Offener Brief an das Museum des Gedenkens und der Menschenrechte, Matucana 501, Santiago de Chile
Gudrun und Gerhard Mertschenk, Berlin
Sehr geehrte Damen und Herren, jedes Mal, wenn wir in Chile sind, suchen wir den Zentralfriedhof in Recoleta auf, um den Märtyrern und Opfern der Militärdiktatur unsere Ehre zu erweisen, einer Diktatur, die die demokratisch gewählte Regierung des Präsidenten Salvador Allende durch einen blutigen Putsch stürzte. Wir legen jeweils Nelken an den Gräbern von Salvador Allende, Victor Jara, Volodia Teitelboim und Gladys Marín sowie an der großen Gedenkstätte für die verschwundenen Verhafteten und die erschossenen Verhafteten nieder. Wir empfinden das als Pflicht und Verpflichtung gegenüber diesen Leuten, die ein Symbol für den Kampf um Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit sind.
Umso größer war unsere Freude, als wir bei unserem Aufenthalt im vergangenen März von der Existenz des Museums des Gedenkens und der Menschenrechte erfuhren. Wir möchten Ihnen zu diesem Werk gratulieren, das diesem dunklen Kapitel der chilenischen Geschichte und dem Kampf gegen die Militärdiktatur zur Wiedererlangung der Demokratie gewidmet ist. Wir verbrachten einen ganzen Nachmittag in den verschiedenen Ausstellungsräumen in den drei Stockwerken, bis man uns wegen der Schließung um 18:00 Uhr "hinauswarf". Wir hätten noch viel mehr Zeit dort verbringen können, und wir wären sehr gerne zu diesem Ort zurückgekehrt, aber bedauerlicherweise ließ es unser Zeitplan nicht zu, am folgenden Tag nochmal in dieses Museum zu gehen. Wenn wir vorher von der Existenz dieser beeindruckenden Mahn- und Gedenkstätte gewußt hätten, hätten wir unseren Reiseplan an die monumentalen Ausstellungs- und Beweisstücke angepaßt. Wir sind sehr beeindruckt von den ausgestellten Zeugnissen und der Verwendung moderner Technik, insbesondere der interaktiven Bildschirme. Die Existenz eines solchen Museums scheint uns äußerst wichtig zu sein, und wir sahen mit Wohlgefallen, Freude und Genugtuung die zahlreichen Besucher, sowohl Einzelbesucher wie auch geführte Gruppen. Wir wußten schon über vieles Bescheid, aber wir stießen auf neue Zeugnisse, Zusammenhänge und Aspekte. Da wir einige Opfer gekannt hatten, und überlebende Opfer kennen, stimmt es uns froh, daß dieser Personen durch dieses Museum in würdiger Art gedacht wird.
In einer der ausgestellten Listen lasen wir den Namen von Carlos Altamirano, des damaligen Generalsekretärs der Sozialistischen Partei, als einen der – gemäß des Erlasses Nr. 10 der Militärjunta – meistgesuchten Flüchtlinge. Sofort erinnerten wir uns daran, wie es Carlos Altamirano gelang, den Klauen der Henker der Militärdiktatur zu entkommen. Wir sind stolz darauf, daß es unser damaliges Heimatland war, das diese Flucht vorbereitete, organisierte und möglich machte, die Carlos Altamirano offensichtlich das Leben rettete. Zuhause haben wir das Buch, in dem ausführlich beschrieben wird, wie es Carlos Altamirano gelang, Chile zu verlassen und im Exil in der Deutschen Demokratischen Republik zu überleben (Flucht vor der Junta – Die DDR und der 11. September – Herausgeber: Gotthold Schramm; ISBN 3-360-01067-1, S. 115 Rudolf Herz: Die Ausschleusung Altamiranos, S. 125 Altamirano über seine Flucht nach Argentinien).
In diesem Zusammenhang begannen einige Aspekte der Ausstellung im Museum unsere Aufmerksamkeit zu erregen, die unserer Ansicht nach die guten Absichten des Museums in Mißkredit bringen und beeinträchtigen. Uns fiel auf, daß sowohl in der Ausstellung wie auch bei den während der Führungen gegebenen Erläuterungen unterschiedslos von Deutschland die Rede ist, obwohl es in den 1970er Jahren, zu Zeiten des Staatsstreichs und der Militärdiktatur, zwei deutsche Staaten mit sehr unterschiedlicher Haltung zu den Ereignissen in Chile gab: Die Deutsche Demokratische Republik (DDR), die fest an der Seite des demokratisch gewählten Präsidenten Allende stand, staatlicherseits Solidarität mit den demokratischen Kräften Chiles übte und den Exilchilenen eine neue Heimat bot, indem sie ihnen jegliche Art von Unterstützung zukommen ließ (Arbeit, Wohnung, soziale Sicherheit), und die Bundesrepublik Deutschland (BRD), die nach ihrer Beteiligung am Wirtschaftskrieg gegen die Allende-Regierung zwar auch Exilchilenen Asyl gewährte, aber sich schnell mit dem Militärregime arrangierte.
Im Museum gibt es einige Ausstellungsstücke, die Zeugnis ablegen von der solidarischen Haltung der DDR: eine Solidaritätspostkarte mit dem DDR-Wappen und etliche Ausschnitte aus Dokumentarfilmen der DDR-Dokumentarfilmmacher Heynowski & Scheumann, die an verschiedenen interaktiven Bildschirmen gezeigt werden – ohne daß irgendwo oder irgendwann dabei die DDR erwähnt wird und entgegen der historischen Wahrheit einfach von Deutschland gesprochen wird.
Die Institution, die die Rettung Carlos Altamiranos erfolgreich durchführte, war das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR, denn er hatte sich in die DDR-Botschaft in Santiago de Chile geflüchtet. Von dort wurde er in einem Versteck hinter dem Rücksitz eines Autos nach Argentinien ausgeschleust. Die Personen, die im Auftrag des MfS Carlos Altamirano in die Freiheit führten, setzten ihre Gesundheit aufs Spiel, riskierten sogar ihr Leben in dem Fall, daß die Pinochet-Militärs die Operation entdeckt hätten. Sie taten dies aufgrund ihrer festen Überzeugung und der Verpflichtung, das Vermächtnis der politischen Häftlinge des faschistischen Konzentrationslagers Buchenwald zu erfüllen, die nach ihrer (Selbst-)Befreiung geschworen hatten: "Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung; der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel." In diesem Geist und – folglich – in völliger Übereinstimmung mit der konsequenten antifaschistischen Politik der DDR retteten sie Carlos Altamirano das Leben. Und wie wird ihnen diese Heldentat vergolten? Unter den im Vestibül des Museums aufgestellten Gedenkstelen mit den Namen der Länder, wo nach dem Ende blutrünstiger Diktaturen Versöhnungs-, Wahrheitsfindungs- und ähnlich bezeichnete Kommissionen ihre Arbeit aufnahmen, befindet sich auch eine Deutschland gewidmete Stele, auf der geschrieben steht: "Kommission von 1992 – 1994; Gegenstand der Untersuchung: Deutsche Demokratische Republik von 1949 – 1989; Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) als Unterdrückungsorgan". Das ist der einzige Ort im Museum, wo die DDR erwähnt wird. Wir wiederholen: Ansonsten wird unterschiedslos von Deutschland gesprochen. Warum? Jetzt leben wir in einem Staat, der vergrößerten Bundesrepublik Deutschland, der die Leute bestraft, die Carlos Altamirano das Leben retteten. Sie werden entweder vor Gericht gezerrt oder man kürzt ihnen die Rente und zahlt ihnen eine Strafrente, was damit begründet wird, systemnah gewesen zu sein. Die Kommission, auf die auf der Stele Bezug genommen wird, war offensichtlich die Enquete-Kommission, die im Unterschied zu den anderen erwähnten Ländern, schon nicht mehr in der DDR tätig wurde, sondern in einem anderen Staat, in der BRD, die von Anfang an ein unerbittlicher Feind der DDR war. Das erklärt auch, nebenbei bemerkt, warum die Kommission keine solche Bezeichnung wie Versöhnungs-, Wahrheitsfindungskommission oder ähnliche trug. Der Bericht dieser Kommission kann nicht einen einzigen Fall eines verschwundenen Verhafteten, eines exekutierten Verhafteten, kein einziges Konzentrationslager und kein einziges Massengrab anführen. Jedoch wird die DDR beschuldigt (S. 58 des Berichts), ein System geschaffen zu haben zur Förderung der werktätigen Frauen durch Kinderkrippen, Kindergärten, Horte (alle kostenlos), Betriebsverkaufsstellen, Wäschereien, Sonderregelungen zum Schutze schwangerer Frauen, Freistellung von der Arbeit bis zum dritten Geburtstag des Kindes, falls kein Krippenplatz zur Verfügung stand, verkürzte Wochenarbeitszeit, verlängerter Urlaub, Förderung von Studentinnen mit Kindern usw. Was für eine blutige Diktatur als Untersuchungsgegenstand!
Ein weiteres Beispiel: Dank der guten Beziehungen zur CIA wurde der BND (Auslandsgeheimdienst der BRD) in der zweiten Augusthälfte von der CIA und auch durch Quellen in Chile über einen unmittelbar bevorstehenden Putsch in Chile informiert. Bis heute ist nicht eindeutig geklärt, ob der BND, in dessen Reihen zahlreiche Agenten arbeiteten, die bereits dem faschistischen Hitler-Regime dienten, die SPD-Regierung unter Willy Brandt (absichtlich?) nicht davon in Kenntnis setzte, oder ob es Willy Brandt unterließ, Allende, seinen Mitstreiter in der Sozialistischen Internationale, zu informieren. Aber das Ministerium der Staatssicherheit der DDR hatte im Herzen des BND seinen Mann, Alfred Spuhler, plaziert, der Kenntnis von dieser Information über einen bevorstehenden Putsch bekam. Über seine Kanäle ließ er diese Nachricht den zuständigen Stellen in der DDR zukommen, die ihrerseits Allende und Luis Corvalán warnten, die aber bedauerlicherweise mehr an die Loyalität der Militärs glaubten als an die Wahrhaftigkeit der Information und die Wahrscheinlichkeit eines Putsches. Jahre später, als die DDR bereits von der BRD einverleibt worden war, wurde Alfred Spuhler, der die Information über einen bevorstehenden Putsch weitergeleitet hatte, von einem Gericht der BRD zu 10 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Unterdrücker bzw. Verräter, weil er versucht hatte, die Allende-Regierung zu retten? Wir fragen uns, warum das Museum des Gedenkens die Angehörigen des MfS unterschiedslos als Unterdrücker bezeichnet, ohne auch nur im Entferntesten zu erwähnen, was sie zur Verteidigung und Rettung der demokratischen Allende-Regierung taten, und sie irrtümlicherweise mit den Schergen im Dienste blutiger Diktaturen gleichstellt. Was ist der Grund für eine solche Handlungsweise? Fragen Sie Carlos Altamirano, wer ihn gerettet hat – noch ist es möglich, oder Michelle Bachelet, die ebenfalls im Exil in der DDR lebte (nicht in Deutschland), wo sie ihr Medizinstudium begann. Ist die Unterordnung unter die mächtige Bundesrepublik Deutschland so groß, daß man deren Kriterien übernimmt, ohne darüber nachzudenken? Legt Chile keine eigenen Maßstäbe an? Traut man sich nicht, eigene Kriterien anzuwenden? Lassen Sie sich bitte nicht durch das Ansehen täuschen, das die BRD in der Welt genießt. Es ist angebracht, den Propagandavorhang zur Seite zu schieben und die Wirklichkeit zu sehen: Als Gladys Marín, eine Kommunistin, eine ehemalige Senatorin, verstarb, wurde in Chile eine zweitägige Staatstrauer ausgerufen. So wie die Kommunistische Partei Chiles während der Militärdiktatur verboten war, so ist die Kommunistische Partei Deutschlands in der Bundesrepublik Deutschland verboten (seit 1956) und bleibt verboten – ein Mitglied der verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands könnte nicht einmal seine Kandidatur als Bundestagsabgeordneter ankündigen, ohne wegen Gesetzesverletzung verhaftet und verurteilt zu werden, wohingegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) – eine neofaschistische Partei – gemäß den deutschen Gesetzen finanzielle Unterstützung vom Staat erhält.
Zu der Zeit, als wir das Museum besuchten, gab es eine Sonderausstellung über die Solidarität der nordischen Länder mit dem Chile Allendes. Wäre es nicht angebracht, eine Ausstellung über die von der Deutschen Demokratischen Republik praktizierte Solidarität vorzubereiten, um der Nichtexistenz, des Nichtvorhandenseins der DDR und ihrer Solidarität mit Allende und dem demokratischen Chile im gegenwärtigen Ausstellungskonzept abzuhelfen?
Wir bitten Sie um Verständnis dafür, daß wir die spanische Sprache nicht so gut beherrschen, um Nuancen zum Ausdruck zu bringen, und darum, unsere sprachlichen Fehler mit Nachsicht zu behandeln.
In Erwartung einer Antwort auf unsere Fragen verbleiben wir mit freundlichen Grüßen
Gudrun und Gerhard Mertschenk
13. Juni 2011
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