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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

"Adios, Diego!"

Ellen Brombacher, Berlin

 

"Adios, Diego!" titelte BILD am 3. Juli 2010. Und weiter in großen Buchstaben: "Dein Messi kriegt heute auf die Fressi." Der Kommentar zur Überschrift: "Heute um 16 Uhr ist wieder WM-Wahnsinn! Wir gegen Maradona & Argentinien. Wir gegen Superstar Messi, der in Form von Toren was auf die Fressi bekommen soll. Unsere Mannschaft ist bereit für das Viertelfinale. Alle Helden sind fit! Alles spricht dafür, daß es heute heißt: Adios Diego!"

Was wohl hätte Victor Klemperer zu dieser LTI gesagt? Was zu dem unsäglichen Theater um den Grand Prix Sieg von Lena Meyer-Landrut? Zum Glück wurde die deutsche Mannschaft nur Drittplazierte. Den Spielern wäre der Sieg zu gönnen gewesen, ebenso wie denen aus Spanien, Holland oder Uruguay. Aber wie wohl hätte die Seite eins von BILD dann ausgesehen? Und welche Atmosphäre hätte im Land geherrscht? Es sind die von Chauvinismus absolut nicht freien Stimmungen – unter dem verharmlosenden Banner fröhlicher deutscher Spielleidenschaft – die mich das Fürchten lehren. Schwarz-rot-goldene Lustigkeit deckt die Dumpfheit zu, die sich vielfach mit dieser Art national-geprägter Fröhlichkeit verbindet und die nicht spontan entsteht. Sie wird erzeugt: Helden geben Gegnern auf die Fresse. Und der BILD-Artikel ist kein Ausrutscher. BILD lebt von diesem Niveau. Spätestens seit Bölls Erzählung "Die verlorene Ehre der Katarina Blum" gibt es daran keinen Zweifel mehr. Und nicht wenige andere Medienerzeugnisse produzieren nicht minder niederes Niveau und befriedigen sodann primitive Bedürfnisse. Nicht die Millionen Manipulierten sind hierfür primär verantwortlich, sondern die "Elite" der sogenannten Vierten Gewalt, die in Wirklichkeit "lediglich" Teil des Großkapitals ist. Die Auswirkungen dieser Massenmanipulation – mit dem ehrenvollen Namen "Pressefreiheit" – sind gefährlich. Ein Freund berichtete mir kürzlich in einem Brief über Stimmungen unter den Leuten in seinem kleinen Dorf. "Einer meinte: 'Ich muß hier schuften, und in Griechenland ruhen sie sich aus'. ... Ein Arbeiter schimpfte auf die Gesundheitsreform; der Rösler solle nach Vietnam zurückgehen, da gehöre er hin. Die FDP sei eine Schweinebande: 'Wenn ich schon den schwulen Westerwelle sehe'". Die Ausländer sind schuld und die Schwulen und sonstige Minderheiten. Ein Arzt erzählte mir von Patientenmeinungen über die – ihrer Meinung nach – das Weltfinanzsystem beherrschenden und für die Weltwirtschaftskrise somit hauptverantwortlichen Juden. Auf meine Frage, warum es wieder so sehr die Juden sind, die im Fokus der Kapitalismuskritik stehen, war die Antwort: "Sie haben ja Recht. Aber: Die Leute reden fast alle so". Ein anderer Freund verließ kürzlich eine Feier, weil dort im Zusammenhang mit dem schändlichen Überfall israelischer Spezialtruppen auf ein Gaza-Solidaritätsschiff einer äußerte, der Hitler habe sich bei seinem Umgang mit den Juden schon was gedacht. Manche haben Verständnis für derartige Bemerkungen. Israel selbst sei für die Erzeugung solcher Stimmungen verantwortlich. Die israelische Politik ist tatsächlich brandgefährlich, nicht zuletzt für die Existenz von Jüdinnen und Juden, nicht nur in Israel. Und dennoch behaupte ich: Wer an die Rechtfertigung der Shoa auch nur einen Gedanken verschwendet, ist einfach nur ein verkommener Antisemit! Die israelische Politik kommt ihm zupaß.

Zurück zum eigentlichen Problem: Primitive Stimmungen gegen Ausländer, seit 2001 besonders erzeugt und ausgeprägt gegen Muslimas und Muslime, die Kälte der asozialen Hartz-IV Atmosphäre gegenüber jenen, die inzwischen arm sind oder am Rande zur Armut gegen den Absturz kämpfen, Antisemitismus und Antiziganismus und der ganze ekelhafte Rassismus – all diese mittlerweile zum Alltag gehörenden gesellschaftlichen Tendenzen sind bei weitem nicht nur Nazisache. Sie gehören, wie Noam Chomsky kürzlich formulierte, zu den "institutionalisierten Verbrechen des Staatskapitalismus". Wer zehntausend recht- und besitzlose Sinti und Roma in den rassistisch geprägten Kosovo abschiebt – auf die historische Schuld Deutschlands ihnen gegenüber pfeifend – der institutionalisiert Antiziganismus ("Die klauen sowieso alle!"). Wer den Ärmsten das Kindergeld nimmt und die Rentenbeiträge streicht, der institutionalisiert den Zynismus ("Die versaufen ja doch nur alles!") und macht Meinungen wie die von Nach-wie-vor-SPD-Mitglied Sarrazin hoffähig. Wer die israelische Politik unter dem verlogenen Vorwand, dies entspräche besonderer deutscher Verantwortung, kritiklos akzeptiert, der liefert Steilvorlagen für Antisemiten.

Christian Wulff fragte in seiner in mancherlei Hinsicht sympathischen Bundespräsidenten-Antrittsrede, "wann wird es egal sein, ob jemand Yilmaz oder Krause heißt?" Und antwortet: "Wenn wir weniger danach fragen, wo einer herkommt als wo er hinwill." Wo kann einer denn hin – Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel – wenn ihm z.B. im jobcenter Neukölln im besten Falle ein Eineurofünfzigjob angeboten wird? Solange die soziale Frage jenseits der Klasseninteressen behandelt wird, solange werden jene die Interpretationshoheit haben, die den Leuten mit Erfolg einreden, Rösler nach Vietnam zurückzuschicken, sei der Weg, eine Zweiklassenmedizin mittels der Kopfpauschale zu verhindern. Wo die harsche Kritik an den Machenschaften der Pharmariesen durch komplett hirnrissigen Rassismus ersetzt wird, wird es niemals gleich sein, ob einer Yilmaz oder Krause heißt. Vielmehr wird sich reaktionärstes sozialdarwinistisches, rassistisches "Denken" immer weiter verbreitern und vertiefen. Dieses "Denken" ist die – noch weitgehend gedeckelte – eigentliche fünfte Kolonne des Neofaschismus. Der Rest kann im Bedarfsfalle inszeniert werden.

Und in Inszenierungen aller Art ist die Mediengesellschaft geübt. Innerhalb von Tagen war Gauck der Präsident der Herzen. "Erzählen Sie auch weiterhin von Ihrer Liebe zur Freiheit", bat Christian Wulff an seinem Wahltag den Joachim Gauck. Nein, Diether Dehm: Weder Wulff noch Gauck sind Hitler oder Stalin. Für diesen Vergleich wurdest Du zurecht kritisiert. Ein wesentliches Moment der Kritik ist bisher allerdings in der Öffentlichkeit vergessen worden: Millionen Menschen weltweit hofften auf die Rote Armee, auf die Sowjetunion und auch auf Stalin – selbst der Antikommunist Churchill. Als die zweite Front im Juni 1944 eröffnet wurde, stand die Sowjetarmee schon unweit der deutschen Grenzen. Worauf hätte Jurek Beckers "Jacob der Lügner" hoffen sollen, wenn nicht auf die Armeen Stalins. Das macht die Stalinschen Verbrechen nicht ungeschehen; aber die historische Wahrheit läßt sich nicht auf diese reduzieren. Mit Hitler ist das etwas ganz anders. Es sei denn, man verspürt beim Rasen über deutsche Autobahnen ein positives Moment seines Wirkens. Noch einmal zurück zu Gauck: Der Präsident der Herzen bekennt sich zum Afghanistaneinsatz der Bundeswehr. "Ich kann es ertragen, daß wir dort sind" sagte er und daß ihm das "Freiheitsthema" wichtiger sei als das "Gerechtigkeitsthema". Daß ihn dafür auch solche lieben, die von Hartz IV leben und eigentlich meinen, wir hätten in Afghanistan nichts zu suchen, hat sehr viel mit BILD und ähnlichen BILDungsgütern zu tun. Gut nur, daß die überwiegende Mehrheit der Linksfraktion und der linken Wahlfrauen und -männer sich auch hier als resistent erwiesen.

Das muß so bleiben. Ungeachtet der skandalösen, massiven Druck auf unsere Partei ausübenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 2010. Da die LINKE im Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen stünde, könne man über ihre Mitglieder Dossiers anlegen. Das sei, so Wolfgang Hübner am darauffolgenden Tag im ND, die Essenz des Urteils. Die Inkarnation verfassungsfeindlicher Bestrebungen in unserer Partei ist für Politiker aller Parlamentsparteien der vorliegende Programmentwurf der LINKEN. Kaum ein Interview mit LINKEN-Politikern gibt es, in dem die jeweiligen Journalisten nicht in warnendem Tonfall Fragen zur Programmatik stellen. Und natürlich darf in dieser Reihe der "Kritiker" Hubertus Knabe ebenso wenig fehlen, wie der Herr Gauck. Nichts stört die Protagonisten des Zeitgeists an der LINKEN gegenwärtig so sehr, wie die antikapitalistische Grundlinie des vorliegenden Programmentwurfs. Und genau um deren Beibehaltung müssen alle kämpfen, die diese Grundlinie für richtig halten. Nach unseren Erfahrungen betrifft das große Teile der Parteibasis. Auch wir – Kommunistinnen und Kommunisten in der Partei – müssen mehr tun, damit diese Stimmungen Öffentlichkeit bekommen.

 

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