Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Überlegungen zu zwanzig Jahren Beitrittserfahrung [1]

Ellen Brombacher, Berlin

 

1. Unter den Bedingungen der Restauration des Kapitalismus gibt es keinen dritten Weg. Gäbe es – im Unterschied zur Revolution, die die politischen und Besitzverhältnisse durch einen prinzipiellen Bruch verändert – einen dritten Weg, dann den der allmählichen Kapitalentmachtung via Verstaatlichungen unter bestimmten Rahmenbedingungen mit weitgehend bürgerlich-demokratischem Charakter. Die Geschichte wird die Antwort darauf geben, wie z.B. die Prozesse in einigen lateinamerikanischen Ländern zu beurteilen sind und für welche gesellschaftspolitischen Möglichkeiten sie unter den gegebenen Kräfteverhältnissen stehen.

2. Die folgenden Überlegungen betreffen natürlich nicht nur die DDR, sondern auch die anderen Staaten des Warschauer Vertrages. Die Ereignisse im Herbst 1989 und in den Folgejahren stehen in ihrem historischen Kontext zwar auch für die Notwendigkeit, den gewesenen Sozialismus von – sich in der DDR besonders in den achtziger Jahren verstärkenden – nichtsozialistischen Tendenzen zu befreien, nicht aber für die Umwandlung dieser Notwendigkeit in die Realität. Die Realität, mit der wir es sehr schnell zu tun bekamen, war die Restauration der alten Ordnung, war der Schritt zurück hinter die bereits überschrittene historische Linie. Viele DDR-Bürger, die sich im Herbst 1989 für die Erneuerung der DDR engagierten, wollten diesen Rückschritt nicht. Sie waren sich nicht einmal der Gefahr bewußt, daß es einen solchen geben könnte. Partei und Staatsmacht hatten einen so eklatanten Vertrauensverlust erlitten, daß Warnungen in diese Richtung kaum wahrgenommen worden wären. Allerdings gab es die Warnungen vor dem staatlichen Ende der DDR, direkter gesagt: vor einem Systemwechsel, nicht einmal – sieht man vom Aufruf "Für unser Land" ab. Wir waren – auch und besonders ideologisch – handlungsunfähig geworden.

3. Es ist nicht Gegenstand dieses Artikels, wie es dazu hatte kommen können. Sowohl in Mischa Benjamins "Vermächtnis" als auch in den "Klartexten" finden sich Beiträge, die sich diesem Thema nähern. Der Zeitgeist gibt keine brauchbaren Antworten, die Geschichte und das Ende der DDR betreffend. Nach nunmehr zwanzig Jahren gibt es ein gestanztes Bild: Ein Unrechtsregime mit einer eingesperrten Bevölkerung, die zudem noch durch permanente Repression im Innern unter durch und durch bedrückenden Verhältnissen leben mußte. Jeder Versuch, dieses Klischee in Frage zu stellen, jede Absicht, über konkrete historische Bedingungen zu reden, unter denen die DDR existierte, gilt heutzutage als Geschichtsrevisionismus schlimmster Art. Niemals ist in der Bundesrepublik Deutschland ein auch nur annähernd solcher Haß auf Nazideutschland erzeugt worden, wie auf die DDR. Wer sich dem widersetzt, gilt mindestens als politikunfähig.

Sich diesem Umgang mit der Geschichte zu verweigern gilt als unverzeihlicher Verstoß wider die politische Korrektheit und wird in jedem Falle ideologisch geahndet. Diesem Druck halten auch viele Linke nicht stand. Gerade deshalb ist es auch zukünftig erforderlich, daß sich die KPF besonders in dieser Frage gegen den Zeitgeist stellt – ohne allerdings in die Gegenrichtung zu vereinfachen. Wir müssen die Kunst beherrschen, den gewesenen Sozialismus in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zu analysieren, ohne auch nur eine Spur von Denunziation auf der einen und ohne jegliche Apologetik auf der anderen Seite.

4. Die 1989 vor allem im Referat von Dieter Klein auf dem Sonderparteitag zum Ausdruck gebrachten, in der Partei seinerzeit zunehmend herrschenden Vorstellungen, man könne zwei Systeme auf der Basis ihrer jeweiligen Vorzüge vereinen, mußten sich in kürzester Zeit als Illusion erweisen. Die in der BRD Herrschenden standen, teils schon vor, aber vor allem nach dem Beitritt vor der Notwendigkeit, drei für das "neue" Deutschland konstituierende Voraussetzungen zu schaffen:

  1. Die ökonomisch-politischen Machtverhältnisse der DDR mußten brachial überwunden, besser: gebrochen werden. In kürzester Zeit wurden die Eigentumsverhältnisse in kapitalistische umgewandelt. Haupthebel hierfür war die Einführung der DM. Über Nacht brach der vor allem auf den RGW konzentrierte Außenhandel der DDR zusammen, mit allen ökonomischen Folgen, die von der Treuhand gemäß den westdeutschen Kapitalinteressen "verwaltet" wurden. Mit dem von der Treuhand – spätestens nach dem bis heute unaufgeklärten Mord an deren Chef Detlev Karsten Rohwedder – favorisierten Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" wurde der Prozeß der gesellschaftlichen Enteignung bis zum kleinsten Datschenbesitzer vollzogen.
    Die Industrie der DDR wurde platt gemacht, auch ein Großteil jener Betriebe, die unter den neuen Bedingungen konkurrenzfähig gewesen wären. Der Markt wurde über Nacht mit westlichen Produkten überschwemmt, und die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern entwickelte sich in großem Tempo, während die Marktausdehnung im Osten die sich anbahnende Krise für das deutsche Kapital hinausschob. Die ideologische Hauptmelodie, die zu all dem ertönte, war die Leier über die durch und durch marode DDR. Über diese Grundprozesse der Kapitalismusrestauration gibt es sehr aufschlußreiche Literatur, nicht zuletzt die Recherchen von Daniela Dahn (stellvertretend seien genannt "Westwärts und nicht vergessen – Vom Unbehagen in der Einheit" von 1996, und "Demokratischer Abbruch – Von Trümmern und Tabus" von 2005). Kurt Pätzold bespricht in der jungen Welt vom 9. August 2010 den Artikel "Geschlossene Gesellschaft" (www.sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/34445). Hinsichtlich der Folgen der Kapitalismusrestauration in 20. Beitrittsjahr heißt es u.a.: "Zu den ziemlich nackten Tatsachen. Im Osten, dessen Bewohner 20% der deutschen Bevölkerung ausmachen, sind im Verhältnis doppelt so viele Menschen arbeitslos wie im Westen. Der Verdienst der Ostdeutschen ist um 17% geringer als der, den die Westdeutschen erhalten. Das Minus der ostdeutschen Reallöhne gegenüber den westdeutschen beträgt (dies jeweils im Durchschnitt) 9,5%. Der Niedriglohnsektor ist im Osten doppelt so groß und die Löhne dieser Kategorie betragen durchschnittlich 4,68 Euro, im Westen nahezu sieben. Der Anteil der sogenannten Hartz-IV-Aufstocker ist ebenfalls doppelt so hoch, und der der jugendlichen Arbeitslosen beträgt nahezu das Doppelte. ... In der Bundeswehr gab es 2009 200 Generale, von Ihnen war einer ein Ostdeutscher, was, wie sich leicht errechnen läßt, 0,5% ausmacht. Anders, je näher man der Kategorie der Muschkoten kommt. Auf eine 2009 im Bundestag gestellte Anfrage wurde die Auskunft erteilt: Im Auslandseinsatz befänden sich insgesamt 6.391 Angehörige der Bundeswehr, von denen 3.143 Ostdeutsche seien, also annähernd 50%, bei den unteren Dienstgraden erhöht sich der Prozentsatz auf sechzig." Zurück zu den Ausgangsüberlegungen.
  2. Noch schneller als die Zerschlagung der sozialistischen Produktionsverhältnisse vollzog sich die Transformation bzw. Liquidierung der DDR-Überbaustrukturen. Im Überbau zeigte sich die Krise des gesellschaftlichen Systems am sichtbarsten, bedingt durch die Einschichtigkeit desselben. Dies betraf sowohl die in der DDR existierenden Parteien als auch den gesamten Staatsapparat sowie die Massenorganisationen, begonnen beim FDGB bis hin zur noch am ehesten ihrer ursprünglichen Rolle entsprechenden Volkssolidarität. Es kann ebenfalls nicht Gegenstand dieser Überlegungen sein, im Einzelnen einzuschätzen, ob – und wenn ja in welchem Umfang – Strukturelemente aus der DDR im Zusammenhang mit Transformationsprozessen (z.B. im Kontext mit der Entwicklung der SED zur SED/PDS und kurz darauf zur PDS) im Hegelschen Sinne aufgehoben wurden.
  3. Um diese ökonomischen und gesellschaftspolitischen Restaurationsprozesse zu rechtfertigen und für die Zukunft jeglichen Gedanken an einen sozialistischen Weg im Keim zu ersticken, mußte der gewesene Sozialismus total delegitimiert werden. Kein Bereich wurde und wird ausgespart.
    • Die Geschichte des Sozialismus wird als eine Geschichte des völligen Versagens, der permanenten Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen, als Sackgasse der menschlichen Entwicklung von Anbeginn dargestellt. Dies ging und geht mit perfekter Symbolpolitik einher. (Zerstörung des Palastes der Republik, Streben nach Wiederaufbau des Kaiserschlosses, Schleifen von Denkmälern, Straßenumbenennungen, Schulneubenennungen; von Kasernennamen und ähnlichem ganz zu schweigen)
    • Reale Machtausübung im Sozialismus wird als komplexes Verbrechen dargestellt. Dreh- und Angelpunkt für diese Sichtweise ist die Verteuflung des MfS. Dies geht einher mit materieller Sanktionierung früherer sogenannter Staatsnähe (Rentenstrafrecht bis hin zu den jüngsten Urteilen über Ministerrenten), sowie mit einer Vielzahl von Verurteilungen von früheren Verantwortungsträgern der DDR, bis hin zu einfachen Grenzsoldaten, in den sogenannten Mauerschützenprozessen.
    • Totale Ablehnung bzw. Infragestellung oder das Totschweigen der Grundwerte des Sozialismus und der in der DDR bereits existenten Errungenschaften (Friedens- und Sozialpolitik, Frauen- und Jugendpolitik, Bildungswesen, Arbeitsrecht, Familienrecht etc.).
    • Delegitimierung des Antifaschismus mittels der Totalitarismusdoktrin. Vorwurf des Antisemitismus in der DDR. Auch hierzu finden sich grundlegende Beiträge in den "Klartexten".

5. Wir stehen in der Verantwortung, uns gegen diese Kette von Geschichtsklitterungen zu wehren und vor allem den mit uns sympathisierenden jungen Genossinnen und Genossen zu verdeutlichen, daß wir den gewesenen Sozialismus nicht aus nostalgischen Gründen, sondern um der Zukunft willen verteidigen. Auch die Herrschenden säen den Hass gegen etwas nicht mehr Existierendes nicht um der Vergangenheit willen, sondern um jeden Gedanken an eine nichtkapitalistische Alternative zu ersticken. Daher auch die massiven Angriffe auf den antikapitalistischen Programmentwurf der LINKEN.

6. Zugleich muß uns bewußt sein: Wenn wir überzeugend sein wollen, dürfen wir uns in keinem Falle apologetisch verhalten. Um jedes Mißverständnis auszuschalten: Apologetik abzulehnen bedeutet für uns nicht, auf die Rechtfertigung des gewesenen Sozialismus zu verzichten. Sehr wohl aber lehnen wir es ab, alles, was unter der Flagge des Sozialismus geschah, gutzuheißen. Unsere historische Niederlage ist zu gewaltig, als daß uns mangelnde Nachdenklichkeit zustände. Die unter der Flagge des Sozialismus begangenen Fehler, aber auch ausgeübte Willkür – bis hin zu den massenhaften, unter Stalin geschehenen Verbrechen – können nicht kleingeredet oder geleugnet werden. Außerdem bieten wir mit apologetischen Positionen den politischen Gegnern nahezu unbegrenzte Steilvorlagen, um Linke zu isolieren. Die KPF hat sich zu keinem Zeitpunkt der Stalinismuskeule gebeugt, und sie hat daher zu keinem Zeitpunkt die Existenz dieser antikommunistischen Waffe geleugnet. Aber – sie hat auch zu keinem Zeitpunkt den Kampf gegen die Stalinismuskeule damit verwechselt, Dinge zu leugnen, die – so bitter es ist – nicht zu leugnen sind. Wer dies tut, ist entweder politisch vollkommen unbedarft oder wirkt wie ein Provokateur. Das sei besonders unter dem Eindruck eines Leserbriefes von Dominik Gläsner aus Zittau in der "Roten Fahne 08/10" gesagt, der darauf zielt, der Partei und der KPF eine apologetische Debatte über die Rolle Stalins im Allgemeinen aufzudrängen und im Besonderen eine Diskussion über die Katyn-Akten im Zusammenhang mit der Erschießung polnischer Offiziere 1940. Solcherart Geschichtsdebatte anzustoßen ist völlig verantwortungslos und kann uns zerstören. Die KPF – dies ergab die Sitzung des Bundeskoordinierungsrates vom 8. August 2010 ohne jede Einschränkung – steht für derartiges politisch-ideologisches Abenteurertum nicht zur Verfügung.

7. Einige Schlußfolgerungen:

  • Die "Klartexte" und Michael Benjamins "Vermächtnis" sind kompromißlos gegen den Zeitgeist gerichtete Publikationen. Alle Landessprecherräte sollten sich damit befassen, wie der weitere Vertrieb dieser Bücher noch systematischer organisiert werden kann.
  • Die Mitteilungen sind unsere beinahe einzige regelmäßige Möglichkeit, nicht zuletzt unsere Positionen im Rahmen der Geschichtsauseinandersetzung zu publizieren. Ihre Verbreitung ist notwendiger denn je. Der Bundeskoordinierungsrat befaßte sich am 8. August 2010 in einem gesonderten Tagesordnungspunkt mit dieser Aufgabenstellung.
  • Die Beibehaltung des antikapitalistischen Charakters des vorliegenden Programmentwurfs ist die wirkungsvollste Antwort auf den die Geschichte komplex verfälschenden Zeitgeist. Antikapitalistische Positionen implizieren das Festhalten an einer gesellschaftlichen Alternative gemäß der Feststellung: Sozialismus oder Barbarei! Der vorliegende Programmentwurf wird allerdings nur erfolgreich zu verteidigen sein, wenn es nicht zuletzt uns gelingt, die an der Parteibasis vorherrschende, ihn bejahende Stimmung auch parteiöffentlich zu machen. Wir brauchen viel mehr als bisher Schreiben z.B. von Basisorganisationen an den Parteivorstand, die die Beibehaltung des antikapitalistischen Charakters des Entwurfs fordern. Ganz besonders geht es um die Bewahrung der friedenspolitischen Prinzipien, die Fixierung der Kerninhalte zur Eigentumsfrage sowie die Beibehaltung der im Entwurf fixierten roten Haltelinien für Regierungsbeteiligungen.

 

Anmerkungen:

[1] Diesem Beitrag liegt der Diskussionseinstieg für die Beratung des Bundeskoordinierungsrates am 7. August 2010 zugrunde.

[2] Kernsatz des Aufrufes "Für unser Land" vom 26. November 1989 war: "Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind. Oder wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird."

 

Mehr von Ellen Brombacher in den »Mitteilungen«: 

2010-08: »Adios, Diego!«

2010-06: Kulturvolle Programmdebatte ist keine Selbstverständlichkeit

2010-05: Regierungserklärung einer früheren FDJ-Sekretärin – beredtes Zeugnis für zivilisatorischen Fortschritt