Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die DDR und das Kalkül der Radierer

Dr. Hartmut König

 

Da ist es aber immer noch: das Kommunismusgespenst. Das Kommunistische in der Welt ist insofern Gespenst, als es noch nie reale Form annehmen konnte. In Osteuropa sind einstweilen alle Anläufe zu Fall gebracht - durch uns selbst und den altstarken Feind, der ein Schweineglück hatte mit unseren Fehlern und Gebrechen. Die Sozialismen in Asien und Lateinamerika, unter heftigem Sperrfeuer der imperialistischen Siegelbewahrer, sind dem Anbeginn einer kommunistischen Gesellschaft gleichfalls fern. Marxens alte, moderne Gesellschaftsvision wabert unerfüllt auf den Exerzierplätzen aller heutigen Mächte. Die Sehnsucht nach ihr mag konjunkturell sein, aber totzukriegen ist sie nicht. Es sei denn, die Welt wäre tot und mit ihr jede Einsicht in die Notwendigkeit revolutionärer Veränderung.

Bodenreform und Marshallplan

Die den Traum bewahren, sind keine Gespenster. Kommunisten sind reale Menschen, sitzen in Gefängnissen und Cafés, bauen Tribünen und Wohnhäuser, malen derbe Losungen und zarte Pastelle, schreiben Flugblätter für den Tag und Romane für die Ewigkeit. Sie eint etwas Entscheidendes: die Überzeugung nämlich, dass die von profitsüchtiger Ausbeutung und den sie begleitenden Aggressionskriegen erodierte Welt in neuen gesellschaftlichen Verhältnissen geheilt werden muss. Zu denen fühlte ich mich hingezogen, seit ich meinen christlichen Glauben verlor. Als ich mit 17 Jahren meine Kandidatenkarte der SED erhielt, war ich stolz, auf der Straße der Sieger der Geschichte zu marschieren. Wie leicht das über die Lippen ging: Sieger der Geschichte. Alle Niederlagen und Martyrien, die Kommunisten ertrugen, lagen jenseits eigener Erfahrung. Grimassen des Missbrauchs unserer Idee, die Arroganz von Lagerkämpfen, die Erbärmlichkeit von Denunziation und Ausgrenzung aufrichtiger Gesinnung wähnte ich auf den Nebengleisen der Epoche. Bittere Wunden halt in erbitterter Schlacht. Sie nicht aufs Neue aufzureißen, empfand ich als Stärke. Erst recht angesichts der unbestreitbaren Errungenschaften des frühsozialistischen Modells, die doch mächtig genug waren, um auf der Gegenseite als Korrektiv ungezügelten Sozialabbaus und widersinniger Hochrüstungspläne zu wirken. Ich dachte, wer hinten zu lange nach Fehlern schaut, versteuert sich vorn. Und irrte, denn Lehren ziehen aus alten Fehlern hilft, neue zu vermeiden. In denen steckte ich aber genauso wie in manchem Erfolg. Daher kommt es, dass ich mir manchmal wünschte, man könnte die Zeit zurückdrehen. Um Wege klüger zu gehen und den gröbsten Stolpersteinen auszuweichen. Aber so herum läuft Zeit nicht. Sie gestattet nur der Erinnerung eine Rückkehr. Alles NachDenken, will es eine interessante Spur in die Zukunft legen, braucht Wahrheit und Gerechtigkeit im Urteil über unser Leben in unserer Zeit.

Mein längster Lebensabschnitt liegt in der DDR. Sie war mein Vaterland geworden. Ich fühlte mich dort zu Hause, wo Nazis nicht in Regierungsämter gekommen waren, wo braune Pauker durch Neulehrer ersetzt wurden, wo die Großindustriellen enteignet waren und die Bodenreform landarmen Bauern eine Zukunft gab, wo das Bildungsprivileg gebrochen und die Vollbeschäftigung erreicht wurde. Mit der Zeit lernte ich diesen Vorzug mehr zu schätzen als die Verlockungen fetterer Weiden nebenan. Die hatte der Marshallplan dem Westen beschert, während der Osten mit seinen industriellen Standortnachteilen noch die Hauptlast an Reparationsleistungen zur Linderung der in der Sowjetunion angerichteten Kriegsschäden zu tragen hatte. 1946 beliefen sich diese einschließlich der Stationierungskosten auf nahezu die Hälfte des Bruttosozialproduktes der SBZ. Da war ich noch nicht geboren, aber ich spürte als Kind noch lange die Auswirkungen des unvermeidlichen Mangels. Ja erlebte, wie dieser bei offener Grenze durch Schieber und Spekulanten noch verstärkt wurde. Wollte meine Mutter ein Pfund Butter einkaufen, musste sie ihren Ostberliner Personalausweis vorzeigen. Die Lebensmittelkarten waren schon abgeschafft, und ein Westberliner, der seine D-Mark zum Kurs 1:5 getauscht hatte, hätte das gleiche Pfund zum Spottpreis erhalten. Medizinstudenten unserer Universitäten hielten ihren Anstellungsvertrag von westdeutschen Kliniken zuweilen eher in den Händen als ihr Examen. Ich konnte schon laufen, als Moskau noch einmal den Vorschlag zu einem entmilitarisierten, neutralen Gesamtdeutschland unterbreitete. Aber Adenauer wollte lieber das halbe Deutschland ganz. Die DDR sollte also Bestand haben und ich eine materiell bescheidene, aber sozial gesicherte Kindheit und Jugend in ihr verbringen. Wobei die Vaterlandswerdung der DDR bei mir Geduld benötigte.

Aus eigenen Kräften

Den 17. Juni 1953 erlebe ich als Fußgänger an der Hand meiner zitternden Großmutter. Wir können die Schönhauser Allee nicht überqueren, weil Sowjetpanzer in endloser Reihe unterwegs sind. Ein Fünfjähriger weiß nichts über Normerhöhungen und Einflüsterungen aus dem Westen, die Arbeiter sollten ihre sozialen Forderungen in politischen Aufstand verkehren. Aber die Bilder wirken noch, als mich der 13. August 1961 im Kinderferienlager überrascht. Ich bin ratlos. Der Weg zu den kümmerlichen Alimenten des Vaters, der in Westberlin lebt, ist abgeschnitten. Viele Familien sind getrennt. Warum nur sehen intelligente, integre Zeitgenossen in der Grenzziehung eine Chance zur wirtschaftlichen und innenpolitischen Konsolidierung der DDR? Bald bin ich auf der EOS, und das neue Milieu arbeitet an mir. Ich erkenne, wie sich im Schatten der Mauer Wirtschaftliches stabilisiert und frische Ideen sich in die gesellschaftliche Diskussion wagen. Überlegungen des sowjetischen Ökonomen Liberman aufgreifend, entsteht das NÖS, das sich am Plan und am Markt orientieren will. Der Option einer neuen ökonomischen Weichenstellung geht eine Welle von Offenheit und Reformlust einher. Schriftsteller greifen das auf. Mit dem Jugendkommuniqué werden neue Töne in der Jugendpolitik angeschlagen, die beim Deutschlandtreffen 1964 erfolgreich auf ihre Echtheit geprüft werden. Der individuelle Konsum, vor allem auch die Ausstattung der Haushalte mit technischem Gerät, wächst spürbar. Eine Verbesserung der Entlohnung, nicht zuletzt über die NÖS-Hebel bewirkt, ermöglicht das.

Es formiert sich aber auch eine Gegenbewegung unter Erich Honecker, die vor allem in der Kultur- und Jugendpolitik Änderung erzwingt. Ulbricht indes setzt in Fortführung der NÖS-Ideen auf die Potenziale des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Als ich mit dem Oktoberklub in der Singebewegung aktiv bin, lässt mich Walter Ulbricht zu einer Staatsratstagung einladen und erklärt mir bei Tisch das Wirken seiner Suchtrupps nach dem Weltniveau. Erst bin ich amüsiert, Jahre später fasziniert von der Weite vieler NÖS-Gedanken. Und doch teile ich angesichts gravierender ungelöster sozialer Probleme die Hoffnungen, die sich mit dem VIII. Parteitag, mit der Ära Honeckers verbinden: Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem, stärkere Förderung der Jugend, Abkehr von Elementen des Personenkults, wie sie in der Benennung von Industrie- oder Sportanlagen nach lebenden Funktionären zum Ausdruck kamen. Der Aufwind ist spürbar. Als im Sommer 1973 die X. Weltfestspiele für die DDR-Jugend und ihre Gäste zu einem unvergesslichen Erlebnis werden, sind die Weichen auf internationale Anerkennung der DDR gestellt. Noch im selben Jahr werden beide deutsche Staaten Mitglieder der UNO. Zugleich ruft der blutige Putsch gegen Chiles Allende-Regierung in der DDR jenes tiefe Gefühl der Solidarität auf den Plan, das ich an meinem Land immer liebte. Die im Alltagsleben spürbaren Aufwendungen für Soziales, öffentliche Dienstleistungen und privaten Konsum sind nicht risikolos. Ich erlebe im ZK, wie der besorgte Leiter der Staatlichen Plankommission nach moderaten Warnungen vor einer unbezahlbaren Subventionsmentalität zurechtgewiesen wird. Tatsächlich führen Schulden plus Entschuldungsrigorosität mit ihren ideologischen Zugeständnissen, dazu ein enorm gesteigertes staatliches Sicherheitsbedürfnis und - im Volk immer stärker thematisierte - Demokratiedefizite zu einem schwindenden Vertrauen in die politische Führung und schließlich zu einer politischen Krise, die die Preisgabe der DDR zur Folge hat.

Ein Alltag menschlicher Beziehungen

Die DDR würde dieser Tage 65. Leute wie ich stehen vor keinem Grab, sondern einem Denkmal. Wir trauern. Wir beklagen den Verlust von Heimat, von materiellem und ideellem Eigentum des Volkes; verfluchen die untreue Hand, die den herrenlos gewordenen Besitz nach den Maßgaben des Großkapitals verscherbelte; den Landgewinn der Nazis, der nicht nur, aber vor allem aus Bindungslosigkeit in den neuen Verhältnissen resultierte; verurteilen den politisch-rigorosen Elitenaustausch und die Schändung von DDR-Biografien. Aber nicht zuletzt: Wir beklagen unser Unvermögen, die Gründungsideale der DDR im sich wandelnden Alltag der wirtschaftlichen, politisch-ideologischen und kulturellen Systemkämpfe stets aufs Neue so zu behaupten, dass sie als frei und gern gelebte gesellschaftliche Alternative im Bewusstsein einer Bevölkerungsmehrheit dauerhaft verankert blieben.

Aber wir tanzen auch. Nach einer Musik aus bewahrtem Stolz und nie losgelassenen Erinnerungen. Bildern aus Kindheit und Jugend, die eine viel reichere Individualität förderten, als heute oft suggeriert wird. Reminiszenzen an eine Schule mit ihrem polytechnischen Prinzip und Lehrern, die uns so erzogen, als hinge von ihnen ganz persönlich unser weiteres Lebensschicksal ab. Erinnerungen an eine Lehre oder ein Studium mit inhaltlicher und zeitlicher Stringenz sowie anschließendem (oft gelenktem, aber garantiertem) Einsatz in der Praxis. Und nicht zu vergessen: Vollbeschäftigung bei hinreichendem sozialen Standard für jedermann. Eine erschwingliche Teilhabe an jeglicher Kultur. Frauen kriegten früh Kinder, denn sie behielten ihre Arbeit. Kitas und Kindergärten ermöglichten ihr berufliches Fortkommen. Der Alltag menschlicher Beziehungen zeichnete sich durch ein Bemühen um Solidarität und Empathie aus. Arbeitsbrigaden, Hausgemeinschaften, Jugendklubräte oder Gewerkschaftsvertrauensleute heilten Konflikte, für die heute Rechtsanwälte in Marsch gesetzt werden. Die DDR führte nie einen Krieg. Mit den Erinnerungen kommen Errungenschaften ins Bewusstsein, die uns heute als Verlust erscheinen, während sie seinerzeit im Umfeld blutleerer Argumentation allzu schnell als ideologische Sprechblasen abgetan wurden.

Wer der DDR als Freund und Mitgestalter heute einen gerechten Kranz binden will, wird im Lorbeer nicht auf Disteln verzichten. Aber die Mischung sollte stimmen. Denn die Bilanz der untergegangenen Heimat und unseres Lebens in ihr hat eine erstaunliche Haben-Seite, die man sich nicht stehlen lassen darf. Eine gut besoldete Heerschar von Radierern hat sich daran gemacht, jene Elemente der DDR-Geschichte aus günstiger Erinnerung zu löschen, die eine wachsende Neugier auf sozialistische Gegenentwürfe zum profitbesoffenen Raubtier-Kapitalismus wieder erfragen könnte. Die ideelle Auferstehung alter, störender Korrektive soll verhindert werden, damit der gesellschaftliche Zustand Deutschlands verewigt und selbst der geringste »Wandel durch Annäherung« an Werte sozialistischer Emanzipation verhindert wird. Dem müssen wir entgegenwirken. Frei von dogmatischer Umklammerung alter Irrtümer und Fehler, aber auch von wendehälsischer Verleugnung jener Haben-Seite, sollte es gelingen, verwertbare Spuren zu einer sozialistischen Zukunftsoption zu legen. Wie könnte man die DDR besser würdigen?

 

Mehr von Hartmut König in den »Mitteilungen«: 

2013-09: Chile tanzte