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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Staatsvertrag rechtsstaatlich fragwürdig

Jürgen Herold, Berlin

 

Am 18. Mai 1990 ist der Vertrag zwischen der DDR und der BRD über eine Währungs- und Wirtschaftsunion in Kraft getreten. Nach Wikipedia führte die DDR die DM anstelle der DDR-Mark ein und schaffte damit die Voraussetzungen für eine soziale Marktwirtschaft und die Übernahme der bundesdeutschen Sozialversicherung, Sozialhilfe und Arbeits­rechtsordnung in der DDR: Das staatliche Außenhandelsmonopol der DDR wird beseitigt und das bundesdeutsche Steuer- und Zollrecht installiert. Die Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (Treuhandanstalt) soll die volkseigenen Betriebe, die bis­her Abgaben an den Staat abzuführen hatten, sanieren, privatisieren oder stilllegen und die volkseigenen Güter und Wälder übernehmen. Mit dem Staatsvertrag tritt zwischen der DDR und der Europäischen Gemeinschaft zugleich eine Zollunion in Kraft.

Diese trockene inhaltliche Zusammenfassung des Inhalts dieses Staatsvertrages spiegelt nicht die Brisanz für den weiteren Verlauf der Verhandlungen zwischen der DDR und der BRD bis zum 3. Oktober 1990 wider.

Die Kommunistische Plattform in der PDS hatte 1990 eine AG Politisches System, die sich mit ihren Beiträgen im Diskussionsprozess innerhalb der PDS zur Entwicklung der Demo­kratie in der DDR einbrachte. Wir diskutierten auch den Entwurf des Runden Tisches zu einer neuen DDR-Verfassung mit. So war es folgerichtig, dass wir uns auch mit dem Staatsvertrag beschäftigten. Ich hatte die Aufgabe, einige rechtliche Probleme im Bezug zur noch geltenden DDR-Verfassung und zum BRD-Grundgesetz aufzuzeigen.

Als ich den nachfolgend dokumentierten Artikel nach 33 Jahren noch einmal gelesen habe, wurde mir erneut deutlich, dass die im Staatsvertrag enthaltenen rechtlich fragwürdigen Bestimmungen die Weichen für das folgende Unrecht in der Behandlung der DDR-Bürger bis heute gestellt haben (Rentenunrecht, Abwicklung der DDR-Kultur und Wissenschaft, Grundstücksenteignungen, Diskriminierungen im Berufsleben u.s.w. – Zur DDR-Wissen­schaft siehe auch den Beitrag von Prof. Dr. Hermann Klenner in Mitteilungen Heft 8/2023, S. 19 ff.).

Ich glaube, dass der Mehrheit der DDR-Bürger diese Dimension nicht bewusst geworden war. Zumal durch die Medien die Einführung der D-Mark zum 1. Juli 1990 und der zu erwartende Umtauschkurs in den Mittelpunkt gestellt wurde.

In Berlin gab es z.B. im Juni 1990 den Versuch, allen Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes von Berlin, Hauptstadt der DDR, bis abwärts in jedes Bezirksamt zum 30. Juni 1990 mit der Option zu kündigen, sich zum 1. Juli 1990 für ihren Arbeitsplatz neu bewerben zu können. Ein eklatanter Bruch des Arbeitsgesetzbuches der DDR, der auch mit dem Kündigungs­schutzgesetz der BRD unvereinbar gewesen wäre und am Widerstand der Mitarbeiter schei­terte.

Die Entlassung Walter Rombergs als DDR-Finanzminister im August 1990 ist auch ein Hin­weis auf das kommende Unrecht. Er lehnte das Verhandlungskonzept der DDR für den Eini­gungsvertrag ab, weil unter anderem die vorgesehene Finanzausstattung die DDR-Länder im vereinten Deutschland auf Jahre hinaus wirtschaftlich und politisch zweitklassig mache.

Im § 20 des »Stasi-Unterlagengesetzes« in der Fassung der letzten Änderung vom 9. April 2021 ist geregelt, dass noch bis zum Jahr 2030 Überprüfungen auf Tätigkeit im oder für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR möglich sind, wenn sich die Person für bestimmte Tätigkeiten im öffentlichen Dienst bewirbt. Dazu gehören Regierungspolitiker, Berufs- und Laienrichter und Beschäftigte ab der Besoldungsgruppe A9, E) oder höher. Dabei ist zu beachten, dass allen Mitarbeitern des MfS pauschal die Anwendung strafbarer Methoden in ihrer Tätigkeit unterstellt wird. Rechtsstaatlich wäre es, in einem Gerichts­verfahren ihre individuelle Schuld festzustellen.

So aber kann die Mitarbeit im MfS nie verjähren, und jede und jeder Betroffene wird bis an das Lebensende wegen dieser Mitarbeit diskriminiert werden, ohne rechtliche Möglich­keiten sich zu wehren, wie es im Rentenstrafrecht zu sehen ist.

Der Treppenwitz ist aber eigentlich, dass im Jahr 2030, also 40 Jahre nach der »Einheit«, Bewerber für den öffentlichen Dienst mit den oben genannten Besoldungsgruppen mindes­tens 58 Jahre alt sein werden. Hierbei kann es sich nur um »Quereinsteiger« handeln, denn die anderen sollten da schon mehrfach überprüft worden sein.

 

Dokumentiert:

Der Staatsvertrag zwischen der DDR und der BRD im Lichte der DDR-Verfassung und des Grundgesetzes der BRD

Beide deutsche Staaten sind im Ergebnis der Nachkriegsentwicklung in Europa entstan­den. Sie gehören unterschiedlichen Bündnissen an, deren Existenz und gegenseitige militä­rische Abschreckung einerseits und der seit 1975 eingeleitete Helsinkiprozeß andererseits den Frieden in Europa sicherten. Das Klima in Europa wurde in diesem Jahrhundert stets vom Verhältnis Deutschlands zu seinen Nachbarn bzw. nach 1949 beider deutscher Staaten zueinander und zu ihren Nachbarn bestimmt.

Für die zukünftige Entwicklung in Europa erscheint es deshalb erforderlich, daß im deut­schen Einigungsprozeß die DDR und die BRD ihre jeweils abgeschlossenen Verträge mit anderen Staaten auf die Möglichkeit ihrer Einhaltung nach der Vereinigung zu überprüfen bzw. deren Modifizierung oder Aufhebung in Angriff zu nehmen. Dies würde der Pflicht entsprechen, daß Verträge einzuhalten sind. Siehe dazu Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 Art. 26 »Pacta sunt servanda« sowie Verfassung der DDR Art. 8 Abs. 1 und Art. 25 des Grundgesetzes der BRD.

An der gegenwärtigen Diskussion über die Mitgliedschaft in der NATO wird dieses Problem besonders deutlich:

Nach Art. 7 des Warschauer Vertrages verpflichtet sich die DDR, sich an keinen Koali­tionen oder Bündnissen zu beteiligen und keine Abkommen abzuschließen, deren Zielset­zung den Zielen dieses Vertrages widerspricht. Diese Verpflichtung ist in die Verfassung der DDR Art. 6 Abs. 2 eingegangen.

Es ist deshalb auch zu prüfen, ob der Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD von 1972 mit der Ratifizierung des Staatsvertrages außer kraft gesetzt werden müsste. Die BRD erhält mit dem Staatsvertrag Hoheitsrechte in der DDR, die mit dem Vertrag von 1972 unvereinbar sind.

Am 04.05.1990 wurden in der »Berliner Zeitung« ein Entwurf des Staatsvertrages sowie die Anlagen I, III und IV veröffentlicht, die mit Inkrafttreten des Vertrages anzuwendende, aufzuhebende oder zu ändernde sowie neu zu erlassende Rechtsvorschriften in der DDR beinhalten.

Mit der Aufhebung der Art. 1-3 und 6-8 des allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches der DDR werden wesentliche Grundlagen der DDR nicht mehr geschützt, womit großer rechts­freier Raum entsteht. Mit der Aufhebung dieser Artikel wird übrigens auch die Notwendig­keit des Aufbaus einer »Militärabwehr« im Bereich der NVA in Frage gestellt, weil die mili­tärischen Geheimnisse der DDR nicht mehr zu schützen sind (siehe Art. 3 StGB). Folgerich­tig soll der § 96 StGB (Hochverrat) bis zu seiner Neufassung ruhen. Daraus würde sich ergeben, daß das ehemalige Politbüromitglied der SED Günter Mittag nicht nach § 96 StGB belangt werden könnte!

Noch brisanter ist die Aufhebung des § 90 StGB: »Völkerrechtswidrige Verfolgung von Bür­gern der DDR«.

Dort heißt es: »Wer im Widerspruch zum Völkerrecht maßgeblich oder mit besonderer Akti­vität daran mitwirkt, unter Ausdehnung der Gerichtshoheit der BRD Bürger der DDR wegen der Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Staatsbürgerrechte zu verfolgen, zu ihrer Verfol­gung aufzufordern oder die Verfolgung anzuordnen oder zu veranlassen, wird … bestraft …«.

Dies ist ein eklatanter Verstoß gegen die Artikel 33 (Abs. 2 »Kein Bürger der DDR darf einer auswärtigen Macht ausgeliefert werden.«) und 99 (Abs. 1 und 2 »Die strafrechtliche Verantwortlichkeit wird durch die Gesetze der DDR bestimmt. Eine Tat zieht strafrechtliche Verantwortlichkeit nur nach sich, wenn diese zur Zeit der Begehung der Tat gesetzlich fest­gelegt ist …«) der DDR-Verfassung.

Das Grundgesetz der BRD schützt im Art. 16 Abs. 2 und im Art. 103 Abs. 2 mit der glei­chen Zielstellung seine Bürger.

Damit steht die Grundgesetzmäßigkeit des Staatsvertrages sowohl für die BRD als auch verfassungsmäßig für die DDR in Frage. Gemäß Art. 89 Abs. 3 [1] müßte demzufolge von der Volkskammer der DDR die Verfassungsmäßigkeit des Staatsvertrages und seiner Anlagen überprüft werden!

Zusammenfassend ergeben sich für mich unter anderem folgende Rechtsprobleme mit dem Abschluß des Staatsvertrages DDR-BRD:

- Die DDR gibt wesentliche Seiten ihrer Souveränität auf, die erhebliche Verfassungs­änderungen erfordern, die die Rechtssicherheit für die DDR-Bürger weiter unter­minieren, ohne daß wir uns an ein Verfassungsgericht wenden können.

- Die BRD erhält Hoheitsrechte in der DDR, die mit dem Grundlagenvertrag von 1972 zwischen der DDR und der BRD unvereinbar sind und auch völkerrechtlich als Einmi­schung in die inneren Angelegenheiten der DDR gewertet werden müssen. Zumal die DDR-Verfassung die Vereinigung mit anderen Staaten nicht vorsieht.

- Unter Beachtung dieser Gesichtspunkte und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die DDR-Verfassung 1968 mittels Volksentscheid angenommen wurde, sollte gemäß Art. 21 Abs. 2 und 65 Abs. 3 der Verfassung der Staatsvertrag in der Bevöl­kerung diskutiert und mittels Volksentscheid abgestimmt werden können. Es han­delt sich um ein grundlegendes Gesetz, das gravierend in die Lebensverhältnisse der Bürger eingreifen wird. Ein derartiges Vorgehen würde den Zielen der Demokra­tisierung in der DDR seit dem 04.11.89 entsprechen und sozialen Zündstoff aus dem Vereinigungsprozeß herausnehmen.

- Auf internationaler Ebene (KSZE-Prozeß und 2+4-Verhandlungen) scheint es ange­bracht zu sein, das zukünftige Deutschland in ein System der kollektiven Sicherheit in Europa einzubinden. Als Deutsche sollten wir uns der Verantwortung bewußt sein, daß deutsche Einheit seit 1870 unsere Nachbarn mehr ängstigte als deren Wohl­fahrt diente.

Seitens des Warschauer Vertrages ist im Art. 11 die Voraussetzung dafür gegeben:

»… im Falle der Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit in Europa und des Abschlusses eines diesem Ziel dienenden Gesamteuropäischen Vertrages über kollektive Sicherheit, den die vertragsschließenden Seiten unentwegt anstreben, verliert dieser Vertrag am Tage des Inkrafttretens des Gesamteuropäischen Vertrages seine Gültigkeit.«

In der Diskussion des Staatsvertrages sollte die PDS-Fraktion deshalb in der Volkskammer diese Dialektik zwischen dem inneren Demokratisierungsprozeß und der Entwicklung des Vertrauens unserer Nachbarn zu uns stets im Auge behalten. Es muß verhindert werden, daß bei uns Rechtsverhältnisse entstehen, die hinter das Niveau der bürgerlichen Demo­kratie und damit des Grundgesetzes der BRD zurückgehen!

Für die AG Politisches System der kommunistischen Plattform in der PDS, Jürgen Herold

(Interne Diskussionsgrundlage vom Mai/Juni 1990)

 

Anmerkung:

[1] Dieser Absatz der DDR-Verfassung lautet: »Rechtsvorschriften dürfen der Verfassung nicht widersprechen. Über Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften entscheidet die Volkskammer.« – Red.

 

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