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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Clara Zetkin – aktueller denn je!

Prof. Dr. Heinz Karl, Berlin

 

(Vor 100 Jahren erschien ihre bedeutendste Schrift.)

 

Clara Zetkins Buch »Um Rosa Luxemburgs Stellung zur Russischen Revolution« [1] war formal ihre empörte Reaktion auf die tendenziöse Veröffentlichung einer Niederschrift Rosa Luxemburgs (von dieser selbst zurückgehalten) vom September 1918 durch den früheren prominenten KPD-Funktionär Paul Levi Anfang 1922, um seine Trennung von der revolutio­nären Bewegung zu kaschieren.

In ihrem Buch würdigte Clara Zetkin die Niederschrift Rosa Luxemburgs vom September 1918 als entschiedene Parteinahme für die Oktoberrevolution 1917 und Solidarisierung mit der sie führenden Partei der Bolschewiki. Zugleich äußerte sie kritische Vorbehalte zu einigen Positionen Rosa Luxemburgs. Vor allem ist sie nicht einverstanden mit R. Luxem­burgs Meinung, die Auflösung der Konstituierenden Versammlung ohne deren Neuwahl hätte eine Einschränkung der Demokratie bedeutet, denn diese sei durch die Organe der Sowjetmacht von den örtlichen Sowjets bis zum Sowjetkongress und dessen gewählten Organen gewährleistet. Eine Konstituante neben diesen liefe auf einen Dualismus, eine Spaltung der Staatsmacht hinaus. Ähnlich verhalte es sich mit Luxemburgs Kritik am sowjetischen Wahlrecht, weil es nur Arbeitenden das Stimmrecht gewähre.

Ein weiterer Streitpunkt war die Agrarpolitik. Luxemburg betrachtete die Aufteilung des Großgrundbesitzes unter Landlose und Landarme zum einen als historischen Rückschritt vom Großbetrieb zum Mittel- und Kleinbetrieb, zum anderen als eine Stärkung besitzender Schichten und Schwächung des Einflusses der Arbeiterklasse. Zetkin ging davon aus, dass diese Maßnahme entscheidende Voraussetzung sei, um große Teile der werktätigen Landbevölkerung für ein Zusammengehen mit der Arbeiterklasse gegen Bourgeoisie und Junkertum zu gewinnen.

Mit Befriedigung konnte Zetkin darauf verweisen, dass Rosa Luxemburg sich sehr bald und gründlich selbst korrigierte. Das widerspiegelte sich vor allem in dem von ihr politisch geprägten Organ des Spartakusbundes »Die Rote Fahne«, in dessen von ihr verfasstem und vom Gründungsparteitag der KPD mit geringfügigen Veränderungen als Programm angenommenem Programmdokument, in ihren Reden auf dem Parteitag und ihren Artikeln und Reden danach bis zu ihrer Ermordung.

Notwendigkeit der marxistischen Partei

Im Zusammenhang mit der Verteidigung Rosa Luxemburgs gegen Levis perfide Entstellun­gen und der Enthüllung seiner Motive legte Clara Zetkin Erkenntnisse und Einsichten dar, die nicht nur für die historische Rückschau, sondern auch für die Gestaltung gegenwärtiger Politik Gewicht haben, die selbst für die Einschätzung der Perspektiven von größter, ja fun­damentaler Bedeutung sind.

In ihren Darlegungen wird deutlich, dass es sich bei der Oktoberrevolution 1917 in Russland, »der gewaltigsten Geistes- und Willenstat ..., die die Geschichte bis nun kennt« (S. 119 [2]) in der Tat um einen weltgeschichtlichen Wendepunkt handelt, denn sie hat erstmals die Macht aller Ausbeuterklassen gebrochen, die reale Perspektive einer Gesellschaft ohne Ausbeutung, gleichberechtigter freier Menschen, eröffnet. Die bekannte Charakteristik als »Große Sozialistische Oktoberrevolution« hat ihre volle Berechtigung.

Überzeugend arbeitet Zetkin die unbedingte Notwendigkeit einer marxistischen Partei Leninschen Typs für einen erfolgreichen Kampf um den Sozialismus heraus. Immer wieder betont sie die einzigartige Rolle der Partei der Bolschewiki, bis hin zu der Sentenz: »Es ist die Tragik der Bolschewiki, dass sie die Revolution unter den ›unmittelbar vorgefundenen Umständen‹machen müssen. Es wird ihr ewiger Ruhm bleiben, dass sie sie dennoch machen.« (S. 177)

Sie verweist darauf, dass die Bolschewiki treffende Analysen der historischen Situation gaben, was sie befähigte, die richtige strategische und taktische Orientierung zu geben und große Massen zu mobilisieren (S. 182/183). Sie stellten sich bewusst den Anforderungen einer Regierungspartei und vermochten sie nach und nach zu meistern (S. 159-162).

Daraus, dass sie das Heranreifen einer Krisensituation 1920/21 unterschätzten, zogen sie die richtigen selbstkritischen Schlussfolgerungen (S. 167/168).

Zetkin beleuchtet die verschiedensten Aspekte, Felder und Methoden der Arbeit der Bol­schewiki mit den Massen und betont: »Die Partei ergreift und erzieht diese nicht dadurch, dass sie sich als ein amorphes, quallenartiges, zerfließendes Etwas unter sie ergießt. Nein, indem sie ihre geistige, politische Individualität scharf herausarbeitet, ein ausgeprägtes eigenes Gesicht zeigt, das auch unter Sturm und bei Nebel erkannt, das nie verwechselt und nie missverstanden werden kann.« (S. 53)

Entschieden wandte sie sich gegen alle Bestrebungen, die revolutionären, marxistischen Sozialisten (Kommunisten) mit Reformisten und Zentristen in einer Partei zu »vereinigen« und damit politisch zu lähmen. Sie verurteilte Paul Levis Streben, sich als Wegbereiter einer »großen sozialrevolutionären Arbeiterpartei« in Szene zu setzen. »Das geistreichste Spielen mit den Begriffen der »Sekte« und »Masse« schafft nicht die geschichtlichen Vor­bedingungen einer Massenpartei« (S. 111).

Haltung in der Machtfrage und zur NÖP

Zetkin macht deutlich, dass entscheidend für den (keineswegs unumstößlichen!) Charakter dieser Partei ihre Haltung in der Machtfrage ist – unvereinbar mit Reformismus oder Nurparlamentarismus. Dies gilt für den Kampf um die Macht, aber – wie sie eindringlich herausarbeitet – erst recht nach ihrer Erringung, als regierende Partei. »Die bolschewisti­sche Gesamtpolitik wurde zunächst und vor allem durch die historische Notwendigkeit bestimmt, den Sieg der proletarischen Revolution, ihr Fortdauern, ihr Weitertreiben sicher­zustellen. Entscheidend dafür war die Behauptung der Staatsgewalt.« (S. 129)

Dies bedingte vor allem die Erhaltung und Festigung des Bündnisses mit den werktätigen Bauern, unter denen durch die Oktoberrevolution auf dem Lande der Mittelbauer (nicht Ausbeuter, aber selbständiger Produzent und Eigentümer) zur Hauptkraft wurde. Clara Zet­kin verglich die russische Gesellschaft zur Zeit der Oktoberrevolution mit »einer auf die Spitze gestellten Pyramide« (S. 121). »Unten, wo die tragende Grundlage sein soll, eine junge, gering entfaltete, noch nicht völlig bodenständig gewordene Großindustrie und ein junges, ziffernmäßig wie seiner ganzen Entwicklung nach schwaches Proletariat. Darüber aber die massiven Schichten einer kleinbäuerlichen und handwerklichen Wirtschaft – eine riesenhafte Sammlung aller möglichen rückständigen und rückständigsten »Betriebsweise«, und dementsprechend eine erdrückend starke Kleinbauernschaft, die mindestens 80 Prozent der Bevölkerung ausmacht, und deren ungeheure Mehrzahl mit ihrer kulturellen Entwicklung, ihrer sozialen Einstellung noch tief im Mittelalter steckt, ja in noch länger entschwundenen Zeiten.« (S. 121)

Die KPR(B) fand den Ausweg aus Rückständigkeit und Bürgerkriegsmisere mit der Entwick­lung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP), dem 1921/22 eingeleiteten Übergang von der allgemeinen Ablieferungspflicht zur Naturalsteuer, verbunden mit der Entwicklung des inneren Marktes, kapitalistischer Wirtschaftsunternehmen, des Handels mit kapitalisti­schen Ländern, auch der Vergabe von Konzessionen an ausländische Unternehmen. Gerichtet war die NÖP darauf, wirtschaftliche Initiative anzuregen, die Produktion zu stei­gern, jedenfalls Bevölkerungsbedarf zu befriedigen.

Clara Zetkin widmete den Problemen der NÖP besondere Aufmerksamkeit. Von allen Geg­nern der Sowjetmacht und der kommunistischen Bewegung, auch von P. Levi, wurde die NÖP als Rückkehr zum Kapitalismus und Scheitern der sozialistischen Revolution hingestellt.

Clara Zetkin wies hingegen nach, dass es sich um einen zeitweiligen Rückzug, eine Kräfte­sammlung, eine Erkundung bisher unerschlossener Entwicklungsmöglichkeiten handelte. Gesichert blieben die Eigentumsrechte der Sowjetmacht und die damit verbundenen Kon­trollfunktionen. Sie schätzte ein, dass »Sowjetrussland, verlassen von den Proletariern der ganzen Welt, das schmerzliche, schwere Beginnen wagen darf, den Kapitalismus als Mithel­fer zuzulassen. Es darf ... hoffen, diesen furchtbaren und gefährlichen Gesellen soweit zu bändigen, dass er ein unfreiwilliger Diener der wirtschaftlichen Vorbereitung des Kommunis­mus bleibt, und nicht zum selbstherrlichen Gebieter der russischen Wirtschaft und Politik wird. Denn noch ist alle Macht den Sowjets.« (S. 55) Und ihre schließliche Bilanz lautete:

»Zwar musste die Sowjetmacht in der Wirtschaft mit dem Kapitalismus paktieren, aber nicht, um sich mit ihm auszusöhnen, sondern um sich stärker, siegessicherer für seine Überwindung zu rüsten.« (S. 149)

Clara Zetkin ging davon aus, dass alle, auch die ökomomisch-technisch entwickeltsten imperialistischen Länder, eine solche Entwicklung vollziehen müssen, was sie im Novem­ber 1922 in einem Brief an Lenin betonte und in ihrem Referat über »Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution« am 13. und 14. November 1922 auf dem IV. Weltkongress der Komintern ausführlich begründete. (Ihr Referat enthält ganze Abschnitte aus diesem Buch.)

Das ganze Buch ist eine Streitschrift Clara Zetkins nicht nur gegen Imperialismus und Reak­tion, auch gegen deren Begünstigung und Unterstützung durch opportunistisches Verhalten, reformistische Anpassung und revisionistische Aufweichung. Schon auf den ersten Seiten wendet sie sich sowohl gegen die opportunistische Praxis der Sozialdemokratie »wie gegen alle anarchistischen und anarchistelnden Schrullen und Kindsköpfigkeiten sich revolutionär gebärdender Kleinbürgerei«. (S. 9) Auf der letzten Seite fasst sie mahnend zusammen:

»Die revolutionäre Arbeiterpartei der Bolschewiki darf Aug in Auge mit der Situation weni­ger als je mit ihrer ideologischen und organisatorischen Geschlossenheit spielen lassen.« Sie »muss die große Linie ihrer Politik festhalten«, denn sie »ist der erste Versuch größten weltgeschichtlichen Stils, marxistische Politik zu treiben«. (S. 186)

Schluss

Die von Clara Zetkin 1922 – vor einem Jahrhundert! – unterbreiteten Erkenntnisse und Ein­sichten erwiesen sich als realistisch und weitsichtig. Sie wurden von der Geschichte bestä­tigt und sind heute aktueller und zwingender denn je!

Die imperialistische Bourgeoisie und die Arbeiterklasse, das werktätige Volk stehen sich (auch heute und künftig) national und international objektiv unversöhnlich gegenüber! Nicht Himmelsrichtungen (Ost und West), sondern Klassenkräfte – Imperialismus und Sozialis­mus – ringen in der internationalen Arena miteinander.

Die Arbeiterklasse muss den Kapitalismus nicht nur überwinden (stürzen), sie muss ihn auch im Interesse des sozialistischen Aufbaus ausnutzen! Mit größtem Erfolg tut es heute die sozialistische Volksrepublik China (Clara hätte ihre helle Freude!). Die Hetze gegen sie ist eine aufwendige Kopie der Hetze gegen den »Kapitalismus der Sowjets«.

Für die Realisierung dieser historischen Aufgaben der Arbeiterklasse ist die Partei Lenin­schen Typs, ihre politische Hegemonie unerlässlich! Deshalb ist die Überwindung der Krise der kommunistischen Bewegung die Schlüsselfrage – und Clara Zetkin erteilt uns dazu viele Lehren.

Die Kräfte, die den Sozialismus realisieren wollen, müssen sich über die vorstehenden unumgänglichen Voraussetzungen klar sein und entsprechend konsequent und unversöhn­lich handeln.

 

Anmerkungen:

[1]  1922 erschien Clara Zetkins Buch »Um Rosa Luxemburgs Stellung zur Russischen Revolution« im Verlag der Kommunistischen Internationale, Hamburg, mit einem auf den 24. Oktober 1922 datierten Vorwort Clara Zetkins.

[2]  Alle Seitenangaben beziehen sich auf folgenden Titel: Clara Zetkin, Rosa Luxemburgs Stellung zur Russischen Revolution, Berlin 2021, Manifest-Verlag (https://manifest-buecher.de/). Erscheinungsdatum: 31. März 2021, 212 Seiten, 12,90 Euro, ISBN 978-3-96156-103-2.

 

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2022-06: Vor 90 Jahren: Antifaschistische Aktion! (II)

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