Ukraine 1918. Fiasko eines deutschen Abenteuers - Teil 1
Rolf Richter, Bündnis für den Frieden Eberswalde
Nach "orangener" und "Rosenrevolution" in der Ukraine und Georgien betreibt der Westen die Aufnahme dieser Länder in EU und NATO, als gäbe es keine Großmacht Rußland. An die Staatsspitze geschobene Vertrauensleute – Juschtschenko, Saakaschwili – erinnern an frühere Statthalter fremder Mächte in der Region. Die Bundesregierung gibt sich unbeteiligt, hat aber tief die Finger drin. Walter Romberg (SPD), vormals Finanzminister der Regierung de Maizière, bezeichnete 2002 in einem Vortrag zur "künftigen Rolle der Bundesrepublik" vor dem Eberswalder Friedensbündnis Ukraine und Kaukasus als Schwerpunkte deutscher Außenpolitik. Wenig später gab es dort die erwähnten Regimewechsel. Die deutsche "Osteuropaforschung" befaßt sich intensiv mit Strategien der Einflußnahme in Zielgebieten deutscher "Interessen". 2005 richtete die "Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen" eine Tagung zur Entwicklung in den Randstaaten Rußlands aus. Der geographische Rahmen umfaßte auch die "ressourcenbasierten Staaten der kaspischen Region". Im US-Politjargon betrachtete Anja Franke dort NGOs "am Beispiel von Kasachstan" als "door opener" (Türöffner) und "watchdogs" (Wachhunde) für westliche Interessen. [FRANKE, Anja, in: Osteuropaforschung - 15 Jahre "danach". Beiträge für die 14. Tagung junger Osteuropa-Experten. Unter: www.politik.uni-kiel.de/publikationen/SammelbandOE.pdf. Neu erschienen: BOECKH, Kathrin, u. Eberhard VÖLKL, Ukraine. Von der Roten zur Orangenen Revolution. Regensburg 2007; SCHNEIDER-DETERS, Winfried, Peter W. SCHULZE, Heinz TIMMERMANN (Hrsg.), Die Europäische Union, Rußland und Eurasien. Die Rückkehr der Geopolitik. Berlin 2008.] Bemühungen, über Oppositionsgruppen und "bunte Revolutionen" westlich orientierte Regime an den Grenzen Rußlands zu installieren, stoßen zwangsläufig auf dessen Widerstand. Frau Merkels Versuch, Ukraine und Kaukasus ins eigene Einflußgebiet einzubeziehen, ohne die Beziehungen zu Rußland zu gefährden, bedeutet also die Quadratur des Kreises. Diese Politik der Bundesregierung verstößt gegen das übergeordnete deutsche Interesse an guter Nachbarschaft mit Rußland.
1941 gehörten Ukraine und kaukasisches Öl zu den Hauptzielen der faschistischen Aggression. Auch 1918 standen schon einmal deutsche Truppen in Georgien und der Ukraine. Kontinuität deutscher Expansionsziele? An das Revolutionsjahr 1918 und die Niederlage des deutschen Imperialismus vor 90 Jahren erinnern deutsche Medien tunlichst nicht. Hinter den Kulissen befassen sich aber deutsche "Ostforscher" intensiv mit damaligen Versuchen, über nationalistische und separatistische Bewegungen abhängige Satellitenstaaten zu schaffen. So bildeten Baltikum und Ukraine die Schwerpunkte einer Tagung des "Nord Ost Instituts" Lüneburg. [Loyalität, Legalität, Legitimität. Zerfalls-, Separations- und Souveränisierungsprozesse in Ostmittel- und Osteuropa 1914-1921. Tagung des Nordost-Instituts in Lüneburg, 9.-11. 10. 2008. www.ikgn.de/veranstaltungen.loyalität.htm.] In Rußland erinnert man sich ebenfalls – mit Sorge – an die damaligen Ereignisse. [GUK, Sergej, Intervention unter dem Motto "Rußland retten". Stimme Rußlands, 19. 9. 2008. www.ruvr.ru / EINBLICK IN DIE GESCHICHTE.] Die große Koalition ist drauf und dran, uns in transatlantischer Gefolgschaftstreue in einen ernsten Konflikt mit unserem östlichen Nachbarn zu steuern. Anlaß genug, sich auf Lehren der Geschichte zu besinnen. In die folgende Darstellung fließen auch Erfahrungen meiner Familie ein.
I. Kiew
Im Ringen um den Sieg im ersten Weltkrieg meinte die deutsche Regierung den entscheidenden Trumpf zu besitzen. Nach der Februarrevolution 1917 wurde dem zusammenbrechenden Rußland das tödliche "Gift", die bolschewistische Revolution, "injiziert" (Arnold Zweig). Die "Injektionsspritze" war der plombierte Zug, der die bolschewistische Führung mit Lenin aus der Schweiz nach Schweden brachte. Dem Oktoberumsturz 1917 folgten das "Dekret über den Frieden" und der Waffenstillstand von Brest-Litowsk. Die Ostfront hatte sich offenbar erledigt. In Kiew regierte seit 1917 die Zentralrada ("Rat") der "Ukrainischen Volksrepublik", eine Koalition von rechten Sozialdemokraten (Menschewiki) und Sozialrevolutionären. Doch im Januar 1918 entstand in Charkow die Sowjetrepublik Ukraine. Kiew und weite Teile der Nordukraine wurden von Sowjettruppen besetzt. Kein Finger rührte sich für die bedrängte Rada. "Es wirkte auf mich sehr niederschmetternd, daß es in der damaligen Lage völlig undenkbar war, das Volk zum Kampf gegen den Bolschewismus aufzurütteln", gestand der Zarengeneral Skoropadskij, Armeekommandeur an der Südwestfront, der sich, von seinen Soldaten verlassen, als Arbeiter verkleidet nach Kiew durchschlug. [SKOROPADSKYJ, Pavlo, Erinnerungen 1917 bis 1918. (Hrsg. Günter Rosenfeld. In: Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 55). Stuttgart 1999. Die weiter unten zitierten deutschlandkritischen Passagen der Erinnerungen wurden bei früheren auszugsweisen Veröffentlichungen weggelassen, da der Autor nach Deutschland emigriert war. Die zitierte Publikation ist die erste vollständige.] Die nach Zhitomir geflohene Rada rief die Deutschen und Österreicher zu Hilfe und schloß, ebenfalls in Brest-Litowsk, mit ihnen einen Separatfrieden. Er erlaubte den "Schutzmächten", das Land zu besetzen und auszubeuten, das sie bisher nicht hatten erobern können. Rußland wurde gezwungen, die "Unabhängigkeit" der Rada-Ukraine anzuerkennen.
Der Zusammenbruch der russischen Front löste bei der Obersten Heeresleitung (OHL) und bei den "Alldeutschen" Euphorie aus. Bis Mai 1918 wurden 53 kampfstarke Divisionen vom Osten an die Westfront verlegt. Bevor die USA wirksam in Frankreich eingreifen konnten, sollte dort der Gegner geschlagen werden. Wirklich brachten die deutschen Offensiven im Frühjahr 1918 zunächst Erfolge, nicht aber den Erfolg. Und sie kosteten Blut. Die Reserven waren schnell verbraucht. Doch die OHL hatte weitreichende Pläne. Arnold Zweig, damals im Apparat von "Ober-Ost" [Ober-Ost: Im Militärjargon Militärverwaltung und Befehlsbereich des "Oberbefehlshabers Ost", also Baltikum (8. Armee), Weißrußland (10. Armee), Ukraine (Hgr. Kiew). Sitz von Ober-Ost war 1918 Kowno (Kaunas).] tätig, schilderte leicht ironisch eine der Planungsbesprechungen in der Zentrale des Ostheeres: "Der linke Flügel des Heeres zieht mit Schwung auf Dünaburg, Dorpat, Reval - ganz Estland, Lettland und Livland unter deutsche Befreiung und Herrschaft zu stellen ... der rechte Flügel aber rückt auf Kiew – auf Kiew, Odessa, Gott weiß wie weit ... Heeresgruppe Lychow (der Name meint Generalfeldmarschall von Eichhorn, Befehlshaber in der Ukraine) wird... die Ukraine einnehmen und der armen Rada oder Regierung schon helfen, den Sonderfrieden zu erfüllen ... und Weizen, Petroleum, Zucker, Tabak und Mais ins blockierte Deutschland zu schicken." [ZWEIG, Arnold, Einsetzung eines Königs. Berlin u. Weimar 1974.] Zunächst kam es auch so. Am 18. Februar begann die Offensive der Mittelmächte. Die Rada kehrte nach Kiew zurück, die Österreicher rückten Mitte März in Odessa ein. Skoropadskij: "Ich erinnere mich, wie ich, aus dem Fenster blickend, ein in glänzender Ordnung in Kiew einziehendes deutsches Husarenregiment beobachtete ... Wer hätte sagen können, daß diese glänzende deutsche Armee sich ... innerhalb von acht Monaten in eine Herde von kümmerlichen Schwätzern verwandeln würde, die jeder Bolschewik entwaffnen konnte ..." [SKOROPADSKYJ, Pavlo, a.a.O. In dem "glänzenden" deutschen Ostheer dienten allerdings schon damals überwiegend Mannschaften über 38 Jahre, sogar 48-Jährige (Jahrgänge 1870/71!), und viele Polen und Elsaß-Lothringer, die nicht bereit waren, für die "deutsche Sache" zu kämpfen.] Im Mai war Rostow am Don erreicht, deutsche und türkische Truppen besetzten Transkaukasien.
Die Besatzer stoppten die Agrarreform der Rada und gaben das Land teilweise den alten Besitzern zurück. Im Kreis Odessa besaßen etwa 68.000 deutsche Kolonisten (10% der Bevölkerung) 1914 etwa 38% des Bodens [PENTER, Tanja, Odessa 1917. Revolution an der Peripherie. Köln Weimar Wien 2000.], auf der Krim waren über 80.000 ha (mehr als 60% der Nutzfläche – vorwiegend Großbesitz) in ihren Händen. Sie und die russischen und polnischen Magnaten in der Ukraine, die Tyszkiewicz und Radziwill, Potocki und Lubomirski, waren also primär die Nutznießer des Einmarsches der Mittelmächte. [Die Fürsten Radziwill besaßen 70 Tha Land und 40 Tha Wald, 80 Vorwerke, 4 Zuckerfabriken, 3 Brennereien und Brauereien. Die Branicki verfügten über 45 Güter mit 55 Tha, 7000 Stück Vieh, 4000 Pferden und 5000 Zugochsen. Sie erzeugten 50.000 t Druschfrüchte und 11.000 t Zuckerrüben im Jahr, vgl. WERTHEIMER, Fritz, Durch Ukraine und Krim. Stuttgart 1918.] Den konservativen deutschen Militärs paßte allerdings ihr Vertragspartner, die Rada, nicht – zu links, zu wenig kooperationswillig, eher zur Entente tendierend. Doch dieses Problem war schnell gelöst. Ende April putschte General Skoropadskij und ließ sich, nach ausgiebiger demagogischer Vorbereitung, zum Hetman der Ukraine ausrufen. Natürlich hatte er sich vorher mit dem Stabschef der Heeresgruppe Kiew, General Groener [Wilhelm Groener, ab 1911 Chef der Eisenbahnabteilung im Großen Generalstab, 1916/17 Chef des Kriegsamts und Kriegsernährungsamtes, war der denkbar beste Experte für die Ausbeutung der besetzten Ukraine.], verständigt. Die Deutschen begünstigten den Sturz der schwachen Regierung, zumal der künftige Militärdiktator, konservativ, dem Hochadel entstammend, im Einverständnis mit dem Verband der (Groß-) Grundbesitzer handelte. Wenige Tage vor dem Putsch, bemerkt Wertheimer [WERTHEIMER, Fritz, Durch Ukraine und Krim, a.a.O.], "entdecken die deutschen Behörden die Rada- und Ministerverschwörung gegen die deutschen Truppen; sie sind gezwungen, zur Verhaftung einzelner Rädelsführer zu schreiten" (verhaftet wurde u.a. der Kriegsminister der Rada!). Unterstützt von der Hetmanverwaltung, machten sich die Besatzer an die Arbeit. "Alle diese Herrschaften", schrieb Skoropadskij rückblickend, "erschienen in der Ukraine mit unzweifelhaft weitreichenden Plänen. Nicht umsonst wurden sie von hervorragenden Spezialisten für Finanzen, Industrie und Handel begleitet. Es wurden alle möglichen Projekte für die Gründung von Banken ausgearbeitet. Vertreter verschiedener Firmen schwirrten in der Ukraine umher. In Deutschland wurden verschiedene Gesellschaften für die Ausbeutung unserer Reichtümer gebildet. Es wurde auch Druck auf die Ministerien ausgeübt in der Frage der Eisenbahnkonzessionen usw. ... Gleichzeitig mit den großen Firmen und Unternehmern erschien in der Ukraine eine Masse von Gaunern, eine Art hungriger Schakale." [SKOROPADSKYJ, Pavlo, a.a.O.]
Die deutschen Pläne reichten aber weiter. Der österreichische Heeresstab in Odessa berichtete nach Wien: "Deutschland verfolgt in der Ukraine ein bestimmtes wirtschaftlich-politisches Ziel. Es will sich für immer eine ungefährdete Straße nach Mesopotamien und Arabien über Baku und Persien sichern. Der Weg nach dem Osten führt über Kiew, Jekaterinoslaw [heute Dnjepropetrowsk – R.R.] und Sewastopol, wo der Seeweg nach Batum und Trapezunt beginnt. Zu diesem Zweck beabsichtigt Deutschland, die Krim als Kolonie oder in anderer Form zu behalten ..." [TOLSTOI, Alexej, Das Jahr Achtzehn (Trilogie Der Leidensweg, Bd. 2). Berlin 1946, S. 405.] Konjunktur hatten auch absurde Thronprojekte deutscher Fürstensprosse. Sachsen, Preußen und Württemberger stritten um eine künftige Königskrone Litauens. Arnold Zweig hat das geschildert. In der Ukraine hoffte ein Habsburger auf einen ukrainischen oder galizischen Thron. Erzherzog Wilhelm von Habsburg-Lothringen lief zum Ärger der deutschen Militärverwaltung im Folklorehemd herum und warb Anhänger ("Vasil Vyšyvany" nannten ihn die Ukrainer – "Wilhelm den Bestickten"). Der Realitätsverlust war komplett. Besatzer und Hetman brachten umgehend die Masse der Bauern gegen sich auf – durch Liquidierung der Agrarreform einerseits, durch die Art, wie die Lieferungen für Deutschland in den Dörfern gegen wertloses Besatzungsgeld militärisch requiriert wurden, andererseits.
Im Juli war die Krise unübersehbar. In Moskau putschten die linken Sozialrevolutionäre, die sich wegen Brest-Litowsk aus der Sowjetregierung zurückgezogen hatten. Provokationen sollten den "revolutionären Krieg" gegen die Deutschen erzwingen. Der deutsche Botschafter Graf Mirbach wurde erschossen, dann in Kiew der Oberbefehlshaber von Eichhorn. Mehrere Wochen streikten die Eisenbahner gegen die Ausplünderung des Landes. Schon im Juni begannen die Bauern den Partisanenkrieg, so die anarchistische Machno-Bewegung: "In Flammen gingen die Gutshöfe auf. In Flammen gingen die Getreideschober in den Steppen auf. Partisanentrupps unternahmen dreiste Überfälle auf Dampfer und Frachtkähne mit Getreide, das nach Deutschland ausgeführt wurde ... Die österreichischen und deutschen Truppen erhielten Befehl, die Ordnung wieder herzustellen. Hunderte von Strafexpeditionen durchzogen das Land." [TOLSTOI, A., a.a.O.] Die gingen mit größter Brutalität vor: brennende Dörfer, Massenerschießungen, Galgenreihen als "freundschaftliche Hilfe"! [NORDEN, Albert, Zwischen Berlin und Moskau. Zur Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Berlin 1954; ferner THOMAS, J. (Hrsg.), Illustrierte Geschichte des Bürgerkrieges in Rußland 1917-1921. Berlin 1929.] General Groener bekannte später freimütig: "Es war uns nicht zu verübeln, daß wir das Vorgehn der Österreicher bevorzugten, die das Getreide ohne weiteres Verhandeln requirierten und damit weiterkamen als wir. ..." Kam man damit "weiter"? Denn: "Zu bedenken war bei diesem Feldzug in erster Linie die geringe Truppenzahl, die für eine regelrechte Besetzung und Entwaffnung des Landes viel zu niedrig war." [GROENER, Wilhelm, Lebenserinnerungen. Jugend Generalstab Weltkrieg. Göttingen 1957, S. 389.] So bekam der Partisanenkrieg Nahrung. Kleinere deutsche Einheiten wurden entwaffnet oder gar vernichtet. "Unsere Verluste im Kleinkrieg sind sehr schwer, und die Kühnheit dieser bäuerlichen Plünderer und anderer irregulärer Kräfte wächst von Tag zu Tag", so Vizekanzler Helfferich im August vor einem Reichstagsausschuß. [Zitiert bei NORDEN, Albert, a.a.O., S. 120.]
Da begann – die Besatzungsarmee war schon tief im Kleinkrieg verstrickt – in Frankreich die Offensive der Westmächte. Der Durchbruch der deutschen Front am "schwarzen" 8. August eröffnete die Serie der Rückzüge. Ende September – Revolution in Bulgarien, Krise in Österreich – gab Ludendorff den Krieg verloren und verlangte ein sofortiges Waffenstillstandsangebot an US-Präsident Wilson. Im Osten konnte von hochfliegenden Plänen, von deutscher Siedlerkolonie Krim, "südrussischem Bund" (Ukraine, Dongebiet, Georgien!), nicht mehr die Rede sein. [GROENER, Wilhelm, a.a.O., S. 401.] Ende Oktober verließ Groener Kiew und ging als Nachfolger des abgelösten Ludendorff zur OHL. Natürlich wirkte sich die Lage der Westfront auch in der Ukraine aus. Die Besatzer verloren jegliche Autorität. Im Dezember rückten Petljuras Truppen in Kiew ein und zwangen Skoropadskij zum Rücktritt. [Simon Petljura (1879-1926), ukrainischer Menschewik und Nationalist, Kriegsminister der Rada, Ende 1918 Mitglied des ukrainischen Direktoriums und dessen Truppenführer im Kampf gegen die Deutschen, den Hetman und die Bolschewiki.] Ober-Ost blieb nur der Versuch, die sich auflösende Besatzungsarmee halbwegs geordnet ("ohne wesentliche Zwischenfälle", wie es später der Staatssekretär Dr. Meißner sah) [SALOMON, Ernst v., Der Fragebogen. Reinbek bei Hamburg, 1991, S. 384 f.] nach Deutschland zurückzuführen.
II. Der Rückzug
Halbwegs geordnet? Groener: "Die Truppen [in] der Ukraine wie fast des gesamten Ostens wurden für den Westen untauglich ... Daß sie allerdings in der Ukraine den Gehorsam verweigern würden, hielt ich noch im Oktober für unmöglich." [GROENER, Wilhelm, a.a.O., S. 411.] Aber eben das geschah. "Am 29. September entwaffnete an der Güterstation Kiew ein deutscher Militärtransport seine Offiziere, indem sie ihnen die Achselstücke herunterrissen, 12 Offiziere wurden ermordet. Gegen die Aufständischen wurden Streitkräfte eingesetzt. ..." [GUK, S., Intervention, a.a.O.] Ähnliche Meutereien in Charkow (2000 Mann), Odessa, Schepetowka, Rowno, Orscha, Luzk, Fastowo...
Groeners penible Eisenbahnexperten hatten keinen Evakuierungsplan vorbereitet. Er wäre auch nutzlos gewesen. Denn Mitte November erhoben sich die Polen. Die leistungsfähigen Bahnen durch Galizien und Zentralpolen fielen aus. Den fast abgeschnittenen deutschen Truppen blieb nur der Weg über Kowel-Brest-Litowsk nach Litauen und Ostpreußen. Etra Ost [Etra Ost: Eisenbahntransportabteilung bei Ober-Ost in Kowno.] und Heeresgruppe Kiew planten nun einen etappenweisen Rückzug der 23 Ostdivisionen – ca. 15 in der Ukraine – über 3-4 Monate per Bahn, (je Division 30 Züge, mit allen Waffen und zusammengeraubten Vorräten!) – falls die Ukrainer dafür die Kohlen lieferten. Zwingen konnte sie dazu niemand mehr. Tatsächlich wurde die Ukraine bis Ende Januar geräumt (mit Ausnahme der Schwarzmeerküste). Das "Verdienst" daran schrieb Groener seinen Mitarbeitern, ein "gewisser Oberleutnant Meißner", Verbindungsoffizier bei der Petljura-Regierung, aber sich selbst zu. [SALOMON, Ernst v., Der Fragebogen, a.a.O. Im Buch ist Hauptmann d.R. Meißner irrtümlich Oberleutnant.] Doch ein Verdienst der Heeresleitung war das nicht. An den Umladestellen auf die Normalspur stauten sich zeitweise bis 40 Transporte je Knoten. Die ungeduldigen Soldaten sahen Züge mit Heeresgut an sich vorbeifahren und nahmen schließlich die Sache selbst in die Hand. Sie weigerten sich, auszusteigen, manche erzwangen die Weiterfahrt mit Handgranaten. In Brest nutzte selbst ein Panzerzug gegen die meuternden Transporte nichts – niemand war bereit, auf sie zu schießen. Anfang Dezember besetzen Petljuratruppen die wichtigen Bahnknoten südlich und westlich Kiew und schnitten damit die Heeresgruppe komplett ab. Sie ließen nur entwaffnete Transporte durch. Aber viele Einheiten waren freiwillig zur Entwaffnung bereit und schlugen sich dann auch über Galizien und Polen durch. Der offizielle Bericht beklagt, die Soldaten hätten Waffen und Ausrüstungen den Ukrainern verkauft und sich selbständig auf die Reise gemacht. Nur die Hälfte der Truppe fuhr in offiziellen Transporten, so die Bilanz. Der Rest nutzte den "öffentlichen Verkehr". Der Abtransport von Heeresgut und Vorräten aus der Ukraine mißlang großenteils. Für das Zurückgelassene erpreßte der Hauptmann Meißner von Petljura "Quittungen", die gegen die ukrainischen Guthaben in Berlin verrechnet wurden, wie man bei von Salomon lesen kann. Aus Litauen und Bjelorußland rollten jedoch mehr als 18.000 Waggons mit "Räumungsgut" gen Westen. "Wo der Gegner nicht drängte", liest man, "konnte der Abbau der aufzugebenden [Bahn-] Strecken in Ruhe vor sich gehen ..." [Die Rückführung des Ostheeres. Im Auftrage des Reichskriegsministeriums ... Berlin 1936] Aber zumeist drängte der Gegner. Bei Charkow schnitt die Rote Armee das I. Armeekorps ab. Dessen Soldatenrat verhandelte in Moskau und organisierte den Rücktransport durch Rußland über Minsk und Wilna. Auch andere Soldatenräte vereinbarten über ihre Stäbe hinweg Entwaffnung und Transport mit Sowjets oder Ukrainern, so das XXXXI Korps an der Pinsker Strecke. Sowjetkommandeur Schtschors: "Wir lassen die Deutschen in Ruhe, geben ihnen die Möglichkeit fortzuziehen … Sie verpflichten sich ihrerseits … auf dem Rückmarsch alle Brücken, Telegrafen- und Telefonlinien völlig unbeschädigt zurückzulassen." [GUK, S., Intervention, a.a.O.] Nur in diesen Fällen konnte eigentlich von geordnetem Rückzug die Rede sein.
Überarbeitete Fassung einer in der "Barnimer Bürgerpost", Heft 10-12, 2008, erschienenen Artikelfolge.
Der abschließende Teil 2 mit den Abschnitten "III. Odessa", "IV. Berlin" und "V. Bilanz" folgt im Heft 2/2009.
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2008-01: Émile Zola (1840-1902) am 13. Januar 1898: »J’accuse …!«
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