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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Ruhrkampf 1923

Prof. Dr. Heinz Karl, Berlin

 

Gegenwärtig erleben wir eine beunruhigende Zuspitzung internationaler Konflikte. Der USA-Imperialismus, die Hauptkraft des Kapitalismus, reagiert auf den Rückgang seines Gewichts (ökonomisch, politisch, militärisch) in der Welt durch verschärfte Aggressivität sowohl gegen antiimperialistische Kräfte wie die rapid erstarkende sozialistische Volksre­publik China als auch gegen kapitalistische Konkurrenten wie die Russische Föderation.

Eine ähnliche Situation – allerdings mehr als zwei Jahrzehnte vor Hiroshima und Nagasaki – entwickelte sich vor einem Jahrhundert in Europa, mit dem Schwerpunkt Deutschland. Die den lothringischen Erzbergbau beherrschenden französischen Konzerne und die deut­schen Ruhrkohle-Konzerne hatten sich im Prinzip darauf geeinigt, sich zu einem Monopol­giganten von Weltrang zusammenzuschließen, konnten sich aber über ihren jeweiligen Anteil nicht einigen. Die deutschen Konzerne beanspruchten 50 Prozent, die französischen wollten ihnen aber nur 40 Prozent zugestehen und beanspruchten selbst 60 Prozent, aus­gehend vom militärischen Übergewicht Frankreichs. Für den Fall der Ablehnung drohten sie mit militärischen Schritten Frankreichs. Die deutschen Monopolisten und die ihnen hörige Reichsregierung unter dem rechtskonservativen Konzernmanager Cuno, die für die­sen Fall mit einer Einmischung Englands und selbst der USA rechneten, erleichterten diese Zuspitzung noch durch die Einbehaltung fälliger Reparationszahlungen.

Eine Konferenz der Kommunistischen Parteien Deutschlands, Frankreichs, Großbritan­niens, Italiens, Belgiens, der Niederlande und der Tschechoslowakei am 6. und 7. Januar 1923 in Essen warnte vor einer solchen den europäischen Frieden zerstörenden Entwick­lung. Sie rief die Arbeiter zu internationaler Solidarität und zum Kampf gegen die imperia­listische Politik vor allem der eigenen Bourgeoisie auf. Entsprechende Vorschläge der KPD an die Vorstände der Sozialdemokratie und der freien Gewerkschaften wurden von diesen jedoch abgelehnt.

Aber am 11. Januar 1923 und in der folgenden Zeit besetzten französische und belgische Truppen große Teile des Ruhrgebiets, des »industriellen Herzens« Deutschlands, und ande­re strategische Punkte des Rheinlandes. Als einzige auswärtige Macht legte die wenige Wochen zuvor gegründete UdSSR entschiedenen Protest ein.

Die Reichsregierung proklamierte den »passiven Widerstand«; die bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie wiederholten im Grunde ihre Haltung vom August 1914, und die Mittelschichten erlagen weitgehend der chauvinistischen Verhetzung.

Für die KPD kam es jetzt darauf an, ihre bereits Anfang Januar 1923 dargelegten Positio­nen zu konkretisieren. Mit ihrem Artikel »Um das Vaterland« (am 21. Januar im Zentral­organ »Die Rote Fahne«) stellte Clara Zetkin nicht nur die bürgerliche »Vaterlands«-Phra­seologie im Stile von 1914 (die sich 1923 noch verstärkte) bloß, indem sie ihren untrenn­baren Zusammenhang mit der Eigentums- und Klassenlage konstatierte. Sie wies auch nach, dass die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten in den Mittelschichten, indem sie ihre Macht erkämpfen, erstmals ein Vaterland für die große Mehrheit der Nation realisieren. 1 Vom gleichen Geiste getragen war der Aufruf der Zentrale der KPD vom 21. Januar 1923 »Schlagt Poincaré und Cuno an der Ruhr und an der Spree!« 2 Es gelte, nach zwei Seiten zu kämpfen: gegen die französische Okkupation und die deutsche kapitalistische Reaktion.

Der VIII. Parteitag der KPD (28. Januar – 1. Februar 1923 in Leipzig) wurde mit einer Rede Clara Zetkins eröffnet, in der sie präzis die handelnden Kräfte und die Perspektive einschätzte. Auf dem Rücken der deutschen Werktätigen werde ein Streit zwischen den fran­zösischen und deutschen Konzernen um den größeren Anteil an ihrer Ausbeutung ausge­tragen. Das deutsche Proletariat müsse erkennen, dass es »nicht nur einen Feind hat, son­dern zwei Feinde, die gleich gefährlich und gleich skrupellos sind ... Der Feind kommt nicht nur von der Seine, er steht schon längst auch an der Spree und an der Ruhr.« 3

Der Parteitag bekräftigte seine Solidarität mit den französischen Werktätigen und ihrer revolutionären Vorhut, der FKP, im gemeinsamen Kampf »gegen die Hüttenwerksfürsten Frankreichs und die Zechenherren Deutschlands« 4 in einem Manifest an die KP und die revolutionären Gewerkschaften Frankreichs.

Und in einem »Manifest an Sowjetrussland« dankte der Parteitag für die »große Lehre, daß die Sache der Nation heute die Sache der Arbeiterklasse ist.« 5

Wie diese historische Rolle der Arbeiterklasse konkret zu realisieren ist, umriss vor allem der wichtigste Beschluss des Parteitages, seine Leitsätze zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiterregierung. 6

Sie gingen davon aus, dass nicht nur der Kampf um die Macht, sondern auch der Kampf um die Tagesinteressen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen mit Erfolg nur als Massenkampf zu führen ist und die gemeinsame Aktion der Kommunisten mit den anderen in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung wirkenden politischen Kräften, insbesondere der Sozialdemokratie, erfordert. Dies bedinge auch, sich nicht nur an deren Mitglieder und untere Organisationen zu wenden, sondern auch an deren zentrale Leitungen heranzutre­ten und mit ihnen Vereinbarungen über gemeinsames Handeln anzustreben. Von gemein­samen Aktionen und deren Erfahrungen sei eine Linksentwicklung zu erwarten.

Orientiert wurde auf die Bildung von Arbeiterregierungen, Koalitionsregierungen der Arbei­terparteien und -organisationen auf parlamentarischer Basis, aber mit außerparlamentari­scher Unterstützung und Beeinflussung durch die Arbeiterparteien und -organisationen. Ihr Wirken würde eine schrittweise Veränderung der Machtverhältnisse ermöglichen, die Per­spektive eines friedlichen Übergangs zur Diktatur des Proletariats eröffnen.

Wichtig war die Orientierung auf die Bildung von Landes-Arbeiterregierungen (wie sie im Oktober 1923 in Sachsen und Thüringen Realität wurden), da sie die Möglichkeit eröffne­ten, aus Kraftzentren der Arbeiterbewegung heraus gesamtdeutsche Entwicklungen zu bewirken.

Ungenügend wurde in den Leitsätzen herausgearbeitet, dass mit der Verschärfung des Klassenkampfes der Rahmen der bürgerlichen Demokratie überschritten, reale Machtver­änderungen vollzogen werden müssten.

Clara Zetkin über die Klassen- und die nationale Frage

Mit Erfolg nutzte die KPD alle Möglichkeiten, Klarheit über die Kompliziertheit der Situation und der Aufgaben zu schaffen, den sich entwickelnden Widerstand gegen Unternehmer­willkür und Besatzungsregime zusammenzufassen und zu steigern. Am 7. März 1923 machte Clara Zetkin den Reichstag zum Forum, um das Wesen der Auseinandersetzung, den dialektischen Zusammenhang der nationalen Frage mit der Klassen- und Machtfrage, klarzustellen. Die »Verteidigung Deutschlands gegen den französischen Imperialismus« 7 könne nicht im Bunde mit der deutschen Bourgeoisie erfolgen, die sich mit der französi­schen nur um ihren Anteil an der Ausbeutung streite und dies durch chauvinistische Hetze tarne. »Deutschlands Wiedergeburt kann nicht durch nationalistische Abenteuer erfolgen, sondern nur, wenn ... die Arbeiterklasse sich als Nation konstituiert, indem sie die politi­sche Macht ergreift«, um »damit die Grundlage zu schaffen für ein neues, für ein freies, höheres Deutschland, das allein ein Vaterland für alle ist!« 8

In ihrer um diese Zeit verfassten grundsätzlichen Schrift zur nationalen Frage »Um Deutschlands nationales Lebensrecht« war ihr prinzipieller Ansatz: »›Vaterland‹ und ›Natio­nalstaat‹ haben für die Bourgeoisie und das Proletariat wesensgegensätzlichen Inhalt und Sinn.« 9 Die Bourgeoisie verteidigt mit dem Nationalstaat ihr »politisch, gesetzlich und vor allem auch militärisch gesichertes wirtschaftliches Herrschafts- und Ausbeutungsgebiet«. 10

Die deutschen Arbeiter aber haben »ihr revolutionäres Zukunftserbe zu verteidigen, vater­ländische nationale Werte, die für den Judasschilling zu verschachern die deutsche Bour­geoisie sich anschickt. Zu diesem Ziele müssen sie mit robuster Faust die verräterische deutsche Bourgeoisie beiseite stoßen und selbst im Doppelkampf die revolutionäre Aufga­be lösen, die die profitgierende zitternde kapitalistische Hand nicht lösen kann und nicht lösen will.« 11

Nachdrücklich warnt Clara Zetkin vor der sektiererischen, pseudoradikalen Verirrung, sich »in den anationalen, geschweige denn in den antinationalen Trutzwinkel zu flüchten, ange­sichts des Mißbrauchs der nationalen Begriffe und Dinge für die Zwecke der bourgeoisen Klassenherrschaft« 12.

Die KPD müsse die Führung »im Ringen für das nationale Lebensrecht« 13 übernehmen, auch alle anderen von der Bourgeoisie benachteiligten sozialen Schichten um sich sam­meln. »So muß die Partei der stärksten, klarsten, bewußtesten Internationalität gleichzeitig auch zur führenden nationalen Partei werden. Nicht erst morgen, in siegreicher Zukunft, nein, heute schon in kämpfender Gegenwart ... gegen den französischen Imperialismus wie den deutschen Kapitalismus«. 14

Dass der eingeschlagene Weg richtig war, zeigte eine vom 17. bis 20. März 1923 in Frank­furt/Main stattfindende internationale Arbeiterkonferenz. Einberufen von sich dem Ruhr-Einfall widersetzenden rheinisch-westfälischen Betriebsräten, vereinigte sie 243 Delegier­te, davon 50 Vertreter von kommunistischen und anderen Arbeiterparteien, Gewerkschaf­ten und weiteren politischen, sozialen und kulturellen Organisationen aus Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz, der Tschechoslowakei, Polens, Italiens, Bulgariens, Großbritan­niens, Österreichs, Indiens und der UdSSR.

Die Konferenz erörterte vor allem die wachsende Kriegsgefahr, Möglichkeiten und Formen der internationalen Solidarität und die Bildung antifaschistischer Abwehrorganisationen.

Sie forderte die Aufhebung des Versailler Diktats und die Zurückziehung aller Entente-Trup­pen aus Deutschland. Von ihr gingen starke Impulse zur Verbreiterung und organisatori­schen Konsolidierung der antikapitalistischen und antifaschistischen Bewegungen aus, wie die massenhafte Bildung von Kontrollausschüssen der Werktätigen mit sozialpolitischen Aufgabenstellungen und des antifaschistischen Massenselbstschutzes in Gestalt der prole­tarischen Hundertschaften.

Das Ruhrgebiet war zu einem Knotenpunkt tiefgreifender politischer und wirtschaftlicher Widersprüche geworden. Am 25. April 1923 rief ein Kongress der Betriebsräte der Montan­industrie in Essen zum Widerstand gegen die existenzverschlechternden Maßnahmen der Besatzungstruppen auf. Als in der zweiten Maihälfte 380.000 Berg- und Hüttenarbeiter wegen ihrer katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Streik traten, ließen die französischen Besatzer nicht nur verstärkte Polizeikräfte, sondern auch Reichswehr-Verbände in die entmilitarisierte Zone einrücken.

Der Ruhr-Streik hatte ein deutschlandweites Echo: In Schlesien streikten im Juni 120.000 Landarbeiter, die erste Juni-Hälfte sah einen Generalstreik der oberschlesischen Berg-, Hütten- und Metallarbeiter. In Berlin streikten vom 6. bis 12. Juli 130.000 Metallarbeiter und Zehntausende Arbeiter der Bau- und Holzindustrie.

In Verbindung mit diesen Arbeitskämpfen stieg der Einfluss der KPD und anderer linker Kräfte in Betriebsräten und Gewerkschaften erheblich und entsprechende Erfolge zeigten sich bei Landtags- und Kommunalwahlen.

* * *

Deutschland ging Mitte 1923 offenkundig tiefgreifenden, revolutionären Erschütterungen entgegen, die sich angesichts seiner wirtschaftlichen Verflechtungen und politischen Ein­bindungen auf viele europäische Länder auswirken mussten. Die Entwicklung in Deutsch­land schwächte die Positionen der europäischen Bourgeoisie und gab den linken Kräften in vielen europäischen Ländern Auftrieb. Die Massencharakter tragende Verurteilung des faschistischen Regimes in Italien und Solidarisierung mit seinen Gegnern sowie die breite Entwicklung antifaschistischer Einheits- und Kampforgane in Deutschland unterstützten den Kampf der italienischen Antifaschisten. Die antiimperialistischen Massenaktionen in Deutschland waren auch eine gewichtige Entlastung für den ersten dem Sozialismus zustrebenden Staat der Welt.

Die revolutionäre deutsche Arbeiterbewegung sammelte in diesen Monaten ihre ersten praktischen, konkreten Erfahrungen in der Heranführung der Massen und ihrer Vorhut an die Realisierung von Übergangsformen der politischen Macht.

Dies gilt gleichermaßen für die immense Steigerung der Bedeutung der nationalen Frage für die effektive Gestaltung der Strategie und Taktik und die dazu erbrachten Leistungen.


Anmerkungen:

1  Vgl. Clara Zetkin, Zur Theorie und Taktik der kommunistischen Bewegung, Leipzig (Reclam) 1974, S. 231 ff.

2  Vgl. Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. VII, 2. Halbbd., Berlin 1966 (im Folgenden: DuM VII/2), S. 210-213.

3  C. Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II, Berlin 1960, S. 622.

4  DuM VII/2, S. 237.

5  Ebenda, S. 233.

6  Vgl. ebenda, S. 246 ff.

7  C. Zetkin, Zur Theorie und Taktik, S. 242.

8  Ebenda, S. 247 u. 249.

9  C. Zetkin, ARS II, S. 657.

10  Ebenda, S. 658.

11  Ebenda, S. 662.

12  Ebenda.

13  Ebenda.

14  Ebenda, S. 662/663.

 

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