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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Oradour

Horsta Krum, Berlin

 

Die SS (»Schutzstaffel«) sollte im Deutschen Reich jede Opposition unterdrücken, unter anderem auch in den Konzentrationslagern. Die Waffen-SS hatte noch eine besondere Funktion: Als militärischer Zweig der SS war der Krieg für sie »das Feld der Bewährung«, laut Hitler. In den besetzten Gebieten sollte sie für »Ruhe und Ordnung« sorgen. Im August 1940 hatte Hitler es so formuliert: »Das Großdeutsche Reich in seiner endgülti­gen Gestalt wird mit seinen Grenzen nicht ausschließlich Volkskörper umspannen, die von vornherein dem Reich wohlwollend gegenüberstehen. In unserem zukünftigen Großdeutschen Reich wird aber auch eine Polizeitruppe nur dann den anderen Volks­genossen gegenüber die notwendige Autorität besitzen, wenn sie soldatisch ausgerich­tet ist.« [1]

Über 900.000 Männer der Waffen-SS waren insgesamt bis 1945 eingesetzt, um »für Ruhe und Ordnung« und die »notwendige Autorität« zu sorgen. Zusammen mit der Gestapo und dem Sicherheitsdienst (SD) ging sie besonders brutal in der Sowjetunion vor. Ende September 1942 meldete Reichsführer SS Himmler an Hitler, dass allein in Südrussland, in der Ukraine und im Bezirk Bialystok 150 Dörfer und außerdem 1.978 Einzelgehöfte niedergebrannt und zerstört worden seien, innerhalb von vier Monaten.

»Bandenbekämpfung« durch die SS

Die SS, besonders die Waffen-SS, verstand sich als »Elite«, die die Herrschaft der Nazis in allen Bereichen und mit allen Mitteln durchzusetzen und aufrechtzuerhalten habe, möglichst weltweit. Als die wichtigsten Feinde dieses Machtanspruchs galten Juden und Kommunisten; diese hätten keine Existenzberechtigung und seien auszurotten. Noch etwas zeichnete einen Angehörigen der SS aus: Er war »Künder und Kämpfer für eine nordisch bestimmte, germanisch-deutsche Wesensart und muss Idee und Waffe gleich stark einsetzen. Der neue Typ dieses politischen Soldaten hat seinen sicht­barsten Ausdruck in der Waffen-SS gefunden.« [2] So besaßen diese Männer ein besonde­res Sendungsbewusstsein, das ihre konsequente Brutalität, ihre unerbittliche Grausam­keit begründete. Sie lernten, dass Juden, Kommunisten und alle, die ihre Herrschaft nicht anerkannten, gar keine Menschen seien. Deren Bezeichnungen reichten von »Untermenschen« bis hin zu »Ungeziefer«.

Im Februar 1943 erlebten deutsche Truppen ihre erste große Niederlage während der Schlacht um Stalingrad, die der Sowjetunion viele Opfer abverlangte. Sie war für die Angehörigen der Waffen-SS auch eine moralische Niederlage. Aber Zweifel am Endsieg waren nicht erlaubt, sondern galten als »Wehrkraftzersetzung«. Also formierten sich Überlebende und Zurückgekehrte der Wehrmacht und der Waffen-SS von neuem, um ihre Kräfte auf die Westfront, d.h. Nordfrankreich, zu konzentrieren. Denn hier landeten am 6. Juni 1944 anglo-amerikanische Truppen, nachdem Stalin seine westlichen Ver­bündeten bereits im August des Vorjahres gedrängt hatte, eine zweite Front gegen die deutschen Truppen zu eröffnen. Die Sowjetunion erlitt ja durch die brutale Kriegführung der Nazis große Verluste an Menschenleben und Material, mehr als die besetzten Länder.

Im Februar/März 1944 traf die 2. SS-Panzerdivision in Südfrankreich ein mit etwa 18.000 Mann. Ihre Aufgabe war die »Bandenbekämpfung«, womit die Résistance gemeint war. Einen Unterschied zwischen ihr und Zivilisten machte die SS nicht. Auf ihrem Weg von Süd- nach Nordfrankreich wurde sie immer wieder gebremst, beispiels­weise durch gefällte Bäume, gelegentlich auch direkt angegriffen. Jedesmal rächte sie sich, indem sie wehrlose Zivilisten quälte oder tötete. Manchmal drang sie in Häuser oder erschoss Männer und Frauen bei der Feldarbeit »zur Abschreckung«.

Oradour lag in Mittelfrankreich, etwa 200 km nordöstlich von Bordeaux, ein maleri­scher, friedlicher Ort mit fruchtbaren Feldern und erfolgreicher Tierzucht, gern besucht von Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung. Angler trafen sich an den schattigen Ufern des kleinen Flusses »Glane«. Im eigentlichen Ortskern mit dem großen Marktplatz wohnten etwa 300 Menschen; drum herum, in größerer oder kleinerer Ent­fernung, gab es jeweils mehrere Gehöfte.

um sicher zu sein, dass niemand mehr lebt

Der 10. Juni 1944 war ein Sonnabend, angenehm, sonnig. Die Kinder waren in der Schule, Bauern auf den Feldern, Handwerker in ihrer Werkstatt, Bäcker in der Backstu­be, der Bürgermeister im Rathaus. Besucher ließen sich ihre Tabaksration aushändigen und genossen sie zusammen mit Kaffe, Wein, frischen Croissants in den kleinen Restaurants. Bis zu diesem Tag war die Gegend kaum vom Krieg betroffen, so dass die über hundert Flüchtlinge aus Lothringen hier ziemlich sicher lebten.

Gegen 13 Uhr starten SS-Fahrzeuge in Richtung Oradour. Sie brauchen eine halbe Stunde, treffen kaum auf Menschen, es war »fast friedensmäßig«, wie einer der Täter später aussagen wird. Die SS-Leute riegeln den Ort ab; einige haben sich im Gebüsch versteckt, lauern Fliehenden auf und erschießen sie. Bauern auf den Feldern werden lautstark aufgefordert, auf den Marktplatz zu kommen, ebenso alle, die sich in den Häu­sern aufhalten. SS-Männer durchkämmen die Häuser und erschießen die Kranken in ihren Betten oder zünden das Haus an.

14 Uhr 45 sind alle gehfähigen Bewohner und Besucher auf dem Marktplatz versam­melt, umzingelt von SS, so dass an Flucht nicht zu denken ist. Die Männer werden von den Frauen getrennt; die Frauen mit kleinen und schulpflichtigen Kindern müssen in die Kirche gehen. Das tun sie verhältnismäßig ruhig – gelten doch seit der Antike die Tem­pel der Götter und die christlichen Kirchen als sichere Zufluchtsorte. Die SS-Leute for­dern den Bürgermeister auf, dreißig Geiseln auszusuchen, die als Sühne für einen ermordeten SS-Offizier erschossen würden. Der Bürgermeister lehnt ab und bietet sich selbst und seine Familie als Geiseln an, was die SS zurückweist. Das wird im Nachhin­ein nicht verwundern, denn die Vernichtung des Ortes und der Mord an ihren Bewoh­nern war beschlossen.

Die Männer müssen sich gruppenweise aufteilen und in Scheunen begeben, weil – so die Ansage – die Wohnhäuser durchsucht werden sollen. Als die Männer, immer unter strenger Bewachung, auf die Scheunen verteilt sind, zünden SS-Leute die Scheunen an. Danach werfen sie Stroh auf die leblosen Körper, zünden es an, um sicher zu sein, dass niemand mehr lebt. Andere plündern die Wohnhäuser, bevor sie sie niederbrennen, und binden die Tiere los.

In der Kirche sind inzwischen Kisten mit Sprengstoff platziert, mit weißem Phosphor, der sich bereits bei niedrigen Temperaturen entzündet. Die Frauen versuchen, die wei­nenden und schreienden Kinder zu beruhigen, decken sie mit ihrem Körper zu, als bren­nende Holzteile niederstürzen und SS-Leute aus Türen und Fenstern schießen und Gra­naten werfen. Frauen, Kinder, die flüchten wollen, werden erschossen. Manche Frauen zerren Kinder hinter den Altar, aber die vermeintliche Sicherheit dauert nicht lange; auch diese zwanzig Kinder, die sich eng aneinanderpressen, werden von niederstürzen­den Teilen erschlagen oder ersticken in dem Rauch, bevor sie verbrennen.

Ein Haus hat die SS verschont: Das Haus eines Tuchhändlers benutzt sie für sich und feiert dort mit Lebensmitteln, Wein und Sekt am Abend des 10. Juni. Danach verlassen die meisten SS-Leute Oradour, das bis vor wenigen Stunden ein lebendiger Ort gewe­sen ist. Aber bevor sie gehen, plündern sie auch das letzte Haus und zünden es an. Einige SS-Leute bleiben noch, um weiterhin zu kontrollieren.

In der Morgendämmerung des 11. Juni macht sich ein Bauer aus einer entfernt liegen­den Ortschaft auf den Weg, um seine beiden Söhne zu suchen, die in Oradour zur Schu­le gingen. Höchstwahrscheinlich ist er der erste, der die Kirche in der Morgendämme­rung des 11. Juni betritt, während einige SS-Leute immer noch feiern. Er findet den ver­kohlten Leichnam seines sechsjährigen Sohnes.

Nach Hause zurückgekehrt, gehen er und seine Frau zur Kirche und wickeln den Leich­nam des Kindes in ein Laken. Der Mann sucht weiter nach seinem anderen Sohn: »Ich kniete nieder und blickte in die erstarrten Kindergesichter. Ich sah auch Kinderwagen mit toten Säuglingen, einige verbrannt, andere von Schüssen durchsiebt.« Den Leich­nam seines älteren Sohnes findet er nicht und geht nach Hause. »Am Abend gruben wir in unserem kleinen Garten ein Grab für André.« [3]

Keine Prozesse in der Bundesrepublik

Das Nürnberger Kriegsgericht gab an, dass mehr als 700 Menschen in Oradour umge­bracht worden waren. [4] Die heute gängige Zahl lautet 643. In der Kirche verbrannten 147 Schulkinder.

Im Jahre 1953 fand in Bordeaux ein Gerichtsprozess statt gegen 22 der Verbrecher von Oradour. Von den Hauptverantwortlichen waren einige »flüchtig«. Die Zeitung der Kom­munistischen Partei Frankreichs, die »l'Humanité« [5], verfolgte diesen Prozess und kriti­sierte, dass die Anwälte der Angeklagten ihn immer wieder behinderten; beispielsweise bestanden sie darauf, die Verfahren gegen die elsässischen SS-Männer von den Verfah­ren gegen die deutschen zu trennen. Proteste gleichen Inhalts kamen auch aus der Bevölkerung. Protestiert wurde außerdem gegen die Bundesrepublik, die die Täter, die auf ihrem Territorium lebten, nicht auslieferte. Das Gericht beschloss einige Amnestien und milde Strafen für Verurteilte; der letzte Inhaftierte verließ das Gefängnis nach neun Jahren. In der Bundesrepublik gab es Ermittlungsverfahren, keine Prozesse, keine Ver­urteilungen.

Heinz Barth, einer der verantwortlichen SS-Offiziere, lebte bis 1981 unerkannt in der DDR. Er wurde 1983 zu lebenslanger Gefängnisstrafe verurteilt. Die Justiz der Bundes­republik entließ ihn 1997 aus der Haft.

Unser KPF-Mitglied Erhard Stenzel (gestorben 2021) musste mit 17 Jahren Wehr­machtssoldat werden, desertierte in Frankreich und wurde Mitglied der Résistance. Zusammen mit seiner Formation und einer anglo-amerikanischen Einheit kam er Mitte Juni 1944 nach Oradour: »Ich habe zweimal in meinem Leben geweint. Das erste Mal in Oradour, das zweite Mal ein paar Monate später: Ich durfte dabei sein, als Paris sich befreit hat.«

 

Anmerkungen:

[1] Zitiert nach Przybylski, Peter, und Busse, Horst, Mörder von Oradour, Berlin (DDR) 1986, S. 47.

[2] Ebd., S. 45 f.

[3] Ebd., S. 90.

[4] Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, Nürnberg 1949, Bd. XXXVII, S. 15.

[5] Einzelheiten bei Karl Stitzer, Mordprozeß Oradour – nach Prozeßberichten der »Humanité«, Berlin (DDR) 1954.

 

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