Paragraph 175 und andere Schatten der Vergangenheit
Dr. Friedrich Wolff, Wandlitz
Am 1. Juli 2017 soll, wenn die Zustimmungen und Unterschriften von Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident bis dahin vorliegen, in der BRD ein Gesetz über die Rehabilitation und Entschädigung von Opfern nach Paragraph 175 in Kraft treten.
Die Bundesrepublik will die nach 1949 wegen Homosexualität Verurteilten jetzt rehabilitieren und entschädigen. Man erfährt, bis 1994 wurde »gleichgeschlechtliche Unzucht« in der BRD (zum Teil hieß es: in Deutschland) bestraft. Weiter war zu hören und zu lesen (so im nd vom 23. März 2017), die DDR hätte 1968 den § 175 »fallengelassen«. Das ist politisch auch interessant und aufschlussreich. Der § 175 war seit über 100 Jahren umstritten. Magnus Hirschfeld schrieb in seiner Geschlechtskunde (Stuttgart 1930) im 3. Band auf Seite 677: »energisch und systematisch setzte dieser Kampf erst im Jahr 1897 … ein«. Eine Petition an den Reichstag und den Bundesrat unterzeichneten viele hervorragende Persönlichkeiten. Unter den Juristen nennt Hirschfeld unter anderen: Rechtsanwalt Dr. Max Alsberg, Prof. Gerhard Anschütz, Ernst Rosenfeld. Als »sonstige Kulturträger« nennt Hirschfeld unter anderen: Ernst Barlach, August Bebel, Alfred Döblin, Albert Einstein, Hermann Hesse, Max Slevogt und Zille (a.a.O., Seite 683 f). Die deutschen Kommunisten vertraten in der Weimarer Republik weiter die Forderung August Bebels nach Aufhebung des § 175.
Die DDR ließ es bei der Strafbarkeit der »gleichgeschlechtlichen Unzucht« zunächst bewenden. In der UdSSR war sie damals auch strafbar. Ich glaube, die DDR durfte keinen Sonderweg beschreiten. Auch das ein Zeichen ihrer »Unabhängigkeit«, von der die BRD bezüglich des Grenzregimes der DDR entgegen der Ansicht von sowjetischen Militärs ausging, um die DDR-Funktionäre bestrafen zu können. 1957, ein Jahr nach dem XX. Parteitag der KPdSU mit der Enthüllung der Verbrechen Stalins, war die DDR so weit, dass Anklagen nach § 175 nicht mehr erfolgten, obgleich diese Bestimmung nicht aufgehoben war. Doch durch das Strafrechtsänderungsgesetz von 1957 wurde die juristische Möglichkeit geschaffen, von einer Strafverfolgung abzusehen, wenn eine gesetzwidrige Handlung mangels schädigender Folgen keine Gefahr für die sozialistische Gesellschaft darstellte. 1968, mit dem neuen Strafgesetzbuch der DDR, erfolgte die Streichung des § 175. Die DDR war also der BRD in dieser Beziehung um 37 Jahre voraus. Wer weiß, wie lange § 175 in der BRD noch gegolten hätte, wäre der Anschluss nicht erfolgt, der zweierlei Strafrecht in Deutschland schuf.
Soweit die Tatsachen. Sie werden heute von den »freien, unabhängigen Medien« weitgehend verschwiegen. Sonst würde vielleicht mancher am Rechtsstaat zweifeln. Man könnte dann die Zahl der Unrechtsurteile in der DDR mit denen in der BRD vergleichen. Dazu stehen jetzt nur wenig bekannte Quellen zur Verfügung. So ein Artikel von Christoph Schaefgen (Generalstaatsanwalt a.D.): »Zehn Jahre Aufarbeitung des Staatsunrechts in der DDR« in Neue Justiz, Jg. 2000, S. 1 ff. Dort heißt es unter anderem:
»Nach dem Stand von Anfang 1999 sind etwa 62.000 Ermittlungsverfahren gegen ungefähr 100.000 Beschuldigte eingeleitet worden. Davon wurden bisher nur etwa 300 Personen rechtskräftig verurteilt.« An Verfolgungswillen fehlte es nicht.
Übrigens kommentierte Schaefgen im Tagesspiegel am 8. September1999: »Wenn man die DDR an der geringen Zahl der Verurteilten und an den eingeschränkten Verfolgungsmöglichkeiten misst, dann reicht das nicht, um zu sagen, die DDR war ein Unrechtsstaat.«
Eine andere Quelle bieten die Professoren der Humboldt-Universität Klaus Marxen und Gerhard Werle. In ihrem Buch »Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz«, Berlin New York 1999, S. 202, findet sich eine Tabelle der DDR-»Unrechtsurteile«, die mit der Gesamtzahl von 1.212 Angeklagten und 289 Verurteilten schließt.
Soweit also das nach Rechtsauffassung der Gerichte der BRD festgestellte Unrecht der DDR. Von den Rechtsprofessoren der BRD wurde übrigens eine rechtlich ganz andere, gegenteilige Auffassung dargelegt. Natürlich nur in juristischen Veröffentlichungen. Die Medien nahmen davon keine Kenntnis.
Nun zum Unrecht in der BRD. Die Verurteilungen nach § 175 StGB waren, wie jetzt unstrittig sein dürfte, Unrecht. Amtlich existiert keine vollständige Erfassung dieser Unrechtsurteile. Wikipedia verweist auf Rainer Hoffschildt und kommt für die Zeit nach der Einstellung der Strafverfolgung der Homosexuellen in der DDR, also für die Zeit von 1958 bis 1994, auf 36.193 unschuldig Verurteilte. Diese Statistik ist auch wegen der zahlenmäßigen Entwicklung der Verurteilungen interessant.
Mehr von Friedrich Wolff in den »Mitteilungen«:
2016-01: »Das Politbüro der DDR vor Gericht«
2012-04: Vor 19 Jahren: Die letzten Aufzeichnungen Erich Honeckers
2012-02: Fehler, die keine waren