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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Leben und Sterben im Kohnstein

Ralph Dobrawa, Gotha

 

Zum 50. Jahrestag  der Urteilsverkündung im Essener Dora-Prozess

In diesem Jahr begehen wir den 75. Jahrestag der Selbstbefreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, wozu auch dessen zeitweiliges größtes Außenlager Mittelbau-Dora gehört. Es lag am Südhang des Kohnsteins in der Nähe von Nordhausen und unweit von Niedersachswerfen. Seine Errichtung erfolgte erst in einer späten Phase der faschistischen Diktatur, nämlich im August 1943. Die Entstehung hing unzweifelhaft auch mit dem Kriegsverlauf zusammen, der sich zu dieser Zeit schon anders abzeichnete als von den Nazis angenommen. Sie konzentrierten sich nunmehr auf den Bau von sogenannten »Vergeltungswaffen«, die unter den Kurzbezeichnungen V1 und V2 (auch A4) bekannt wurden, und von deren Einsatz man sich das Erreichen des sogenannten »Endsieges« erhoffte. Ihre Produktion musste sowohl zur Tarnung als auch zum Schutz der Produktionsstätten unter Tage erfolgen. Die nach dorthin von den Lagern Buchenwald, Dachau, Mauthausen und Sachsenhausen verlegten KZ-Häftlinge waren deshalb zunächst maßgeblich mit dem Stollenvortrieb befasst, um in den so geschaffenen Räumlichkeiten die Werksanlagen  errichten zu können. Es entstanden umfangreiche Tunnel und Fahrstollen, Straßen und Eisenbahnstrecken. Das alles geschah unter höchst unmenschlichen Bedingungen und unter Missachtung jeglicher Regeln des Gesundheitsschutzes und der Lebenserhaltung der eingesetzten Häftlinge. Etwa 12.000 von ihnen starben, an anderer Quelle wird sogar von 20.000 ausgegangen. Das war ein Drittel der insgesamt während der Existenz des Lagers dort eingesetzten Häftlinge. [1] Diese wurden späterhin auch als Arbeitskräfte bei der Produktion der V2-Raketen missbraucht.

Nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus wurden 1947 14 ehemalige SS-Angehörige, die einst in Mittelbau-Dora eingesetzt waren, neben vier Funktionshäftlingen und dem Chef der Mittelwerk GmbH vor einem amerikanischen Militärgericht in Dachau angeklagt. Dieses verhängte ein Todesurteil und 13 zeitlich differenzierte Haftstrafen, vier Angeklagte wurden freigesprochen. Weitere zwölf frühere SS-Leute und Funktionshäftlinge wurden in einem anderen Verfahren strafrechtlich verfolgt, drei von ihnen wurden zum Tode verurteilt, der frühere Lagerkommandant in einem wiederum anderen Verfahren ebenfalls. Das Zwickauer Landgericht verurteilte 1951 den einstigen Leiter eines SS-Führungsstabes zum Tode, der ehemalige Leiter der Gestapo-Außenstelle Nordhausen wurde bereits 1948 zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt, die er bis 1956 aufgrund Amnestierung verbüßen musste. [2]

Strafverfahren vor deutschem Gericht

Von den durch deutsche Gerichte durchgeführten Strafverfahren fand das bekannteste in den Jahren 1967-1970 vor dem Landgericht in Essen statt. In ihm mussten sich drei ehemalige SS-Angehörige verantworten, die entscheidende Mitverantwortung am Betrieb des KZ und den dort bestandenen Arbeits- und Lebensbedingungen der Häftlinge trugen. Obgleich ursprünglich seit 1959 gegen insgesamt mehr als 30 Beschuldigte ermittelt wurde, kam es nur gegen Helmut Bischoff, Ernst Sander und Erwin Busta zur Anklage. Ihnen wurde vorgeworfen, an der Ermordung und Misshandlung von Häftlingen beteiligt gewesen zu sein. Noch im März 1945 waren weit über 100  Häftlinge gewaltsam zu Tode gebracht worden. Das Gericht verhandelte ab 17. November 1967. Das den Angeklagten angelastete verbrecherische Verhalten wurde letztlich – der damaligen Rechtspraxis der Strafgerichte in der BRD in Verfahren gegen nazistische Gewaltverbrecher folgend – in 26 Fälle aufgesplittet. Es ging um die Ermordung von insgesamt 155 Häftlingen und die Mordversuche an sieben weiteren Häftlingen. Bis zur Urteilsverkündung wurden etwa 300 Zeugen aus beiden deutschen Staaten und verschiedenen europäischen Ländern gehört bzw. erfolgte ihre Vernehmung in den Ländern ihres Wohnsitzes. 

Bischoff war in Dora SD-Beauftragter für das A4-Programm, Sander gehörte zur Gestapo in Niedersachswerfen und war für die Untersuchung von Sabotageangelegenheiten in dem KZ zuständig. Busta war dort als Blockführer eingesetzt.

Mehrere Hinterbliebene von Ermordeten aus der Sowjetunion, der ČSSR, VR Polen und der DDR wurden als Nebenkläger im Verfahren zugelassen und sämtlichst durch den DDR- Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul vertreten. Dieser beantragte unter anderem die Einvernahme von Hitlers ehemaligem Rüstungsminister Albert Speer, der in dieser Eigenschaft auch für den Bau der V1 und V2 zuständig war. Außerdem verlangte er, dass der frühere Technische Direktor für die Produktion dieser »Wunderwaffen« Wernher von Braun als Zeuge gehört wird. Das sorgte im Prozess für Aufsehen, da Speer nach Verbüßung einer 20-jährigen Haft erst 1966 aus dem Alliierten-Gefängnis in Berlin-Spandau entlassen worden war. Im Nürnberger Prozess war er für schuldig befunden und verurteilt worden. Wernher von Braun lebte bereits seit langem in den USA und hatte sich dort wiederum mit der Konstruktion von Raketen beschäftigt, die nunmehr den Mond erreichen sollten. Als Kaul am 8. März 1968 auch die Einvernahme des damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke beantragte, der zur Tatzeit mit der »unterirdischen Verlagerung von Rüstungsbetrieben unter Einsatz von KZ-Häftlingen im Sperrkreis Mittelbau« befasst gewesen ist, sorgte dies zusätzlich für Aufmerksamkeit. Das Landgericht Essen lehnte am 14. Mai 1968 sämtliche der Beweisanträge zunächst als unzulässig ab, weil unterstellt wurde, die Nebenklage verfolge damit »verfahrensfremde Zwecke«. Zu jener Zeit befanden sich die Bundesrepublik und die DDR im Kalten Krieg, die BRD lehnte jegliche staatliche Anerkennung der DDR ab und das Gericht behauptete deshalb, es gehe mit der Einvernahme der benannten Zeugen ausschließlich darum, diese zu diskreditieren. Letztlich musste Albert Speer am 30. Oktober 1968 auf Nachfassen Kauls doch in Essen erscheinen und sich einer Zeugenbefragung unterziehen. Erwartungsgemäß geschah das mit entsprechender medialer Aufmerksamkeit, die Speer im Übrigen bereits am Tag seiner Haftentlassung in Spandau erlebt hatte. Natürlich achtete er peinlich darauf, sich nach Möglichkeit nicht zu belasten. Mit dieser Strategie war es ihm vermutlich auch gelungen, den Nürnberger Gerichtshof einst zu täuschen, und er entging so – im Gegensatz zu anderen dort angeklagten Verantwortlichen auf seiner Ebene – der Todesstrafe. In Essen gab er an, er habe nur »fordern und nicht befehlen« können und sei im Übrigen nur einmal, nämlich am 10. Dezember 1943, vor Ort gewesen. Über die  »außerordentlich große Sterblichkeit« wusste er allerdings Bescheid, von sogenannten ›Sonderbehandlungen‹ habe er jedoch erst nach Kriegsende erfahren. »Die Erschießung jedes zehnten Mannes bei Sabotage hielt er allerdings für möglich.« [3] Wernher von Braun ließ das Gericht in Essen brieflich per 22. November 1968 wissen, dass er schlechterdings nicht nach dorthin kommen könne, um als Zeuge auszusagen, da er doch so unentbehrlich sei in seiner Tätigkeit für die Amerikaner. So musste dieses ihn letztlich in dem für seinen Wohnsitz zuständigen deutschen Generalkonsulat am 7. Februar 1969 in New Orleans vernehmen. Im Vorfeld hatte er vorsorglich schon einmal bestritten, mit den Angelegenheiten des Lagers »irgendetwas zu tun gehabt« zu haben. Er wollte natürlich nichts von den erbärmlichen Lebensbedingungen der Häftlinge, dem Leben und Sterben unter Tage am Kohnstein mitbekommen haben. Von Misshandlungen und Erhängen einzelner Häftlinge habe er nur »gerüchteweise gehört«. Ähnlich war es bei dem ebenfalls in den USA vernommenen Zeugen Walter Dornberger. Diesen hatte auch die Nebenklage benannt. Er war Chef der Raketenabteilung des Heereswaffenamtes und Mitglied des Beirates der Mittelwerk GmbH, die den Bau der Raketenwaffen im KZ Dora betrieb. Lediglich bei der beantragten Einvernahme des damaligen Bundespräsidenten blieb das Gericht bei seiner ablehnenden Auffassung und wies den Antrag am 25. Juli 1969 ein zweites Mal als unzulässig zurück mit der Begründung, er diene »verfahrensfremden Zwecken«. Dies, obgleich Professor Kaul Hinweise darauf angeführt hatte, »dass Dr. Lübke als seinerzeit amtierender Leiter der im Sperrkreis Mittelbau tätig gewesenen Baugruppe Schlempp zu dem von mir benannten Beweisthema aussagen kann, nämlich dass die angeklagten Bischof und Sander wussten, dass die Anordnung einer sogenannten ›Sonderbehandlung‹ von KZ-Häftlingen nicht vom Vorliegen tatsächlicher Sabotage abhängig war, sondern dass diese ›Sonderbehandlung‹ aus allgemeinen Abschreckungsgründen – u.a. bereits wegen geringfügiger angeblicher Disziplinwidrigkeiten – immer dann angeordnet werden konnte, wenn dies präventiv zur Aufrechterhaltung des nazistischen KZ-Systems bzw. zur Steigerung der Arbeitsleistung für opportun gehalten wurde.« [4]

Die Nebenklagevertretung erhielt Unterstützung durch eine eigens für den Prozess gegründete Arbeitsgruppe, der vor allem Historiker angehörten. Zu ihnen gehörte der langjährige Buchenwald-Häftling Professor Dr. Dr. Walter Bartel und mehrere seiner Studenten, u.a. Götz Dieckmann und Laurenz Demps, die zu Beginn des Prozesses bereits Diplom-Historiker waren und im Verlaufe ihrer späteren wissenschaftlichen Laufbahn in der DDR selbst Professoren wurden. Sie verfassten auch das von Walter Bartel im Prozess erstattete wissenschaftliche »Gutachten über die Rolle und Bedeutung des Mittelwerkes einschließlich des KZ Dora-Mittelbau und die Funktion der SS bei der A4-Produktion«.

Angeklagte auf freiem Fuß

Nach dem Abschluss der Beweisaufnahme hielt die Staatsanwaltschaft ihren Schlussvortrag und verlangte Freiheitsstrafen zwischen lebenslänglich und zehn Jahren Zuchthaus. Rechtsanwalt Professor Dr. Kaul plädierte für die Anwendung des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg und mithin die Anwendung von Völkerrecht. Er verlangte für alle drei Angeklagten die Verhängung einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe.

Bezüglich des Angeklagten Bischoff kam es dazu nicht, weil das Gericht das Verfahren gegen ihn wegen Verhandlungsunfähigkeit am 4. Mai 1970 erst aussetzte und einige Zeit später ganz einstellte. Die dabei herangezogene Begründung spottet jeder Beschreibung und ist in Prozessen gegen konventionelle Straftäter, die vor einem Schwurgericht wegen Tötungsverbrechens angeklagt werden, schlechterdings nicht vorstellbar. Das Gericht formulierte: »Sollte dieses Urteil, was nach den bisherigen Ermittlungen der Hauptverhandlung zumindest nicht unwahrscheinlich ist, dahin lauten, dass der Angeklagte Bischoff als Mörder verurteilt wird, so ist nach dem Ergebnis der Begutachtung durch den Sachverständigen de Boor damit zu rechnen, dass es bei dem Angeklagten Bischoff infolge der Verkündung des Urteils zu einer exzessiven Blutdrucksteigerung kommt, die seinen Tod – möglicherweise noch im Gerichtssaal – zur Folge hat.« Ein solches, wohl eher abstraktes Risiko, mochte das Gericht scheinbar nicht auf sich nehmen. Im Nachhinein kann man darüber spekulieren, wie krank Bischoff zu jener Zeit wirklich war, wenn man weiß, dass er nach diesem Einstellungsbeschluss noch 23 Jahre weiter unbehelligt lebte und erst 1993 verstarb.

Am 8. Mai 1970, dem 25. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus, wurden Sander und Busta wegen Beihilfe zum Mord zu sieben Jahren und sechs Monaten bzw. acht Jahren und sechs Monaten Zuchthausstrafe verurteilt. Es war der 145. Sitzungstag des Gerichts in dieser Sache. Auch diese beiden mussten die Strafe nicht antreten, da ihnen wiederholt Haftverschonung bzw. Strafaufschub gewährt wurde bis man sie für haftunfähig erklärte. Ernst Sander starb im Jahr 1990, Erwin Busta acht Jahre vorher.

Rechtsanwalt Kaul kritisierte sehr zu Recht in seinem Schlussvortrag am 4. November 1969, dass die Angeklagten trotz der Erheblichkeit der gegen sie erhobenen Vorwürfe der Beteiligung an Tötungsverbrechen »kurz nach Beginn der gerichtlichen Hauptverhandlung auf freien Fuß gesetzt« wurden. »Wo hat es das jemals in der deutschen Rechtsgeschichte gegeben, dass wegen Massenmordes Angeklagte zu der gegen sie durchgeführten gerichtlichen Hauptverhandlung mit dem eigenen Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln vorgefahren kommen (…) Und dass sie sich in der Kantine völlig ungeniert vor und neben ihren eigenen Richtern anstellen können, um sich Kaffee und Kuchen zu kaufen.« [5]      

 

Anmerkungen:

[1]  Wikipedia, »KZ Mittelbau-Dora«.

[2]  Jens-Christian Wagner,  »Prodiktion des Todes – Das KZ Mittelbau-Dora«, Göttingen, 2. Aufl. 2004, S. 569.

[3]  Ralph  Dobrawa,  »Speers ›weiße‹ Weste«, RotFuchs Nr. 92, S. 16.

[4]  F. K. Kaul,  »Schlussvortrag in dem Strafverfahren gegen Bischoff, Sander und Busta, vorgetragen am 4. November 1969«, S. 17.

[5]  Ebenda, S. 23.

 

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