, ein scheinbares zumindest. Man hat nie den Eindruck, dass die andere Seite, und damit meine ich nicht Oma und Opa oder Tante und Onkel, sondern die, die sozusagen das Establishment der anderen Seite verkörpern, dass die uns nicht immer ernst nehmen – selbst, wenn wir in den größten Schwierigkeiten sind, wo wir uns manch­mal an den Kopf packen und fragen, wie wir da rauskommen wollen. Die nehmen uns ernst, so ernst, dass sie nach meiner Wahrnehmung über Wochen 15 bis 20 Prozent ihres Fernsehprogramms mit uns gestalten.

Und wie leicht fällt es bei uns manchem, zu sagen – und nicht weil der bösartig ist – nun hört doch mal auf mit diesem paranoiden Verhalten. Sich auf Gorbatschow berufend, fin­den sie, es gäbe keinen Gegner mehr, es sei denn, man redete ihn sich ein.

Ich finde, man sieht den Gegner.

Wir machen bestimmt auch vieles falsch und niemand hat die Weisheit mit Löffeln gefres­sen. Wenn wir sie mit Löffeln gefressen hätten, ob hier oder anderswo, hätten wir keine Probleme. Dann könnten wir immer alles unentwegt richtig machen. Aber man sollte Kom­munisten glauben. Die Warnungen, die sie ausgesprochen haben in der Geschichte, waren nie nur verkehrt. Und ich weiß nicht, ob es noch einmal gut wäre und ob es nochmal ginge, zu sagen: Jetzt begreifen wir, dass ihr recht hattet. Das haben wir nicht gewollt.

Bei dem, was in dieser Welt an Vernichtungswaffen angehäuft ist, ist es vielleicht hinterher schwer zu sagen: Das haben wir nicht gewollt.

Wir sollten uns gemeinsam zwingen, zu denken und alle in dieses Denken mit einzubezie­hen. Mancher wird nicht mitmachen, aber viele ja.

Die Legitimation für dieses »Heim ins Reich« ist meines Erachtens die Verfälschung – ich betone das – die Verfälschung der These vom Europäischen Haus.

Es geht letztlich um den Sozialismus

Aber das Europäische Haus soll dem Frieden dienen und nicht der Infragestellung der europäischen Nachkriegsordnung, oder – um einen adäquaten Begriff zu benutzen, der Infragestellung des Status quo in Europa. Genosse Gorbatschow hat das, finde ich, in seiner Rede gerade in Paris in aller Eindeutigkeit unterstrichen. Er hat dort davor gewarnt, die These vom Europäischen Haus sozusagen automatisch als die Notwendigkeit der Über­windung des Sozialismus auszulegen. Er hat eindeutig gesagt, dies so auszulegen und poli­tisch danach zu verfahren, führe zurück in den Kalten Krieg. Und ich glaube den Genossin­nen und Genossen, die in den 50er Jahren und Anfang der 60er Jahre schon bewusst im politischen Leben gestanden haben, wenn sie sagen, ideologisch seien wir wieder im Kal­ten Krieg. So hysterisch sei es noch nicht einmal damals gewesen.

Ich glaub es denen auch deshalb, weil es vor dreißig, vierzig Jahren ja noch gar nicht die technischen Möglichkeiten gab, dieses Maß an Hysterie zu erzeugen.

Liebe Genossen und Kollegen, es geht, ich glaube, das empfinden wir alle, und warum soll man dann nicht darüber reden, doch letztlich um den Sozialismus. Er ist 72 Jahre alt, hatte von diesen 72 Jahren knapp 10 Jahre Krieg. Das wollen wir nicht vergessen. Deformatio­nen hat er schreckliche erlitten. Verbrechen im Namen des Sozialismus sind nicht zu ent­schuldigen, aber so zu tun, als würden sie dem Wesen der sozialistischen Ordnung ent­springen, das wäre, finde ich, ein neues Verbrechen.

Die Menschheit existiert seit 4 Millionen Jahren, davon ist die Ausbeuterordnung etwa 5.000 Jahre alt, der Kapitalismus 400 und vielleicht noch eine Vergleichszahl, die Kirche gibt es seit 2.000 Jahren.

Und bei tiefem Respekt vor christlichen Überzeugungen: Das Christentum ist doch in sei­ner Wirkung im Wesentlichen dabei geblieben, bestimmte Normen zu predigen. Und ansonsten war dieser 2.000 Jahre alte Weg, wie wir alle wissen, kein unkomplizierter. Und er war auch nicht das unentwegte Tun von Schritten der Toleranz. Über die Blutspur der Bourgeoisie zu reden, angefangen bei der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, und über anderes, will ich mir hier ersparen. Das entschuldigt nichts von den Dingen, die in unserer Gesellschaftsordnung unverzeihbar geschehen sind. Ich denke, aufzuwiegen, was unter sozialistischen Verhältnissen geschehen ist und was das Kapital an monströsen Ver­brechen zu verantworten hat, und zu sagen, bei denen war es ganz viel und bei uns war es vergleichsweise wenig – so eine Herangehensweise kann uns nur ins Aus führen und wäre auch nicht sehr human.

Wir dürfen uns nichts schenken. Aber wir haben auch keinen Grund, das, was wir erreicht haben – ich meine als System des Sozialismus, ich bezieh das jetzt nicht nur auf die DDR, aber natürlich auch auf sie – geringzuschätzen. Es gibt keinen Grund, zu behaupten, das System habe versagt. Das zu sagen, ist meiner Meinung nach etwas für Leute, die ganz laut »Hier« gebrüllt haben, als der liebe Gott den Kleinmut verteilte. 72 Jahre sind wirklich nicht so viel.

Die Eltern vieler, die hier sitzen, sind älter als der Beginn der Oktoberrevolution her ist.

Das ist alles nicht nur beruhigend

Natürlich durchleben wir eine bittere Zeit, da ist nichts zu beschönigen. Man hat das Gefühl, dass sich die Sowjetunion faktisch in einer Art Zerreißprobe befindet.

Niemand soll in irgendeiner Weise mit dem geringsten Ansatz von Arroganz über die Sowjetunion reden. Die Führung dieses Riesenlands mit 300 Millionen Menschen zu ver­antworten, darüber kann man leicht daherreden. Und ich glaube, wir alle haben begriffen, und wir sagen das ja auch, dass die Notwendigkeit strikter Veränderung in der SU absolut gegeben war, und dass in der Stagnation zu verbleiben, keine Alternative gewesen wäre.

Zugleich ist der Prozess, der daraus entstanden ist, einer, der offensichtlich in äußersten Widersprüchen verläuft und manches macht außerordentlich besorgt. Das Besorgtsein darf auch nicht verübelt werden. Nehmen wir nur die Nationalitätenproblematik, die nicht entstanden ist in der Zeit seit 1985, also seit Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU ist. Aber – bestimmte Kräfte haben durch bestimmte Konstellationen jegliche Scheu verloren. Ich meine, wenn in einer baltischen Sowjetrepublik vor wenigen Tagen im Beisein hunder­ter Menschen ein Denkmal eingeweiht wurde, durch welches eine offizielle, also unter Lei­tung der Gestapo stehende, faschistische Diversionsgruppe gewürdigt wird, die den Ein­marsch der deutschen Faschisten vorbereitete, dann ist faschistoid sozusagen ein abge­schwächter Begriff für diesen Vorgang. Das sind natürlich Extreme. Die können einem absolut Sorge machen. Ich will nur sagen, das ist doch alles nicht nur beruhigend, und wie Ihr alle wisst, ohne die Sowjetunion geht nichts. Der Sozialismus ohne die Sowjetunion ist nicht denkbar. Und ich glaube, auch die Existenz der Zivilisation ist, langfristig betrachtet, nicht denkbar. Deshalb gehört unsere ganze Sympathie den notwendigen Veränderungen.

Eine andere Haltung dazu kann es nicht geben. Aber, wie in allen Dingen des Lebens sind diese schwierigen gesellschaftlichen Prozesse mit lautem Hurra-Gebläke und ohne Nach­denken nicht zu bewältigen.

Das gilt nicht nur für die Sowjetunion oder die DDR. Wir erleben die Problematik in Ungarn. Die Partei dort, hat man den Eindruck, löst sich völlig freiwillig von alleine auf. Die Gründe dafür kann man erklären. Aber ob man in Anbetracht dieser Gründe dann kämpft oder Parteimitgliedern Zettel ins Haus schickt: »Wenn Sie noch weiter mitmachen und Beitrag bezahlen wollen, teilen Sie es bitte mit«, weil man mit den Austritten nicht mehr nachkommt, so ist das beschriebene Vorgehen natürlich alles andere als eine kämpferi­sche Position. Die Genossen in Polen kämpfen, aber das Kräfteverhältnis ist, wie wir alle erkennen, äußerst problematisch. Wir haben die Erschütterungen in China erlebt und wir selbst stehen tagtäglich im härtesten Kampf in unserem eigenen Alltag und wissen um die Probleme und Sorgen und an mancher Stelle auch um die Nöte.

Andererseits: in puncto Abrüstung ist in den letzten Jahren etwas in Bewegung geraten politisch, rein faktenmäßig ist es nur ein Anfang. Aber auch diesen Anfang hätten wir vor wenigen Jahren kaum für möglich gehalten. Und der Ausgangspunkt liegt bei der Sowjet­union, bei den sozialistischen Staaten.

Oder nehmen wir die Annäherung zwischen der Sowjetunion und China. Ähnlich wie die anderen Dinge, die ich eingangs nannte, hätte jeder von uns vielleicht noch vor 7, 8 Jahren gesagt: Überhaupt nicht denkbar, überhaupt nicht möglich! Und wie wichtig für die Welt, was für eine Hoffnung!

Es scheint nichts mehr so zu sein, wie wir es gelernt haben, und deshalb haben die es leicht, die sagen: Alles, was Ihr gelernt habt, stimmt nicht mehr. Der Marxismus-Leninis­mus ist eine Utopie, und der Sozialismus ein misslungenes Experiment.

Zwei-Drittel-Gesellschaft sympathischer als die Permanenz sozialistischer Mangel­wirtschaft?

Wenn es etwas gibt, wogegen wir uns mit aller Kraft stemmen müssen, dann ist es diese von der bürgerlichen Ideologie geprägte Sichtweise. Und wer sich dagegen nicht stemmen will – das gibt es auch – der bekennt aber damit, dass er auf einer anderen Position steht. Da muss man dann über andere Fragen diskutieren, wenn es einen Sinn hat. Es gibt ja auch hochgradige Verbissenheit, da hat es keinen Sinn. Die, die sagen, der Marxismus sei ein Dogma, die sind wahrscheinlich noch nicht mal die härtesten Nüsse. Denn meine Erfahrung in solchen Diskussionen ist: Wenn man dann fragt, worin das Dogmatische im Einzelnen besteht, stößt man im Regelfall auf gewisse Schwierigkeiten des polemischen Vermögens, das näher zu erklären.

Mit anderen Worten, das Wissen erschöpft sich im Nachbeten, im Herbeten der modernen Phrase uralter Prägung. Bekanntlich haben nicht nur wir an manchen Stellen die Fähigkeit zur Phrase.

Gefährlicher ist meiner Meinung nach etwas anderes. Gefährlicher ist die Position, die Analyse von Marx stimme schon, aber der Mensch ist so, wie Nietzsche ihn sah, und des­halb hat eine von Ausbeutung freie Gesellschaft keine Chance.

Ein schöner Traum, der Sozialismus, sagen sie uns, Ihr habt ihn geträumt. Und wir verste­hen auch, Ihr könnt ja nicht mehr umdenken. Wir sind Euch dafür nicht böse, aber, es tut uns leid, modern seid Ihr damit nicht. Ihr seid nicht rücksichtslos, nicht hemmungslos, also zutiefst hinter mehreren Bergen. Die Zwei-Drittel-Gesellschaft ist das erstrebenswerte.

Bei mir war jemand zu einem Gespräch, und das war nicht das einzige, welches in diese Richtung ging, der ein Projekt dringend haben wollte. Ein vernünftiges Projekt. Aber wir haben nicht das Geld, um es zu finanzieren. Ich musste ihm das sagen und auch, dass jetzt erst einmal notwendige Investitionen in der Volksbühne, am Theater der Freundschaft und am Metropol-Theater gewährleistet werden müssen. Das seien momentan im Kulturbereich die neuralgischsten Punkte in materieller Hinsicht und es würde vorn und hinten nicht aus­reichen, gemessen an dem, was eigentlich erforderlich wäre.

Und ich sagte: »Das was Du vorschlägst, wir wollen wir es nicht vergessen, aber in diesem Jahrhundert ist das nicht mehr drin. Da fragte mein Gesprächspartner, ein Genosse, ein junger Genosse: »Schämst Du Dich nicht, mir das so offen zu sagen?« Ich antwortete, dass ich mich schämen würde, würde ich ihn belügen, indem ich z.B. sagte, die SED-Bezirkslei­tung habe mit Kapazitäten materieller Natur nichts zu tun. Er solle zum Magistrat gehen. Und ich wüsste ganz genau, die könnten ihm dort nichts anderes sagen. Dafür würde ich mich schämen, gesetzt den Fall, so ein bürokratisches Verhalten würde bei mir dann noch Scham auslösen. Natürlich löse unsere materielle Situation bei mir keine Freude aus, aber für offene Worte würde ich mich nicht schämen. Mein Gesprächspartner, in der gleichen Partei, wie ich, antwortete: »Weißt Du, wenn das so ist,« – jetzt komme ich wieder zu dem Punkt zurück – »dann muss ich mich doch fragen, ob die Zwei-Drittel-Gesellschaft nicht sympathischer ist als die Permanenz sozialistischer Mangelwirtschaft.«

Da hab ich zu ihm gesagt: »Weißt Du, das kann man so sehen, aber wozu Du dann ein Partei­buch in der Tasche hast, verstehe ich nicht. Die Sichtweise von Kommunisten ist das nicht. Und dass Du so redest, hat in allererster Linie etwas mit zwei Dingen zu tun. Zum einen gehörst Du zu der Kategorie von Menschen, die sich sehr sicher ist, dass sie nicht zu dem einen Drittel des sozialen Rests gehören würde, und zum anderen: Deine dreijährige Tochter läuft niemals Gefahr, wenn die Dinge halbwegs normal bleiben, zu den 40.O00 Kindern in der Welt zu gehören, die tagtäglich vor Hunger krepieren, bevor sie fünf Jahre alt sind.«

Ich will damit sagen: Ob man sich dessen bewusst ist oder nicht: Der Sozialismus gewährt soziale Sicherheit. Klaus hat zum Beispiel im Referat auf die sichere Gewährleistung einer Lehrstelle für jedermann verwiesen und dass auch eine Arbeitsstelle nach der Lehre sicher ist. Da denkt doch mancher – jeder von uns, würde ich sagen –, dass diese Sicherheiten nicht nur positive Auswirkungen haben.

Die Sozialpolitik ist ganz offensichtlich eine Sache, die in erster Linie positive Seiten hat, aber die sozusagen nicht schwarz-weiß zu sehen ist. Es gibt bestimmte negative Wirkun­gen – wir haben bisher die Mechanismen nicht zur Genüge gefunden, diese negativen Aspekte zu kompensieren –, die davon zeugen, dass unsere Sozialpolitik auch missbraucht werden kann. Ein Riesenproblem. Sehr interessant in diesem Zusammenhang ist der heute bereits mehrfach zitierte Artikel von Otto Reinhold, der diese Frage behandelt. Also, so ein ganz kleines bisschen, wenn es ganz konkret wird, wünscht man sich schon den sozialen Druck. Aber wenn der soziale Druck den eigenen Jungen beträfe, dann sagt man doch eher nein dazu. Die anderen, das ist anonymer, das ist abstrakter.

Wie auch immer: In dieser Hinsicht haben wir wirklich noch vieles zu tun. Aber ich glaube, die Sache als solche – dass die soziale Existenz gesichert ist –, die sollten wir von uns aus nie in Frage stellen. Ich glaube, dass der Ersatz für den Marxismus-Leninismus eine Theo­rie des sozialen Egoismus ist und auch bei uns wäre. Wir müssen wissen, ich bin davon zumindest überzeugt, dass die Alternative zum Marxismus-Leninismus nicht der Klassen­frieden ist, sondern die Gleichgültigkeit, die Kälte der Bessergestellten zu den im Elend Lebenden, was nicht bedeutet, dass es solche Haltungen im Sozialismus nicht gibt.

Was wäre denn die Alternative?

Es gibt auch Leute, die bessergestellt sind und denen es egal ist, wie es anderen geht. Es gibt Karrierismus, es gibt das alles, das ist übrigens keine neue Feststellung.

Die Frage lautet allerdings, ist das systemimmanent, oder muss es so etwas im Sozialis­mus nicht geben? Haben wir Einfluss drauf, dass Egoismus und Karrierismus im Sozialis­mus nicht ewig existieren können, oder lässt sich da nichts machen? Weil das System gar nicht anders funktioniert?

Dass im Sozialismus z.B. Egoismus und Karrierismus nicht systemimmanent sind, ist nicht unbedingt tröstlich, wenn man solches konkret erlebt. Und doch ist es entscheidend, dass diese aus den Ausbeutungsgesellschaften resultierenden Verhaltensweisen nicht zu den Funktionsmechanismen unserer Gesellschaftsordnung gehören.

Und wenn – ausgehend von unseren Schwächen und Fehlern – schon die Frage diskutiert wird, ob der Sozialismus eine Chance hat, und diese Diskussion darf nicht tabuisiert wer­den, dann muss man sich auch über die Frage verständigen, was wäre denn die Alterna­tive? Wie würde denn die Welt – spinnen wir doch mal – aussehen, würde der Sozialismus wieder kaputtgehen? Also, die einen haben die Vorstellung, der Kapitalismus würde vor lauter Freude, dass die weltrevolutionswütigen Kommunisten nun weg sind, ihrerseits frei­willig auf den bisherigen Mechanismus der Entwicklung von Kapital verzichten. Ich halte das für einen schönen Traum.

Und wenn man sich so eine Geschichte, über die man nicht viel erfährt, anguckt – die ist natürlich kein Thema im Vergleich zu den Ereignissen an der ungarisch-österreichischen Grenze – wie die Fusion von Messerschmitt-Bölkow-Blohm und Mercedes, dann wissen wir als marxistisch gebildete Leute, was das heißt. So sähe die Perspektive ohne Geniertheit und ohne die Notwendigkeit von Rücksichtnahmen auf einen Systemgegner aus.

Etwas anderes würde geschehen. Ich bin überzeugt, ein fortschrittliches Nicaragua, ohne­hin seit 7 Jahren bekämpft im Norden und im Süden, würde keinen Tag mehr sein. Worauf sollte man auch Rücksicht nehmen? Oder was würde aus Kuba? Vom Schicksal der lateinamerikanischen Völker nicht zu reden. Südafrika, Namibia. Nichts müssten sie mehr berücksichtigen. Und, man würde alles tun, um die moderne Sklaverei zu verewigen. Natürlich würde das auf Dauer nicht gehen.

Heiner Müller hat, das hat mir gefallen, in einem Interview, in dem er gefragt wurde, ob er glaubt, dass der Sozialismus eine Utopie war, gesagt, er weiß nicht genau, ob jede einzelne Konzeption so aufgegangen sei, und sicherlich seien eine Menge Fehler gemacht worden, aber solange es Arm und Reich gäbe auf der Welt, würde es eine sozialistische Konzeption geben und den Kampf um deren Verwirklichung. Das sei ein objektiver Tatbestand. Ich hab mit Absicht einen Mann wie ihn zum Zeugen angerufen. Ein Mann, der sich übrigens einen Kopf um diese Probleme macht, auch wenn manches, was er dann künstlerisch umsetzt, schwer verständlich ist und man auch nicht mit allem, wie er es sieht, übereinstimmt.

Wir haben viele Leute mit Verantwortungsgefühl für dieses Land, die für dieses Land etwas machen wollen. Nein, die Alternative kann für uns nur heißen: Der Sozialismus muss durchkommen, die DDR muss durchkommen, und dafür lohnt es sich, alles zu tun.

Wir haben bald den 40. Jahrestag der Gründung der DDR. Natürlich wäre es schön, wir könnten diesen Jahrestag in dem Bewusstsein feiern, es sei alles gelaufen. Aber wir kön­nen den 7. Oktober 1989 auf jeden Fall in dem Bewusstsein begehen, dass wir 40 Jahre auf der Seite des Friedens gestanden haben, und dass wir etwas auf die Beine gestellt haben, was bei aktuellen Konflikten nicht das schlechteste Zeugnis dafür ist, dass Sozialis­mus geht.

Der Kampf, der tobt, betrifft eigentlich die ganze Welt

Ich habe nicht versucht, so zu tun, als hätte ich auf alles eine Antwort parat. Ich hoffe, der Eindruck ist nicht entstanden. Niemand hat heute auf alles eine Antwort. Aber einen Standpunkt, den kann man und den muss man einnehmen. Und wenn man sich noch so quält: Immer wieder, so glaube ich, müssen wir – das ist unsere Verantwortung, gerade vor jungen Leuten – die Kraft in uns selbst aufbringen, zu kämpfen. Und, wenn ich das nehme, was die Judith von der 0ssietzky-0berschule hier gesagt hat, oder wenn ich auch den Bei­trag nehme von der Antje – es klingt jetzt vielleicht ein bisschen albern, weil so lange bin ich ja aus der FDJ nicht raus, aber fünf Jahre sind im Moment viel – dann hatte ich das Empfinden, gerade den jungen Leuten fällt es leichter, mit der Polemik umgehen zu lernen als manchem von uns. Sie werden damit groß. Und das macht uns nicht schwächer. Und wenn wir das durchstehen, werden wir nicht schlechter sein hinterher, nicht weniger überzeugend, nicht weniger anziehend, nicht unattraktiver, aber zurzeit ist es eben sehr schwer. Und es wird keine Sache von Wochen, von Monaten sein. Es ist ein Kampf, der tobt, der eigentlich die ganze Welt betrifft.

Und wer dachte, der sozialistische Weg sei ein Spaziergang – es ist eben keiner. Und die Amis setzen 10-Tonnen-Spionagesatelliten über der Sowjetunion in einer solchen Zeit nicht umsonst ab. Und das Interesse am Panama-Kanal. Was die USA dort veranstalten.

Man stelle sich das das mal umgekehrt vor. Undenkbar, was da los wäre!

Manche denken, das betrifft ja nur die Menschen in Panama. Das ist weit weg. Da sind die Vietnamesen schon näher an uns dran – Antje hat darüber gesprochen. Über die Kaufhalle, wo sowieso manches fehlt. Und dann ist da das Wohnheim der Vietnamesen in der Nähe, die zusätzlich den Mangel befördern, meinen manche. So schnell kann Nationalismus gehen.

Und gerade deshalb müssen wir darüber reden. Wir müssen unsere internationalistische Überzeugung klarmachen. Wer überhaupt keine Überzeugungen hat, der kann sich ja unheimlich gut vorkommen. Bloß, der macht es sich ganz leicht. Keine Position zu haben, ist keine geistige Anstrengung und charakterlich schon gar keine.

Ich will schließen mit folgendem: Vielen von Ihnen ist vielleicht der Prof. Moritz Mebel ein Begriff. Der also in Einheit mit der Tatsache, dass er ein anerkannter, international renom­mierter Arzt ist, ein Mann ist mit einer großen Vergangenheit, der als Offizier der Sowjetar­mee gegen den deutschen Faschismus gekämpft hat. Er hat mir folgende Geschichte berichtet und mir erlaubt, sie weiter zu erzählen:

Pfingsten, nach der Demonstration im Rahmen des Nationalen Jugendfestivals, geht er die U-Bahn-Treppen runter mit dem Parteiabzeichen an der Jacke. Ihm entgegen kommt eine Gruppe von vielleicht zwanzig punkartig aussehenden Jugendlichen. Er überlegt, kehr ich um? Er war alleine. Außer denen war keiner weiter da. »Nein«, sagt er sich und geht weiter. Die kommen auf ihn zu. Einer tritt ihm entgegen, guckt ihn an und sagt: »Na, Onkelchen! Kann man den Bonbon haben?« Und da hab ich gesagt: »Ja, mein Junge, das Abzeichen kann man haben. Man muss es sich verdienen, man muss anständig arbeiten, man muss eine vernünftige Haltung zum Leben haben, man muss das wollen, was die Partei will. Dann kannst auch Du das Abzeichen haben.« Schweigen folgte. Dann ging die Truppe weiter.

Kann man deren Reaktion für einen Zufall halten? Ich glaube, es war keiner. Ich glaube, da hat einfach imponiert, dass jemand sich als nicht feige erwiesen hat, dass er Haltung gezeigt hat, dass er Würde gezeigt hat. Würde ist wichtig. Nicht das umgekehrte, wovon Kästner sagte: »Was immer auch geschieht - nie sollst du so tief sinken, von dem Kakao, durch den man dich zieht, auch noch zu trinken.« Was ja auch manche tun.

Nicht bereit, in die Knie zu gehen

Abschließend will ich noch einmal auf den Film »Die Verlobte« zurückkommen. Wer ihn nicht gesehen hat: Wenn er mal läuft, unbedingt angucken – selbst wenn er im Westfern­sehen gezeigt wird.

Die Lindau, die Verlobte, arbeitet in der Gefängniswaschküche. Der Faschismus hat die Sowjetunion überfallen. Jeden Tag eine neue Siegesmeldung.

Vorwärts und vorwärts und vorwärts marschieren die faschistischen Truppen. Und die Lindau fragt eine ältere Genossin, die von Irma Münch-Minetti dargestellt wird, ob dies das Ende sei? Was soll werden? Und die ältere sagt: »Pass mal auf, noch zwei, drei Monate, dann kommt das zum Halten. Das Land ist so groß.« Dann dreht sich die Lindau um, und die Kamera zeigt das Gesicht der Älteren, wie sie weint. Ohne ein Wort spürst Du als Zuschauer, die hat selbst tiefste Zweifel. Die ist sich selbst nicht sicher. Aber die ist nicht bereit, trotz ihrer Sorge und ihrer Zweifel ihre Position zu opfern.

Die ist nicht bereit, in die Knie zu gehen. Sie ist sogar bereit, jemand anderem – und das nicht in Form einer Lüge, eine Lüge ist was anderes – Mut zu machen, nicht aufzugeben in einer Situation, wo man offensichtlich doch alles verloren hätte, wenn man den Glauben nicht daran hätte behalten können, dass letztlich der Faschismus geschlagen wird.

Ich fand gerade diese Szene sehr beeindruckend und nicht nur für damals nachdenkens­wert.

Klaus hat ja zu den schulpolitischen Aufgaben gesprochen – vom polytechnischen Unter­richt über den militärischen Berufsnachwuchs, über all die Dinge, die Euch im Alltag bewe­gen. Ich will da nichts wiederholen. Ich will nur die Bitte unterstreichen: Klug, mit viel, viel, viel Wärme und Vertrauen die Pionierorganisation und die FDJ – ich vermeide das Wort »zu helfen« – in die Lage zu versetzen, dass die Jungen und Mädchen untereinander miteinan­der zurechtkommen.

Das bewirkt manchmal mehr als unser Wort. Aber das geht nicht von allein. Es geht nicht durch Gängelei. Und, wie gesagt, wir waren alle beeindruckt von dem, was Judith hier gemacht hat.

Aber ich bin fest überzeugt, an jeder Schule, überall gibt’s Jungen und Mädchen, gibt es FDJ-ler mit dieser Haltung und mit dieser Bereitschaft, Positionen zu vertreten. Das ist unser Hauptkapital. In diesem Sinne wollte ich zu einigen brennenden Fragen versuchen, einen Standpunkt zu sagen.

Ich danke Ihnen sehr im Namen des Sekretariats der Bezirksleitung unserer Partei für die große Arbeit, die im vergangenen Schuljahr geleistet wurde und möchte Ihnen allen für das bevorstehende, das nicht leicht werden wird, viel Erfolg, vor allem aber auch ein Stück Freude und persönlich Gesundheit und Kraft wünschen. Herzlichen Dank!

 

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