»Saigon ist frei!«
Dr. Hartmut König, Panketal
Jeder Tag wäre recht gewesen für diese Nachricht, aber ein 1. Mai schmückte sie noch: »Saigon ist frei!« Die letzten Vertreter der Kriegsmacht USA und ihre wichtigsten südvietnamesischen Verbündeten waren vor den Panzern der Volksbefreiungskräfte aus der Hauptstadt des Südens geflohen. Die Saigoner Kapitulation am 30. April 1975 hatte einen der schmutzigsten und weltweit geächtetsten Angriffskriege der amerikanischen Supermacht beendet. Seine Ungerechtigkeit und Grausamkeit standen im eklatanten Widerspruch zu den Meriten, die sich die Vereinigten Staaten im Kampf der Anti-Hitler-Koalition erworben hatten. Nun stand es fest: Der David, dem all unsere Sympathie galt, hatte seinen Goliath besiegt. Über Nacht waren dem Oktoberklub die Zeilen zugeflogen: »Alle auf die Straße! Rot ist der Mai. Alle auf die Straße! Saigon ist frei!« Die sangen sich schnell herum und markieren noch heute, wo sich dieser Tag zum 40. Mal jährt, meine Erinnerung. Der Jubel legte sich auch deshalb so sehr auf dieses Ereignis, weil uns rückläufige Entwicklungen deprimiert hatten. In Chile war der hoffnungsvolle Sieg Allendes in die faschistoide Pinochet-Diktatur zurückgeworfen worden. Auch hier hatten die USA einer Junta der einheimischen Oligarchie die Steigbügel gehalten. Würde das »Land der Freien«, das jetzt in Vietnam zum kläglichen Rückzug gezwungen war, aus dem Debakel lernen? Die kommenden Jahrzehnte werden das verneinen.
Als in Vietnam die Waffen sprachen, gingen Wellen der Solidarität mit den Kämpfern Ho Chi Minhs um den Globus. Die Ablehnungsfront gegen diesen Krieg reichte von der sozialistischen Welt mit ihren beträchtlichen staatlichen, gesellschaftlichen und privaten Hilfsleistungen, über die Bewegung der Nichtpaktgebundenen und ein breites Spektrum an Kirchen-, Gewerkschafts-, Jugend-, Schüler- oder Studentenverbänden bis hin zu namhaften Künstlern und Intellektuellen. Die Hippie-Bewegung hatte die »Hair«-Zeile »It‘s a dirty little war« verinnerlicht.
Und in Westdeutschland waren die Anti-Vietnamkriegs-Aktionen ein konstituierendes Element der außerparlamentarischen Opposition und der Studentenbewegung gewesen. Die mischten den restaurativen Adenauer-Filz nachhaltig auf und schrieben ein bemerkenswertes Stück deutscher Geschichte. Sie bewirkten in vielen Biografien ein neues politisches und soziales Denken, das sich in der Folgezeit entweder verfestigte oder in bürgerlichen und anderen Karrieren wieder verlor. Die DDR indes bewies in diesem Strom der Solidarität einen glaubwürdigen sozialistischen Internationalismus, der von einer großen Mehrheit des Volkes getragen wurde. Diese moralische Haltung als Staatsräson, der Umfang und die Effizienz praktischer Hilfe provozierten geradezu den Vergleich mit der westdeutschen Appeasement-Politik. In sakrosankter Allianztreue zu ihrem »Großen Bruder« schwieg Bonn offiziell zu den Gräueltaten, die die USA an der Seite ihrer Hilfsmächte begingen. Wodurch sich der kritische Teil der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit schon damals in seiner Beobachtung bestätigt sah, dass hier Völker- und Menschenrechtsfragen nach zweierlei Maß gemessen wurden. Sie mussten durch ein Nadelöhr strategischer Interessen passen, um nicht als irrelevant verworfen zu werden. Auch wir hatten diesen Vergleich natürlich auf der Zunge, wenn wir zu unserer Leipziger Studentenzeit mit dem Ensemble »Solidarität« unterwegs waren oder 1969 zum internationalen Solidaritätstreffen der Jugend mit Vietnam in Helsinki auftraten. Damals hielten wir ein schönes Lied von Jack Mitchell im Repertoire: »Wenn Ho Chi Minhs Artillerie / und die Jungs der FNL / den letzten Feind verjagen, / da wird der Dschungel hell. / Das wird wie 8. Mai und / Silvester auf einen Schlag. / Die Helden feiern ihren Sieg / an diesem Freudentag.« Nun war es eben ein 1. Mai, als der letzte Feind ausgeflogen war, aber ein 8. Mai - ein Tag der Befreiung - war es zugleich.
Aus dem Morgen wurde Tag
Wenn ich über Vietnam nachdachte oder sang, hatte ich Bilder vor Augen. Die bekannten Fotos von Thomas Billhardt oder Dokumentarfilm-Sequenzen von Heynowski & Scheumann. Sie gaben mir ausschnitthaft eine Anmutung des Landes und der Lebensweise seiner Menschen, denen meine Empathie galt. Lieber hätte ich mich selbst umgesehen. Aber diese Chance hatte ich erst nach Kriegsende.
Das erste Mal war ich vor einem Vierteljahrhundert in Hanoi. Für ein paar Stunden nur auf dem Weg zum Laotischen Jugendverband. Wie bedauerte ich die Kürze der Zeit, wie gern hätte ich mich wenigstens zur berühmten Pho-Suppe in ein langes Kneipengespräch verwickelt! Aber der Bus fuhr ohne Halt, und die Geschäftigkeit des Alltags hinter den Scheiben - man kommt aus dieser Übung nicht heraus - erinnerte wieder an ein Lied. Der westdeutsche Liedermacher Dieter Süverkrüp hatte es geschrieben. Ich pfiff die Melodie und dachte den Text dazu: »Wenn dieser Morgen kommt / und dieser Tag, / da wird ein Lachen sein, / ein großes Lachen sein, / jedoch viel Zorn noch übrig. / Wenn dieser Morgen kommt / und dieser Sieg, / wird große Arbeit sein / im abgebrannten Land, / doch es gehört dem Volke.« Nachprüfen konnte ich seine Prophezeiung erst vor wenigen Jahren, als ich das Land drei Wochen lang vom Norden nach Süden bereiste.
Aus dem Morgen ist Tag geworden, und die Welt hat sich verändert. Das sozialistische Weltsystem ist kollabiert. Die verbliebenen Volksrepubliken haben ihre Beziehungen zueinander der Lage angepasst und die radikalkapitalistischen Usancen auf dem Weltmarkt nach eigener Interessenlage politisch und ökonomisch kalkuliert. Schon die ersten Eindrücke in Hanoi machen augenfällig, wie sich das internationale Kapital einkauft. Alle Weltlabels tummeln sich in den feinsten Lagen. Bodenpreise oder Mieten in der City sind auch nach westeuropäischen Maßstäben explosionsartig gestiegen und selbst für besserverdienende Vietnamesen unerschwinglich. Schon geht die Angst um, der Bauboom könnte Teile der Altstadt ihres legendären Charmes berauben. Hinzu kommen die weniger sichtbaren Dinge, die man gesprächsweise erfährt. Etwa, wie der Drang nach neuem Reichtum die Korruption befeuert. So kriegt ein Berufsanfänger seinen passablen Arbeitsplatz selten umsonst - die ganze Familie spart für das nötige Bakschisch, sagt unser Dolmetscher. Er hat in der DDR studiert und war nach seiner Rückkehr lange Zeit als Produktionsdirektor eines Betriebes tätig. Als die Firma ihre Eigentumsform veränderte, hätte er, um den Posten zu behalten, Anteile kaufen müssen. Das konnte er nicht und schied aus. Nicht nur bei ihm haben die Wirtschaftsreformen eine Spur von Bitternis hinterlassen. Aber selbst die kritischsten Töne erwecken nicht den Eindruck, dass man die Grundfesten sozialistischer Verhältnisse verlassen wolle. Die Wiedervereinigung des Nordens und des Südens unter der Ägide Ho Chi Minhs empfinden alle, die ich treffe, als großes nationales Glück.
Wenn man erwähnt, dass man aus der DDR stammt, fällt der Dank für die erwiesene Hilfe noch immer brüderlich aus. Die Reisebegleiter weisen am Reiseweg auf deren materielle Zeugnisse hin: Fabriken und Schulen, auch Wohnhäuser wohl bekannter Bauart. Ältere Vietnamesen, die das Deutsche noch beherrschen, reden von ihrem Studium oder ihrer Lehre in der DDR, über ihre Brieffreundschaften in Leipzig oder Rostock. Sie schwärmen von Halberstädter Würstchen und Wernesgrüner Bier, können sogar noch »Oh du fröhliche« singen. Die herzliche Anerkennung tut jedem Charakter gut, der sich an solidarischen Idealen geformt hatte und sich fernab vom pandeutschen Desinteresse hier wieder bestätigt fühlt.
Apropos »Oh du fröhliche«: Es ist um die Weihnachts- und Neujahrszeit. Da ergeben sich reizende Bilder. Zum Beispiel: Knecht Ruprecht und Ho-Chi-Minh vor einem Meer roter Fahnen. Schön, dieses Tuch mal wieder im öffentlichen Raum zu sehen. Man hatte schon Entzugserscheinungen. Oder: Knirpse mit dem Pioniertuch und Engelsschwingen. Übrigens begegnet man Ho-Chi-Minh-Bildern nicht nur auf Straßen und Plätzen, an Fassaden der Schulen oder Pateibüros, sondern man sieht sie, wenn der Zufall den Blick freigibt, auch in Wohnstuben.
Kriegsschrott als Kinderschaukel
Kommst du von Hanoi über die Halong-Bucht, das jahrtausendealte Hoi An und das touristenüberflutete kleine Fischerdorf Mui Ne endlich im quirligen alten Saigon an, dem heutigen Ho-Chi-Minh-Stadt, dann waren unterwegs die Verwüstungen des Krieges kaum erkennbar. Was dir nahe der umkämpften Hafenstadt Hai Phong als idyllische Teichanlage erschien, ist eigentlich eine Landschaft aus Bombenkratern. Hingegen sind die Kriegswunden an den Denkmälern der alten Kaiserstadt Hue, die langwieriger Restaurierungen bedürfen, oder am Wolkenpass, der Vietnams Wetter scheidet und als strategischer Punkt hart verteidigt wurde, offenbarer. In HCMC, wie man Ho-Chi-Minh-Stadt abkürzt, sehe ich einen Mann am Straßenrand, dessen Gesicht von Napalm entstellt ist und vor dem auch amerikanische Touristen ihren Geldbeutel öffnen. Dieses Gesicht bezeugt die Gräuel, die sich als Film- und Fotodokumente in die Erinnerung gebrannt haben und die mir im »Kriegsrestemuseum« in fast unmöglicher Steigerung gezeigt werden: Der Anblick der Toten und Verletzten, die sich auf ein Zehntel der vietnamesischen Bevölkerung beliefen. Das Grauen über die Verwüstungen durch Bombardements mit einer hundertfach höheren Zerstörungsenergie als der, die Hiroshima dem Erdboden gleichmachte. Das Entsetzen über die Langzeitschäden, die von den Millionen Litern Herbiziden, je nach Kanisterfarbe zynisch Agent Orange, White oder Blue genannt, hervorgerufen wurden. Das Elend der Menschen, die von dauernden Schädigungen des Erbguts betroffen sind, noch immer mit Missbildungen geboren werden oder an tödlichen Erkrankungen wie Krebs und Leukämie leiden. Und das offizielle Amerika hat bis heute nicht den Schneid, es seinem einstigen Kriegsminister McNamara gleichzutun, der sich am Lebensende fragte, wie man diese Schuld der Nachwelt erklären solle. Ich bin bestürzt, wenn ich auf vietnamesischen Getränkekarten einen »B52« angeboten bekomme und wünschte mir, der stolze David würde seinem Goliath weniger milde entgegentreten.
Im »Kriegsrestemuseum« von HCMC ist noch ein Teil des amerikanischen Waffenarsenals ausgestellt, das sich die Solidaritätsbewegung einst zu Schrott wünschte. Nun spielen Schulkinder darauf. Sie imitieren nicht Kanonenschüsse, sondern schaukeln und rutschen an den Stahlkolossen herum. Eine schöne Metapher, die der Seele guttut. Aber plötzlich schlägt sie gegen die noch immer verstörenden Bilder aus Rostock. Anderthalb Jahrzehnte, nachdem die anständige Welt »Saigon ist frei!« gerufen hatte, flogen im Norden der Ex-DDR Brandsätze gegen vietnamesische Mitbürger. Die das Feuer legten, kannten die Solidaritätsbewegung mit Vietnam vielleicht nur noch vom Hörensagen, aber viele der älteren Claqueure und Sprücheklopfer am Straßenrand dürften ihr Teil gewesen sein. Was um Himmels willen hatte diese Verelendung menschlicher Verhaltensnormen bewirkt? Stichworte wie soziale Haltlosigkeit oder existentielle Kränkung infolge des Niedergangs von Heimat gerieten in die Debatte, als nach Ursachen gefragt wurde. Die Wahrnehmung von Absturz und Entwurzelung, das Gefühl vieler Menschen, Regiertwerden ereigne sich immer häufiger über ihren Köpfen und jenseits ihrer Interessen, rechtfertigen keinen einzigen fremdenfeindlichen Exzess. Es bleibt eine soziale Erkrankung, wenn sich kurzschlüssige Empörung an der falschesten Stelle entlädt: dem Verhältnis zu unseren ausländischen Mitbürgern und zu den vor Krieg und Elend Geflüchteten. Erinnerung an gelebte Solidarität wäre eine Medizin. Wichtiger ist aber die Prophylaxe: Erziehung zu weltbürgerlicher Toleranz, Zurückweisung jeglicher nationalistischer Überheblichkeit, Ächtung quasikolonialer Ausplünderung der Dritten Welt, Abstand von machtstrategischen militärischen Interventionen, die Länder verwüsten und in den Völkern Verzweiflung säen.
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