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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

So waren die Zeiten

Werner Wüste, Wandlitz

 

Vor 60 Jahren, am 26. August 1958, wurde in der BRD Chaplins »Der große Diktator« erstaufgeführt. Da war der Film schon 18 Jahre alt. Seine Welturaufführung hatte er be­reits am 15. Oktober 1940 in New York.

18 Jahre, das ist »in normalen Zeiten« für einen Film ein durchaus respektables Alter. In normalen Zeiten! Nur: Von solchen konnte keine Rede sein.

Franklin D. Roosevelt zur Lage der Nation, Januar 1941: In künftigen Tagen, um deren Sicherheit wir uns bemühen, sehen wir freudig einer Welt ent­gegen, die gegründet ist auf vier wesentliche Freiheiten des Menschen.

Roosevelt spricht von der Freiheit der Rede, von Religionsfreiheit, von der Freiheit von Not. Dann: Die vierte Freiheit aber ist die von Furcht. Das bedeutet, weltweit gesehen, eine globale Ab­rüstung, so gründlich und so lange durchgeführt, bis kein Staat mehr in der Lage ist, seinen Nachbarn mit Waffengewalt anzugreifen – überall in der Welt.

So eben waren die Zeiten: Nazideutschland führte Krieg in Europa. Lügnerisch und demagogisch. Brutal. Rücksichts­los. Und die amerikanische Gesellschaft war gespalten. Noch im Herbst 1939 sprachen sich in einer Umfrage 95 Prozent der US-Amerikaner gegen eine Kriegserklärung der USA an Deutschland aus. Roosevelt jedoch arbeitete zielstrebig auf die Anti-Hitler-Koalition zu. Nach seiner Überzeugung waren Nazideutschland und die sogenannten Achsenmächte nur gemeinsam mit der Sowjetunion niederzuringen. Auch ein künftiger Weltfrieden hing ganz wesentlich von guten Beziehungen USA – UdSSR ab.

Am 7. Dezember 1941 überfiel Japan Pearl Harbor. Über 2.400 Amerikaner kamen ums Leben. Nun befürwortete eine Mehrheit der US-Bürger ein aktives Eingreifen des Landes in den Krieg.

So waren die Zeiten.

»Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine ...«

Ein Stück Zeittafel: 

  • Im Frühjahr 1938 erzählt Chaplin dem Schriftsteller Dan James von seiner Idee, einen Hitler-Film zu machen.
  • September Beginn der Arbeit am Drehbuch.
  • 9. November 1938 Reichspogromnacht.
  • Januar 1939 Beginn der Drehvorbereitungen.
  • 23. August 1939 Nichtangriffsvertrag zwischen der Sowjetunion und Nazideutschland.
  • 1. September Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Schwierigkeiten beim Herstellen ...

Chaplins Plan hatte sich sehr schnell herumgesprochen.

Widersprüche taten sich auf. Es entstanden Schwierigkeiten mit der Produktionsfirma. Sie befürchtete Einbußen. Chaplin finanzierte die Produktion selbst. Der britische Filmzensor beschwor seinen US-Kollegen: Es sei in England verboten, lebende Politiker ohne deren Zu­stimmung in einen Film zu bringen.

Auch die Nazis machten mobil. In ihr schlimmstes antisemitisches Machwerk »Der ewige Jude« montierten sie Bilder von Chaplins Berlin-Besuch 1931. Ivor Montagu, Freund, Filme­macher und Sozialist, später, zu DDR-Zeiten, gern gesehener Gast bei der DokWoche Leip­zig, hatte in Berlin ein Buch entdeckt: »Juden sehen dich an«. Herausgegeben um 1934. Zu einem Foto von Chaplin die Zeile: »Dieses kleine jüdische Stehaufmännchen ist so ekel­haft, wie es langweilig ist.«

Genug davon. Nein. Noch diese lakonische Antwort Chaplins auf die Frage, ob er tatsäch­lich jüdisch sei: »Ich fürchte, ich habe diese Ehre nicht.«

Chaplin soll um die Jahreswende 1938/1939 fast bereit gewesen sein, das Projekt aufzu­geben. Im Namen und im Auftrag von Franklin D. Roosevelt besuchte ihn da Harry Hopkins und beschwor ihn, den Film unbedingt zu machen. Eine Woche nach Beginn des Krieges, noch immer waren 95 Prozent der Amerikaner gegen einen Kriegseintritt, begannen end­lich die Dreharbeiten.

wie beim Rezipieren des Films

Die Welturaufführung 1940 in den Kapitol and Astor Theatres in New York hatte ich er­wähnt. Europapremiere war im Dezember 1940 in London, auf dem Höhepunkt der deut­schen Luftangriffe.

So waren die Zeiten.

Fortgesetzte Zeittafel: »1946. Die Alliierten zeigen ausgewählten Filmschaffenden in Deutschland Der große Dik­tator. Die Anwesenden empfehlen, den Film die nächsten Jahre in Deutschland nicht aufzu­führen.«

So waren die Zeiten eben nicht.

Denn man darf wohl vermuten, dass schon 1946 Kräfte am Werk waren, die die Remilitari­sierung der Westzonen ins Auge gefasst hatten, dass jene, die auf Fortsetzung des Krie­ges, zum Beispiel gemeinsam mit den Briten »gegen die Russen« setzten, noch agil waren. Die zu diesem Zweck ganze Formationen der Wehrmacht unter Waffen konserviert hatten.

Wie konnte man da einen Film zeigen, der mit dieser Chaplin-»Rede an die Welt« schloss:

Es tut mir leid, aber ich möchte nunmal kein Herrscher der Welt sein, das liegt mir nicht. Ich möchte weder herrschen noch irgendwen erobern, sondern jedem Menschen helfen, wo im­mer ich kann. Den Juden, den Heiden, den Farbigen, den Weißen.

Jeder Mensch sollte dem Anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt! Wir sollten am Glück des Anderen teilhaben und nicht einander verabscheuen. Hass und Verachtung bringen uns niemals näher! Auf dieser Welt ist Platz genug für jeden und Mutter Erde ist reich genug, jeden von uns satt zu machen.

Das Leben kann ja so erfreulich und wunderbar sein, wir müssen es nur wieder zu leben ler­nen! Die Habgier hat das Gute im Menschen verschüttet und Missgunst hat die Seelen ver­giftet und uns im Paradeschritt zu Verderb und Blutschuld geführt. Wir haben die Geschwin­digkeit entwickelt, aber innerlich sind wir stehen geblieben. Wir lassen Maschinen für uns ar­beiten, und sie denken auch für uns. Die Klugheit hat uns hochmütig werden lassen und un­ser Wissen kalt und hart, wir sprechen zu viel und fühlen zu wenig, aber zuerst kommt die Menschlichkeit und dann die Maschinen! Vor Klugheit und Wissen kommt Toleranz und Güte! Ohne Menschlichkeit und Menschenliebe ist unser Dasein nicht lebenswert!

[...] Im 17. Kapitel des Evangelisten Lukas steht: Gott wohnt in jedem Menschen. Also nicht nur in einem oder einer Gruppe von Menschen. Vergesst nie: Gott lebt in euch allen und ihr als Volk habt allein die Macht! Die Macht Kanonen zu fabrizieren, aber auch die Macht Glück zu spenden! Ihr als Volk habt es in der Hand, dieses Leben einmalig kostbar zu machen, es mit wunderbarem Freiheitsgeist zu durchdringen!

Daher: Im Namen der Demokratie! Lasst uns diese Macht nutzen! Lasst uns zusammenste­hen! Lasst uns kämpfen für eine neue Welt, für eine anständige Welt! Die jedermann gleiche Chancen gibt, die der Jugend eine Zukunft und den Alten Sicherheit gewährt. Versprochen haben die Unterdrücker das auch, deshalb konnten sie die Macht ergreifen. Das war Lüge, wie überhaupt alles was sie euch versprachen! Diese Verbrecher! Diktatoren wollen die Frei­heit nur für sich, das Volk soll versklavt bleiben!

Lasst uns diese Ketten sprengen, lasst uns kämpfen für eine bessere Welt! Lasst uns kämp­fen für die Freiheit in der Welt! Das ist ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Nieder mit der Unterdrückung, dem Hass und der Intoleranz! Lasst uns kämpfen für eine Welt der Sau­berkeit, in der die Vernunft siegt, in der Fortschritt und Wissenschaft uns allen zum Segen gereichen. Kameraden! Im Namen der Demokratie! Dafür lasst uns streiten!

Kritik weist Charlie Chaplin in der New York Times zurück: Es wäre viel einfacher gewesen, den Friseur und Hannah in einen fernen Horizont verschwin­den zu lassen, unterwegs zum gelobten Land, vor der untergehenden Sonne.

Aber es gibt kein gelobtes Land für die Unterdrückten dieser Erde. Es gibt keinen Ort jenseits des Horizonts, wo sie eine Zuflucht finden könnten.

McCarthy stempelte später unliebsame Zeitgenossen zu Kommunisten. Auch Charlie Chap­lin. Er aber war keiner. Soll ich sagen: Leider? So kann man gewiss auch nicht allen seinen Äußerungen zustimmen. Heute! 1941 in den USA aber: Unbedingt!

So sind eben die Zeiten. 

 

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2018-04: »Und doch gefällt mir das Leben ...«

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2016-09: Der Erste. Mehrfach. Und bemerkenswert.