November 1932: Wird Hitler gestoppt? (Teil 1)
Prof. Dr. sc. Heinz Karl, Berlin
In gut zwei Monaten jährt sich zum achtzigsten Mal der Tag, an dem die größte Katastrophe der deutschen Geschichte begann. Die bürgerliche Geschichtsschreibung und Publizistik ist von jeher - und verstärkt seit der Einverleibung des alternativen, sozialistischen deutschen Staates in die kapitalistische, imperialistische BRD - bemüht, den Weg in diese Katastrophe zu vernebeln, ihn als alternativloses Verhängnis hinzustellen, Ursachen und Triebkräfte dieser Entwicklung zu verschleiern und zu verfälschen und damit der Frage nach der historischen Verantwortung auszuweichen oder sie demagogisch, geschichtsfälschend zu beantworten.
Dies ist nur möglich, wenn grundlegende geschichtliche Tatsachen ausgeblendet werden:
- dass der größte Teil des Großkapitals, des Großgrundbesitzes, des Militärs, der Staatsbürokratie die ihnen durch die Novemberrevolution 1918/19 aufgezwungene parlamentarische Demokatie von Weimar als "Republik auf Zeit" (W. Ruge) betrachteten, sie zunehmend als Hemmnis der Profitmaximierung, der Revanchepolitik und Wiederaufrüstung empfanden;
- dass die führenden Unternehmerverbände dies bereits 1927 deutlich artikulierten und 1929 lauthals verkündeten;
- dass mit dem Übergang zur Präsidialdiktatur 1930 sich ein antiparlamentarisches, autoritäres Regime entwickelte, das einerseits offen Demokratieabbau betrieb, andererseits mit den faschistischen und faschistoiden Kräften zunehmend kollaborierte;
- dass alle bürgerlichen Parteien diesen Kurs unterstützten oder sogar forcierten;
- dass die Sozialdemokratie diesen Kurs als angeblich "kleineres Übel" offen "tolerierte", ihn ermöglichte (und hinter den Kulissen auch akzeptierte) und als Regierungspartei (vor allem in Preußen) an seiner Durchsetzung mitwirkte. [1]
Und ausgeblendet wird auch, dass die KPD - zunehmend unterstützt durch andere antifaschistische, teilweise auch bürgerlich-demokratische, pazifistische, linke christliche Kreise, soziale Bewegungen, Initiativen usw. - dieser gefährlichen Entwicklung Widerstand entgegensetzte, der in der Antifaschistischen Aktion seit Ende Mai 1932 kulminierte, und eine antifaschistische Alternative aufzeigte.
Es gab eine Chance
Die Reichstagswahlen am 6. November 1932 zeugten von einer Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses zuungunsten der Reaktion. Die faschistische Nazipartei erlitt eine schwere Niederlage - sie verlor zwei Millionen Stimmen. Der Rückgang ihres politischen Einflusses löste in der Nazipartei eine tiefe Krise aus, die auch Auflösungserscheinungen zeitigte. Dabei war der Tiefpunkt offenbar noch nicht erreicht. Ihre Stimmenverluste setzten sich fort bei der Lübecker Bürgerschaftswahl und den sächsischen Kommunalwahlen am 13. November und bei den Kommunalwahlen in Thüringen - wo sie seit August regierte - am 4. Dezember. Beredtes Zeugnis legt das Tagebuch ihres Reichspro- pagandaleiters Joseph Goebbels ab. 7. November: "Auf dem Berliner Gau herrscht eine sehr gedrückte Stimmung ..." 10. November: "Überall tauchen nun Ärger, Streit und Mißhelligkeiten auf." 11. November: "Kassenlage der Berliner Organisation ... ist ganz trostlos." 6. Dezember: "Die Lage im Reich ist katastrophal. In Thüringen haben wir seit dem 31. Juli nahezu 40 Prozent Verluste erlitten." Gregor Straßer, der "zweite Mann" nach Hitler, legt alle seine Ämter nieder. 8. Dezember: "In der Organisation herrscht schwere Depression. ... Die Inspekteure der Partei sind beim Führer versammelt. ... die Gefahr besteht, daß die ganze Partei auseinanderfällt ... Der Führer ... verbittert ... sagt nur: 'Wenn die Partei einmal zerfällt, dann mache ich in 3 Minuten mit der Pistole Schluß.'" [2]
Die KPD hatte über 600.000 Stimmen - mehr als jede andere Partei - hinzugewonnen, nunmehr fast 6 Millionen erreicht und mit einem Stimmenanteil von 16,9 % ihre Position als drittstärkste deutsche Partei gefestigt. Die SPD hatte wiederum über 700.000 Wähler verloren. Die Wahlen widerspiegelten die politische Wirkung der Antifaschistischen Aktion und der Herbststreikwelle gegen Papens Notverordnungen. Sie zeigten die Chancen für eine Zurückdrängung der faschistischen Gefahr durch gemeinsames oder paralleles Handeln der antifaschistischen Kräfte, vor allem der Arbeiterparteien und -organisationen. Am 17. November trat Papen zurück.
Die Reaktion muss lavieren
Die eklatante Wahlniederlage der Nazis hatte vor allem die Kreise des Finanzkapitals, des Junkertums und des Militärs alarmiert, die am entschiedensten nach der faschistischen Diktatur drängten und nun einen Niedergang der Nazipartei und damit ein Scheitern ihrer Pläne befürchteten. Einer ihrer Akteure, der Kölner Bankier Kurt v. Schröder, erklärte dazu während des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses: "Die allgemeinen Bestrebungen der Männer der Wirtschaft gingen dahin, einen starken Führer in Deutschland an die Macht kommen zu sehen, der eine Regierung bilden würde, die lange an der Macht bleiben würde. Als die NSDAP am 6. November 1932 ihren ersten Rückschlag erlitt und somit also ihren Höhepunkt überschritten hatte, wurde eine Unterstützung durch die deutsche Wirtschaft besonders dringend. Ein gemeinsames Interesse der Wirtschaft bestand in der Angst vor dem Bolschewismus ... Ein weiteres gemeinsames Interesse war der Wunsch, Hitlers wirtschaftliches Programm in die Tat umzusetzen, wobei ein wesentlicher Punkt darin lag, daß die Wirtschaft sich selbst lenken sollte ..." [3]
Ein Ausdruck dessen war die bekannte, von Hjalmar Schacht initiierte Eingabe einer Reihe führender Vertreter des Finanzkapitals und des Junkertums (Schwerindustrielle wie Thyssen, ferner Vögler, Reusch und Springorum - die nicht öffentlich unterzeichneten, aber intern ihre Unterstützung erklärten -, Bankiers wie Reinhart und der schon genannte v. Schröder, der Kali-Magnat Rosterg, Großgrundbesitzer wie Graf Kalckreuth), die dem Reichspräsidenten bereits am 19. November übergeben wurde und ihn aufforderte, Hitler als Reichskanzler zu berufen.
Zunächst setzten sich jedoch Kräfte durch, die es für vordringlich hielten, die Erregung der Arbeitermassen zu dämpfen, unter allen Umständen deren einheitliches Handeln zu hintertreiben und sowohl die Führer der SPD und der Gewerkschaften einzubinden als auch die Nazipartei bzw. Teile von ihr stärker heranzuziehen. In diesem Sinne übernahm der Repräsentant der Reichswehrführung, General v. Schleicher, am 3. Dezember das Reichskanzleramt.
"Kampf gegen die Kommunisten!"
Unter diesen Umständen kam der SPD eine Schlüsselrolle zu. Im Parteiausschuss der SPD, der am 10. November über das weitere Vorgehen beriet, wurde festgestellt, dass bei den "Genossen im Lande draußen" der "Wunsch nach einer Einheitsfront"[4] sehr lebhaft sei. Jedoch wurde dies als negative Erscheinung gewertet. Die größte Besorgnis wurde über die zunehmenden Wählerverluste und den rasch wachsenden Einfluss der KPD geäußert. Aus der Tatsache, dass bei den Reichstagswahlen im Juli über 600.000 und im November noch einmal über 700.000 Wähler der SPD den Rücken gekehrt und sich im wesentlichen der KPD zugewandt hatten, zog der Parteiausschuss die Schlussfolgerung, den Kampf gegen die Kommunisten zu verschärfen.
Richard Lipinski verwies warnend auf "die Gefahr, daß in kurzer Zeit bei anhaltender Krise und Neuwahlen die Kommunisten uns überholen" [5]. Rudolf Breitscheid fand gerade im Wahlerfolg der KPD den "stärksten Grund zum Nachdenken" und warf die Frage auf, "was wir tun können und tun müssen, um ein weiteres Anwachsen der Kommunisten zu verhindern". Und er schlussfolgerte, "daß wir uns auf den schärfsten Kampf gegen die Kommunisten einzustellen haben" [6]. Dem stimmten auch Vertreter des linken Flügels zu. Sehr aufschlussreich ist die Argumentation Karl Böchels: "Wir sind im Endspurt mit den Kommunisten. Wir brauchen nur noch ein Dutzend Mandate zu verlieren, dann sind die Kommunisten stärker als wir. Wißt Ihr, was das bedeutet? … dann gibt es kein Halten mehr. Dann sagen sich die Genossen, die treu zur Partei gestanden haben, nun hat die Volksstimmung entschieden, und sie werden versuchen, schnell herauszukommen." [7]
Das Konkurrenzdenken, der Ausschließlichkeitsanspruch verschlossen den Blick auf die gefährliche politische Realität. Die vom Parteivorsitzenden Otto Wels ausgegebene Parole "Kampf gegen die Kommunisten!" [8] fand einhellige Zustimmung.
Übrigens: Hitlers Reichspropagandaleiter Goebbels notierte am Tage nach dieser antikommunistischen Kursbestimmung der SPD-Spitzen: "Unsere Attacken gegen die KPD. müssen jetzt mit größerer Schärfe vorgetragen werden." Und am 15. November: "Ich gebe unserer Presse den neuen Kurs an: Scharf gegen die KPD, sonst splendid isolation." [9]
Die verschärfte antikommunistische Frontstellung der SPD korrespondierte mit einer zunehmenden Unterschätzung der faschistischen Gefahr. Die Wahlniederlage der Nazipartei wurde als entscheidende Niederlage des Faschismus bewertet. [10] Auch die Rolle der Regierung Schleicher wurde völlig verkannt, im Reichstag am 6. Dezember sogar der kommunistische Misstrauensantrag niedergestimmt. Diese Fehleinschätzungen desorientierten die SPD, die Freien Gewerkschaften und das Reichsbanner und lähmten das in diesen Organisationen vereinte große antifaschistische Potenzial. Sie widerspiegelten besonders die isolierte Betrachtung der Nazipartei, das Nichterkennen des Faschisierungskurses als bestimmende Orientierung der Hauptkräfte der Großbourgeoisie und die Blindheit für die Rolle des Staatsapparates im Faschisierungsprozess.
In seiner Betrachtung zu Neujahr 1933 behauptete der "Vorwärts", der Hitlerfaschismus habe bei der Hochfinanz, bei Schwerindustrie und Großgrundbesitz längst abgewirtschaftet. [11] Aus gleichem Anlass brüstete sich Ernst Heilmann in "Das freie Wort", auch einem Sprachrohr des SPD-Vorstandes: "Wir haben nicht nur den faschistischen Ansturm zum Stehen gebracht, wir haben die faschistische Gefahr der Gefährlichkeit beraubt." [12] "Die politische Aufgabe des Tages" - so der Titel eines Artikels - erblickte dieses SPD-Organ in der "Vernichtung der KPD bis auf unbelehrbare, sektenhafte Reste" [13] und bezeichnete die von immer mehr Mitgliedern und Funktionären der SPD erhobene Forderung nach einer Einheitsfront mit den Kommunisten als "kindische Utopie".
General Schleicher - Platzhalter Hitlers!
Auf dem KPD-Bezirksparteitag Wasserkante am 4. Dezember nahm Ernst Thälmann grundsätzlich zum Wesen der Schleicher-Regierung und ihrer Perspektive Stellung. Er sprach vom "Versuch einer gewissen Einigung zwischen verschiedenen Gruppierungen" des Großkapitals bei stärkerem Einfluss der Schwerindustrie und einem erhöhten Gewicht des Militärs, auch als eine "Sicherungsmaßnahme gegen drohende Generalstreikaktionen im kommenden Winter". Zusammenfassend urteilte er: "Wir müssen das Schleicher-Kabinett als ein Übergangskabinett, als ein Platzhalterkabinett zur Vorbereitung einer Hitlerkoalition bzw. Hitlerregierung ansehen. ... Jede Unterschätzung der Schleicher-Diktatur bedeutet heute eine sehr große Gefahr!"
Deshalb wandte er sich auch gegen "das Gerede der Sozialdemokratie, als sei eine 'Entspannung' des Klassenkampfes eingetreten!" Ganz im Gegenteil! "Wir müssen gegen Überrumpelungsmanöver und sensationelle, überraschende Angriffsmaßnahmen gewappnet sein." Was die Schleicher-Regierung bewirke, wohin sie führe, das hänge vor allem von der Aktionsfähigkeit und Kraftentfaltung der Arbeiterklasse und anderer werktätiger Schichten ab. Deshalb "rufen wir den Reichsbannerkameraden, den Gewerkschaftskollegen und auch den unorganisierten Klassengenossen zu: Wir müssen uns unten in den Betrieben und an den Stempelstellen verbrüdern." [14]
Eingebettet in die Antifaschistische Aktion entwickelte die KPD seit Mitte November eine Kampagne gegen Hunger und Frost, um die Lage der Werktätigen im bevorstehenden Winter zu erleichtern, die Selbsthilfe der Massen zu entwickeln und der sozialen Demagogie der Nazis entgegenzuwirken.
Wichtige Beispiele realer antifaschistischer Einheitsfront entwickelten sich nach den Kommunalwahlen. Mancherorts ergab sich die Möglichkeit, durch das Zusammenwirken der Fraktionen der KPD und der SPD die Wahl von Nazifaschisten in die Vorstände der Kommunalparlamente zu verhindern. In den Stadtverordnetenversammlungen von Leipzig und Meißen stimmten die Kommunisten für den SPD-Kandidaten und verhinderten damit, dass ein Nazi Präsident wurde. In Chemnitz wiederum wurde durch die Unterstützung der Sozialdemokraten der Kommunist gewählt.
Die Schreibweisen in Zitaten entsprechen dem Original. Ein zweiter und abschließender Teil dieses Beitrags folgt im Dezemberheft.
Anmerkungen:
[1] Vgl. H. Karl: Antifaschistische Aktion. In: Mitteilungen der KPF, 5/2012, S. 27 ff (an diesen Artikel knüpft der vorliegende an); ders.: Faschisierung und antifaschistischer Abwehrkampf. In: GeschichtsKorrespondenz, Mai 2012, S. 3 ff.
[2] J. Goebbels: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, München 1934, S. 197, 200, 217-220.
[3] Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 4, Berlin 1966, S. 606.
[4] Anpassung oder Widerstand? Aus den Akten des Parteivorstandes der deutschen Sozialdemokratie 1932/1933. Hrsg. u. bearb. v. H. Schulze, Bonn/Bad Godesberg (1975), S. 44.
[5] Ebenda, S. 37.
[6] Ebenda, S. 45.
[7] Ebenda, S. 53, 55.
[8] Ebenda, S. 19.
[9] J. Goebbels: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, S. 201, 203.
[10] Vgl. Vorwärts, 6. Dezember 1932 (Morgenausgabe).
[11] Vgl. Vorwärts, 1. Januar 1933 (Morgenausgabe).
[12] Das freie Wort, H. 1/1933, S. 1.
[13] Das freie Wort, H. 52/1932, S. 20/21.
[14] E. Thälmann: Ausgewählte Reden und Schriften in zwei Bänden, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1977, S. 317, 316, 318, 321.
Mehr von Heinz Karl in den »Mitteilungen«:
2012-05: Antifaschistische Aktion!
2011-07: Vor 75 Jahren begann der Spanische Krieg
2010-12: Vor 90 Jahren: Vereinigung schafft revolutionäre Massenpartei