„Poj lastotschka, poj …!“
Werner Wüste
„Poj lastotschka, poj …!“
Von Werner Wüste
Manche Erinnerungen sind im Lebensfaden wie Knoten. Sie sind zu fühlen. An ihnen entlang tastend, vollzieht sich Besinnen auf Wesentliches.
Soweit ich zurückdenken kann, war dies meine erste Begegnung mit Geschichte: Fünftes Schuljahr, 1. Klasse, Oberschule. Das Fach neu. Der Stoff: Lebensläufe von, im Sinne der Nazis, „bedeutenden Menschen“. Albert Leo Schlageter, Andreas Hofer, Horst Wessel und anderen. In den Hausaufsatz schrieb ich, was ich im Lehrbuch gelesen hatte: „... kommunistische Horden grölten durch die Straßen.“
Daß Unterrichtsstoff mit mir und meinem Leben unmittelbar zu tun haben könnte, war außerhalb meiner Vorstellung.
Meine Mutter war tief erschrocken. Im Frühjahr erst hatte sie meine Einschulung in die NAPOLA zu verhindern vermocht. Jetzt hielt sie es für notwendig und den Zeitpunkt für gekommen, mir zu sagen, daß mein Vater Kommunist ist; deswegen sei er von den Nazis eingesperrt worden. Das auszusprechen, war wohl lebensgefährlich. Aber es nicht zu sagen wäre ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, voller Gefahren gewesen für mein Leben. Weiß ich heute.
Was das für Menschen sind, die Kommunisten, wollte ich wissen. Und Mutter erklärte: Die Kommunisten wollen alles, was schlecht ist, einreißen und alles schöner wieder aufbauen. Das leuchtete einem Hinterhofkind aus dem Berliner Osten ohne weiteres ein. Und so wurde der Beginn meiner Sympathien für die Kommunisten gesetzt. Das war 1942. Ich war zehn.
Für die Fragen meiner Mitschüler nach meinem Vater hatte ich mir schon längst eine Antwort zurechtgelegt: Der ist in Gefangenschaft.
Herbst desselben Jahres. Ein Tag ging zu Ende. Voller Unruhe wartete ich auf meine Mutter. Sie hätte längst zu Hause sein müssen.
Wir bewohnten eine kleine Wohnung in O 112, nahe dem Bahnhof Ostkreuz. Vom Treppenhaus gelangte man unmittelbar in die schmale Küche. Mit zwei Schritten war man im Zimmer. Die Wohnungstür sprang auf, meine Mutter warf sich aufs Bett, im Mantel, weinend mit dem ganzen Körper. Konnte sich nicht beruhigen. Schließlich brach es aus ihr heraus: „Sie haben Georg umgebracht!“ Georg war Mischas Vater. Und Mischa war mein Freund.
Durch die Gürtelstraße sah ich die Kolonnen müder, hungriger „Ostarbeiter“ stolpern. Schon aus der Ferne waren sie zu hören. Die auf dem Straßenpflaster klappernden Holzschuhe ergaben ein Geräusch, das ich nie vergessen werde. Mancher Posten sah weg, wenn einzelne Arbeiter im Vorbeigehen aus dem Gemüseladen am Weg holten, was ihnen erlaubt war; was sie außerdem dort, für sie von Erwin bereit gelegt, vorfanden, wußten die Posten nicht.
Mein täglicher Weg in die Waldschule war eine gut halbstündige S-Bahn-Fahrt. Irgendwann hatte ich begonnen, mich in das für Ostarbeiter reservierte Abteil zu setzen. Darin roch es zwar schlecht, und es war auch verboten, aber die Wachsoldaten waren fast immer alte Männer. Sie ignorierten mich. Einmal, nur ein einziges Mal, und es tut mir noch heute weh, daß ich mich nur ein einziges Mal traute, steckte ich dem neben mir Sitzenden, einem jungen Kerl, vorsichtig, den Posten im Blick, ein Roggenbrötchen zu. Die nannte man in Berlin Schusterjungen. Und wenn ich mich, sehr vage, an den erstaunten, ungläubigen Blick erinnere, den ich bekam, empfinde ich heiße Scham.
Der Krieg ging zu Ende. Auf ziemlich abenteuerliche Weise und auf manchen Umwegen war ich im Januar fünfundvierzig aus der Kinderlandverschickung nach Berlin gelangt. Ich erlebte den Großangriff der Briten auf den Berliner Osten und Südosten. Mutter war arbeiten. Als sie nach Stunden kam, sah ich sie schon von Weitem: wie sie, sehr verloren, sehr einsam, auf das brennende Haus starrte.
Das Feuer im Vorderhaus brauchte drei Tage vom Boden in den Keller. Sein Übergreifen auf unser Hinterhaus konnten wir gemeinsam verhindern.
Mutter wollte Berlin nicht verlassen. Sie machte sich Sorgen um Vater. Hier würde er uns suchen. Wir waren lange schon ohne Nachricht. Dann folgten wir schließlich doch der Einladung einer Freundin nach Sylt. Ich ging dort noch kurze Zeit zur Schule. Der Aufforderung, mich zur HJ zu melden, folgte ich nicht. Meine Mitschüler wollten immer noch den Krieg gewinnen. Ich verstand, daß sie ratlos waren: wie auch bestimmt die meisten Erwachsenen hatten sie keine Vorstellung, was werden sollte. Und eines Morgens waren britische Soldaten da. Es war kein Schuß gefallen. Der Krieg war aus.
Endlich, im August, konnten wir uns auf den Heimweg machen. Ob wir meinen Vater finden würden? Gerüchte gab es, wer weiß woher: Ganz zuletzt noch hätten die Nazis alle politischen Gefangenen ermordet. Wir brauchten eine Woche. In mir wuchs die Angst. Ein kleiner Junge war ich, als sie ihn holten. Ich habe das miterlebt und erinnere mich noch heute. Mehr als neun Jahre waren danach vergangen. Wenn wir uns nun fremd geworden waren? Wohl niemand kann meine Erleichterung nachfühlen, als sich ergab, daß meine Angst ganz umsonst war.
Das Jahr 1945 war ein tiefer Einschnitt, eine für alles weitere Leben bestimmende, wirkliche Wende. Eine aufregende Zeit begann. Ich war dabei, als Anfang September in der Neuköllner Seelenbinder-Kampfbahn das erste große Treffen der Antifaschisten stattfand. Aufgewühlt erlebte ich, wie immer wieder Menschen sich in den Armen lagen; Wiederbegegnungen mit tot Geglaubten. Viele waren in der gestreiften Lagerkluft gekommen.
Ich lernte neue Menschen kennen.
Traute, die als Sanitäterin der Sowjetarmee viele Male mit dem Fallschirm über Partisanengebiet abgesprungen war, die wohl ahnte, daß sie nur noch wenige Zeit zu leben hatte und die so gerne sang: „Poj lastotschka, poj ...“, „Sing, Schwälbchen, sing ...“;
jenen Genossen, der in den Dreißigern die Aufforderung der Partei ernst genommen und sich bei der SA gemeldet hatte, der nach dem Sieg über den Faschismus von seinen Genossen angespuckt wurde und der lange Zeit nicht glaubhaft machen konnte, daß er einen Parteiauftrag hatte; der mir aber nicht davon, hingegen lächelnd erzählte, wie ihm am Geburtstag sein funkelnagelneuer Füller verbrannte, als er ihn zum Nachstopfen der Glut in der Pfeife nutzte;
Sascha, den Ukrainer, der, noch jugendlich, einer Widerstandsgruppe bei Siemens angehört hatte und der im April 1945, zusammen mit meinem Vater, aus dem Zuchthaus Brandenburg befreit wurde, der mir ein großer Bruder werden sollte, eines Tages aber verschwand. Erst Jahrzehnte später erfuhr ich, daß er, von den eigenen Leuten ein weiteres Mal verurteilt, ohne Mitteilung an seine Familie, mit strengem Schreibverbot, erneut in Brandenburg eingesessen hatte.
Aber wir haben uns wieder gefunden.
Unser Freund Erwin war in Berlin. Der sich so klug verhalten hatte, daß die Nazis ihn nie erwischen konnten; Fritze, der immer bemüht war, mir den Vater zu ersetzen; auch Harald, der Gefängnispfarrer, der vielen geholfen hatte, der, wäre es nötig geworden, bereit war, mein Adoptivvater zu sein.
Und Mischa war da. Da war nichts abgerissen. Wir hatten uns ja auch geschrieben, obwohl wir beide ziemlich schreibfaul waren. Von ihm hatte ich meinen „längsten“ Brief erhalten: „Schreib mal wieder, Gruß Mischa“, auf einem Blatt aus der Arztpraxis seines Vaters Georg, im Briefkopf: Badstraße 40, im Berliner Wedding gelegen; der letzten Adresse, bevor ihn die Nazis 1933 in sogenannte Schutzhaft nahmen.
Das ist nun zwar, im eigentlichen Sinne, keine Geschichte. Reihung von Episoden eher; Knoten im Lebensfaden. Und allerdings im Erinnern an starke Menschen gewonnene Zuversicht, eine andere, eine neue, eine ehrliche und menschliche Ordnung könnte doch möglich sein.
Freund Mischa schrieb, ein halbes Jahrhundert nach dem erwähnten Brief: nicht so wichtig heute, wie man diese Ordnung dann vielleicht nennen mag; aber, lächelnd gewissermaßen, fragend: Warum eigentlich nicht Sozialismus?
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