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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Historische Tendenzen und Donald Trump (Teil I)

Prof. Dr. habil. Herbert Meißner, Oranienburg

 

Nach dem II. Weltkrieg konnte viele Jahrzehnte verhindert werden, dass ein neuer großer Krieg ausbricht. Zu dieser Friedenserhaltung hat die Deutsche Demokratische Republik einen weltpolitisch bedeutsamen Beitrag geleistet!

Heute leben wir wieder in einer krisengeschüttelten Welt mit vielerlei Kriegsschauplätzen. Mehr noch: die Gefahr eines neuen großen Krieges ist nicht völlig auszuschließen.

Wir kennen die heutigen Brandherde. Die im Nahen und Mittleren Osten ausgebrochenen Bürgerkriege, die mehrere Länder umfassen, sowie die gesamte Destabilisierung dieses arabischen Raumes wurde ausgelöst durch den mit einer großen Kriegslüge begonnenen Überfall der USA unter Bush auf den Irak.

In Kiew wurde von konservativen neofaschistischen und von den Westmächten gelenkten Kräften mit Barrikaden, Brandschatzung und militärischer Gewalt ein Staatsstreich durch­geführt, was zu bürgerkriegsartigen Gewaltakten in der Ostukraine führte.

In Israel versucht ein kriegslüsterner Regierungschef mit seiner Clique das palästinensi­sche Volk zu kolonialisieren und einen Krieg gegen Iran zu provozieren.

Im Schatten dieser Konflikte führt der türkische Staatschef seinen Krieg gegen kurdisch­stämmige türkische Bevölkerungsteile.

Darüber hinaus wurde in der Türkei der Ausnahmezustand verhängt, ohne gesetzliche Grundlage wurden mehrere Hundert Beamte und Staatsangestellte sowie Richter und Staatsanwälte entlassen, regierungskritische Zeitungen und Zeitschriften geschlossen und Journalisten inhaftiert.

Auf diesem Hintergrund von Demokratieabbau und Anstreben einer Präsidialdiktatur ent­steht ein neues Konfliktfeld seitens der Türkei mit einigen europäischen Ländern, die diese Entwicklung sehr kritisch beobachten und bewerten.

Niemand kann garantieren, dass sich diese vielfältigen Konflikte nicht zu einem weltweiten Desaster ausbreiten.

Natürlich liegen diesen Konflikten jeweils unterschiedliche geopolitische, wirtschaftliche, nationale und andere Interessen zu Grunde. Aber wir sollten uns dessen bewusst bleiben, dass hinter all diesen Erscheinungsformen letztlich eine Hauptursache steht: das diesem System immanente Profitstreben.

Hier schließt sich der Kreis. Kapitalistische Eigentumsverhältnisse, in welch nationaler, his­torischer oder auch religiöser Ausprägung auch immer, führen gesetzmäßig zur Profitmaxi­mierung. Maximalprofit realisiert sich durch globale Aneignung oder Nutzung aller verfüg­baren Ressourcen. Das erfordert die Herrschaft über die entsprechenden Regionen – und diese Herrschaft wird durch militärische Bedrohung oder Anwendung militärischer Gewalt angestrebt.

Und wir wissen auch, dass in den meisten dieser Konflikte der USA-Imperialismus mit sei­nen Geheimdiensten und der von ihm kommandierten NATO aus dem Hintergrund die Fä­den zog und zieht. Dabei geht es weder um Menschenrechte, Demokratie oder Volksinter­essen – es geht um Öl, um Gas, um seltene Erden, um Elektrizität, Bodenschätze und Transportwege!

Wer hieran Zweifel hat, der lese nach, was im Mai 1997 in einer offiziellen Verlautbarung der USA-Regierung steht: sie sei zu militärischen Interventionen verpflichtet, »wenn es um die Sicherung des uneingeschränkten Zugangs zu den Schlüsselmärkten, Energievorräten und strategischen Ressourcen  geht«.

Wer die Auftritte des neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump während des Wahl­kampfes und auch danach verfolgt hat, weiß, wie nahe die Position des Präsidenten dieser regierungsamtlichen Verpflichtung kommt, mit militärischen Interventionen »die Sicherung des uneingeschränkten Zugangs zu den Schlüsselmärkten, Energievorräten und strategi­schen Ressourcen« zu gewährleisten.

Wie weit Trump dabei gehen wird, ist abzuwarten. Aber wenn jemand zu einem der mäch­tigsten Männer der Welt gekürt wird, der über keinerlei politische Erfahrung verfügt, der im Wahlkampf keinerlei staatsmännisches Format zeigte, der vor und nach der Wahl völlige Unberechenbarkeit offenbarte, so ist das eine ziemlich gefährliche Konstellation. Und wenn dessen Präsidentensessel in der Nähe des berühmt-berüchtigten Roten Knopfes steht, kann das für unsere Welt existenzgefährdend sein – und nicht nur für unsere, für sei­ne auch! 

Über die daraus resultierenden Gefahren für die internationale Völkergemeinschaft ist in den vergangenen Jahren viel gesprochen und geschrieben worden. Es gibt wertvolle Analy­sen und wichtige Bücher darüber. Diese Zusammenhänge müssen heute hier nicht neu be­wiesen werden.

Die Dialektik des geschichtlichen Prozesses

Aber etwas anderes ist mir wichtig. Bei Vorträgen, auf Konferenzen und in Gesprächen be­gegnet mir mehrfach eine gewisse Skepsis, ein Fatalismus oder auch sogar Pessimismus – entstehend aus der Frage: Was tun? Wo ist der Ausweg? Wie soll man dieser gewaltigen Wirtschaftsmacht der USA mit ihren imperialistischen Verbündeten und der Kriegsma­schine NATO standhalten? Hier nun muss unser von Marx geprägtes dialektisches Denken einsetzen. Dialektik bedeutet – vereinfacht ausgedrückt – zu erkennen, dass alle Entwick­lung durch den Kampf der allem innewohnenden Widersprüche bewirkt wird. Die Entfal­tung der Widersprüche ist die Triebkraft jeder Bewegung, Entwicklung und Veränderung. Daher ermöglicht dialektisches Denken einen präziseren Blick auf alles Geschehen. Die Dialektik des geschichtlichen Prozesses ist zu erkennen und zu hinterfragen.

Das führt zu der Frage, ob nicht das imperialistische Herrschaftsstreben auch innere Wi­dersprüche enthält, ob nicht dieser Haupttendenz eine Gegentendenz gegenüber steht? Wurzelt nicht diese imperialistische Aggressivität – siehe auch Osterweiterung der NATO – mit ihren Bedrohungen nicht nur in der noch vorhandenen Überlegenheit, sondern auch in der Sorge um die Aufrechterhaltung dieser Überlegenheit, in der Sorge um den Verlust von Einfluss in der Weltentwicklung?

In der Tat: es gibt zu dieser gefährlichen Haupttendenz eine Gegentendenz. Das wird deut­lich, wenn man betrachtet, auf wie viel verschiedenen Konfliktfeldern in den vergangenen vier bis fünf Jahrzehnten die USA-Strategie gescheitert ist, in wie viel Fällen die USA zur Än­derung ihrer Taktik gezwungen wurden, auf welchen Gebieten sie Verluste ihres Einflusses hinnehmen mussten. Diesen Entwicklungen unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden und sie als historisch wirksame Gegentendenz gegenüber den imperialistischen strategischen Pla­nungen zu erkennen, ist eine wichtige Aufgabe.

Schauen wir uns das ganz konkret an. 1954 wurden in Vietnam die französischen Kolonial­herren in der berühmten Schlacht bei Dien Bien Phu aus dem Lande vertrieben. Aber 1965 rückten USA-Truppen ein und führten einen erbarmungslosen Krieg bis 1972. Durch die Bombardierung mit chemischen Waffen wurden der Landwirtschaft große Schäden zuge­fügt und ganze Wälder vernichtet – außer den vielen Opfern an Menschenleben. Dennoch wurde Vietnam nicht besiegt, die US-Truppen wurden abgezogen und 1976 wurde die ver­einigte Sozialistische Republik Vietnam gegründet und besteht bis heute.

Das heißt, das Kriegsziel, nämlich ein dem Westen verbundenes Vietnam als Stützpunkt gegen China zu etablieren, wurde nicht erreicht und diese Strategie war gescheitert.

Schauen wir nach Irak. Dort erfolgte 1972 die Verstaatlichung der von den USA kontrollier­ten Petrol Company. 1978 erfolgte die Bildung einer irakisch-syrischen politischen und Wirtschaftsunion. Aber Syrien hatte wiederum freundschaftliche und wirtschaftliche Bezie­hungen zu Russland. Diese Entwicklung widersprach den US-Interessen und sollte 2003 durch den völkerrechtswidrigen Überfall auf Irak umgekehrt werden. Der Vorwand von den angeblichen Massenvernichtungswaffen in Irak ist längst international als große Kriegslüge entlarvt.

Das Kriegsziel bestand darin, eine westlich orientierte Regierung einzusetzen, den US-Einfluss in der arabischen Region zu stärken – vor allem gegenüber Syrien und Iran – und die Kontrolle über die Öl- und Erdgasreserven zu sichern. Immerhin verfügt Irak über die zweitgrößten Rohöl- und Erdgasreserven innerhalb der OPEC-Staaten.

Herausgekommen ist ein Staatswesen, in welchem die früher herrschende sunnitische Eli­te durch die regierungs- und politikunerfahrene schiitische Elite mit einem schwachen Prä­sidenten abgelöst wurde. Im Nordosten sind große Landesteile von Kurden bewohnt, die nach Selbstbestimmung streben. Das wiederum ruft die Türkei auf den Plan. Im Norden des Irak sind beträchtliche Landesteile durch die vereinigten Terrormilizen des sogenann­ten IS besetzt.

Das heißt, die auf das Kriegsziel hin angelegte US-Strategie ist völlig gescheitert und übrig ist Chaos! Jürgen Todenhöfer kommentiert das so: »Die USA haben den Irakkrieg schlicht und ergreifend verloren. Aber mit Hilfe ihrer Dollargeschenke konnten sie wenigstens ihr Gesicht wahren.« 

Jetzt zu Afghanistan. 1996 übernehmen die Taliban die Macht in Kabul. Sie errichteten ein streng islamisches Regime, arbeiteten eng mit El Quaida unter Osama bin Laden zu­sammen und sind laut UNO-Statistiken der international größte Opiumproduzent und -händler. Mit dem Argument »Krieg gegen den Terrorismus« begannen 2001 heftige Luftan­griffe der USA und danach die Besetzung unter Einbeziehung solcher NATO-Partner wie der BRD.

Das Kriegsziel bestand in der Errichtung einer bürgerlichen Demokratie, in der Vertreibung der Taliban und der Liquidierung von Opiumproduktion und Opiumhandel. Nach vielen Jah­ren Krieg und Besetzung gibt es heute keine funktionsfähige Demokratie, die Taliban sind im Kontakt mit den Terrormilizen des IS stärker als zu Beginn und Produktion und Handel mit Drogen blühen nach einem kurzen Tief wieder wie eh und je. Die bereits auf Abzug vor­bereiteten Truppen verlängern daher ihren Aufenthalt. Trotzdem finden in der Hauptstadt Kabul und anderswo ständig neue und sehr opferreiche Anschläge statt.

Die von der Bundesregierung erfolgte Kennzeichnung Afghanistans als sicheres Herkunfts­land von Flüchtlingen ist lächerlich. Die UNO hat veröffentlicht, dass es 2015 in Afghanis­tan 3.545 Todesopfer und 7.457 Verletzte gab, dass dies im wesentlichen Zivilisten waren und dass dies die höchsten Jahreszahlen seit 6 Jahren sind. Auch hier also: Kriegsziel nicht erreicht, Strategie gescheitert.

Über die Ukraine ist so viel gesagt und geschrieben worden, dass ich hier Einzelheiten er­spare. Ich stelle nur gegenüber: einerseits das Ziel der Aktion und andererseits ihr Ergeb­nis. Das Ziel bestand darin, die Ukraine aus ihrer Beziehung zu Russland herauszulösen, in das westliche Bündnissystem einzuordnen und eine starke Ukraine als Bollwerk gegen Russland einzurichten. Herausgekommen ist ein Staat, der wirtschaftlich deutlich ge­schwächt ist, finanzpolitisch absolut kreditabhängig ist, auf dessen Territorium eine starke Unabhängigkeitsbewegung entstanden ist und dort bürgerkriegsartige Auseinandersetzun­gen stattfinden.

Am schmerzlichsten für die Ukraine und ihre westlichen Förderer ist der komplette Verlust der Krim. Und da ihre Einverleibung durch Russland absolut friedlich und mit starker Unter­stützung der dortigen Bevölkerung erfolgte, ist der Respekt vor Russland – ungeachtet der gegenläufigen Propaganda – durch diesen Coup international gestiegen.

Auch hier also ein Resultat, bei dem die negativen Aspekte gegenüber der Zielstellung deutlich überwiegen.

Bevor ich jetzt zu Syrien als dem Hauptfeld heutiger militärischer Aktivitäten komme, ist eine Zwischenbemerkung angebracht. Vielleicht denkt jetzt mancher, diese Fälle kennen wir doch – der eine spezieller, der andere allgemeiner –, wozu sie noch mal aufzählen? Dazu zwei Gesichtspunkte: Erstens werde ich zu den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten einige Fakten, Informationen und Gedanken hinzufügen, die vermutlich nicht jedem bekannt sind.

Zweitens aber geht es mir nicht um die Einzelfälle, sondern um ihre Wechselbeziehung, um ihre Einordnung in die historische Entwicklung, um die Erkenntnis ihrer Widersprüchlich­keit und einer Gegentendenz angesichts der vorhandenen Gefahren. Erst so werden Schlussfolgerungen möglich, die am Ende zu ziehen sind.

Die Väter des syrischen Krieges und des »Islamischen Staates«

Die Problematik um Syrien begann schon 1967 mit dem Überfall Israels mit Billigung der USA. Daraus entstand die Annexion der Golan-Höhen, die Besetzung des West-Jordan-Lan­des, und es erfolgten mehrfache Bombardements sowie Artilleriebeschuss syrischen Ge­biets.

Da sich Russland gegen diese israelischen Aktivitäten positionierte, schloss Syrien 1980 einen Freundschaftsvertrag mit der UdSSR ab und stellte ihr den Hafen Tartuz als Flotten­basis, Transportweg und Handelstrasse zur Verfügung.

Solch den US-Interessen entgegenstehendes Verhalten zeigte Syrien auch während des Krieges der USA gegen den Irak, indem es der Bevölkerung in blockierten Gebieten huma­nitäre Hilfe durch Lebensmittelsendungen und Medikamente leistete.

Diese Entwicklung zeigt Syrien in ständigem Widerspruch zur US-Strategie. Das ist eine der Ursachen für die ständige westliche Forderung nach Auswechselung der Assad-Regie­rung. Hinzu kommt, dass durch die Verbindung von Assad mit Russland und Iran ein Kom­plex entsteht, durch den der amerikanische Einfluss in dieser Region zurückgedrängt wird. Und schließlich geht es auch hier um die Kontrolle über das syrische Öl und Gas sowie um Transportwege.

In diesem Konfliktfeld ist eine weitere Spezifik des Nahen und Mittleren Ostens erkennbar. In dieser Region operieren vielerlei islamischer, mohammedanischer terroristischer Grup­pierungen. Die stärksten davon sind El Nusra – in Syrien, El Quaida (auch ohne Osama Bin Laden), Salafisten (von Ägypten her), und es gibt darüber hinaus Djihadisten, Takfiri, Front des Beistands, Befreier Syriens und andere. Diese Gruppierungen sind radikal-islamisch orientiert und erhalten daher von dem ebenfalls radikal-islamisch verfassten Saudi-Arabien Nachschub von Waffen, Finanzen und Personal. Das hängt u. a. damit zusammen, dass Sy­rien der einzige säkulare Staat im arabischen Raum ist.

Dieser Nachschub und die Ausrüstung der Terrorgruppen – nicht nur von den Saudis, son­dern auch von den Emiraten, von Quatar und Kuweit – wurde entlang der ca. 1.000 km lan­gen Grenze der Türkei nach Syrien und Irak geschleust. Das lief vorrangig über Anatolien und die Provinz Hatay. Ankara machte demgegenüber beide Augen zu und hielt die Grenze absichtlich durchlässig.

Weshalb aber diese damalige Unterstützung der Terroristen? Der Hintergrund dafür ist von doppelter Art. Politisch geht es der Türkei im Bündnis mit Saudi-Arabien um die Herauslö­sung Syriens aus den freundschaftlichen Beziehungen zu Russland, dem Iran und auch Chi­na. Es geht um die Einschränkung der gewichtigen Rolle Syriens im arabischen Raum. Wirt­schaftlich geht es um die Transportwege für Öl und Gas, denn der Iran braucht die Verbin­dung zu den Mittelmeerhäfen über Irak, Syrien und Libanon.

Nach dieser Einschleusung terroristischer Gruppen nach Syrien und Irak passierte etwas Unerwartetes: sie begannen, sich unter dem Dach von El Quaida – der stärksten unter ih­nen – zusammenzuschließen. Daraus entstand 2006 die Ausrufung des sogenannten Isla­mischen Staates (I.S.) als Kalifat. Alle aus dieser Gründung einer radikal-islamischen Struk­tur folgenden militärischen, völkerrechtswidrigen, menschenfeindlichen und terroristischen Aktivitäten sind letztlich unmittelbar durch die Türkei, Saudi-Arabien und Quatar mit zu verantworten und wurden längere Zeit von den Westmächten toleriert. Die Attentate in Paris, in Brüssel, in Istanbul, in Ankara, in Damaskus, in Tunis, auf Djerba und andere schlagen auf die ursprünglichen Förderer des Terrorismus zurück.

Die rasch erreichte militärische Stärke des IS zeigt sich daran, dass er in wenigen Monaten ein Staatsgebiet in der Größe von Großbritannien mit 6 Millionen Bewohnern unter seine Kontrolle gebracht hat. Als seine Hauptstadt wurde die auf irakischem Gebiet liegende Zweimillionen-Stadt Mossul etabliert. Der IS kontrolliert damit die »Strategische Pipeline« des Irak in die Türkei, d. h. eine Lebensader der irakischen Ölindustrie.

Inzwischen haben syrische Regierungstruppen mit Unterstützung russischer Luftstreitkräf­te Aleppo von den terroristischen Kräften befreit. In dem vom IS zu seiner Hauptstadt er­klärten Mossul vollzog sich die Befreiung durch irakische Truppen mit Unterstützung US-amerikanischer Luftstreitkräfte. Während so das Herrschaftsgebiet des IS durch die interna­tionalen Antiterroraktivitäten ständig eingeschränkt wird, weitet der IS seine Angriffe in­zwischen auf große europäische Städte in erschreckender Weise aus: Paris, Brüssel, Berlin, London, Stockholm.

Der IS strebt nach internationaler Ausdehnung eines »Gottesstaates« und will mit den ge­nannten Attentaten seine Fähigkeit dazu beweisen. In einer offiziellen und veröffentlichen Ansprache des Sprechers des Kalifen rief Abu Mohammed Al Adnani die Muslime der westlichen Länder dazu auf, gegen die nicht muslimische Bevölkerung der westlichen Län­der Gewalt anzuwenden.

In einer anderen Rede wandte er sich direkt an Obama und die Westmächte: »Ihr könnt alle kommen, wir werden bereit sein. Unser Tod wird das Märtyrertum sein, und euer Tod wird die Hölle sein. Wir wissen, dass wir siegen werden«.

In einem Interview mit einem namhaften Repräsentanten des Kalifats wies der Reporter darauf hin, dass der IS ja kein regulär gegründeter Staat mit entsprechenden Strukturen (zum Beispiel Verfassung, Staatsgrenzen) sei. Die Antwort bestand in zwei Punkten: 1. Un­sere Verfassung ist die Scharia; 2. Unser Staat hat keine Grenzen, sondern nur Fronten, die wir ständig nach vorn verschieben werden!  

Im Herrschaftsgebiet des IS erfolgt die Gesellschaftsgestaltung nach den Regeln der Scha­ria. Die Scharia enthält die Lebensregeln und das Strafgesetz des radikalen Islamismus.

Konkret bedeutet das ein strenges Verbot von Rauchen, Alkohol, Unterhaltungsmusik, Ho­mosexualität und Autofahrverbot für Frauen. Bei Diebstahl im Wert von unter 40 Dollar gibt es zehn bis zwanzig Stockhiebe, bei über 40 Dollar wird die Hand abgehackt. Bei Ehebruch erfolgt öffentliche Steinigung bis zum Tode. Bei Vergewaltigung gibt es 100 Stockhiebe.

Aber nun leben im jetzigen Herrschaftsgebiet des IS auch jüdische Gemeinschaften, es gibt christliche Siedlungen und es wohnen auch gemäßigte moslemische Familien dort, die sich nicht dem radikalen Islam anschließen. Für diese Bürger hat der IS folgende Regelun­gen parat: Jüdische und christliche Bürger können mit ihren Familien weiterhin dort leben und arbeiten, wenn sie dem IS eine jährliche Schutzsteuer zahlen. Es gibt zwei Kategorien. Für arme Familien sind pro Jahr und pro Person 300 Dollar zu zahlen. Für begüterte Bürger pro Jahr und pro Person 600 Dollar. Dann stehen sie unter dem Schutz des Kalifats.

Anders liegt es bei den gemäßigten Muslimen, die nach den Prinzipien des säkularen syri­schen Staates leben wollen. Für sie gibt es nur drei Möglichkeiten. Entweder sie verlassen dieses Gebiet und entziehen sich dem Zugriff des IS. Oder sie konvertieren zum radikalen Islam und werden damit akzeptiert. Falls sie dazu nicht bereit sind, werden sie als Abtrün­nige betrachtet, als Verleugner des wahren Glaubens, als Ignoranten gegenüber den Geset­zen Allahs. Darauf steht der Tod. Also flüchten, konvertieren oder sterben.

Die Praktizierung dieser und ähnlicher Regelungen erfordert keine juristische Ausbildung. Die in den vom IS besetzten Gebieten vorher tätigen Richter wurden davongejagt oder exe­kutiert. Der Vorwurf: sie haben die staatliche Gesetzgebung über die Gesetze Allahs ge­stellt. An ihre Stelle wurden in Moscheen ausgebildete Prediger gesetzt.

Es gäbe noch viel über die Herrschaftsformen im »Gottesstaat« zu sagen.

Auch wenn inzwischen der IS militärisch stark zurückgedrängt und sein Herrschaftsgebiet deutlich reduziert wurde, hat obige Darstellung zwei Gründe. Erstens wird dadurch besser verständlich, weshalb sich die Bevölkerung dieser Gebiete dem brutalen Druck unterwarf. Und zweitens wird deutlich, weshalb diese Bevölkerung die schrittweise Zerschlagung des IS und die Wiederherstellung normaler Lebensverhältnisse als Befreiung empfindet. 

Mir kommt es auch bei diesem Konfliktfeld auf Folgendes an:

  1. Die US-Strategie, Syrien mit seinen Öl- und Gasvorkommen sowie wegen der Transport­wege unter imperialistischen Einfluss zu bringen und dies mit einem Regimewechsel zu verbinden, ist gescheitert.
  2. Stattdessen ist mit dem IS ein neuer Gegner mit internationaler Dimension und terroris­tischer Aktivität entstanden.
  3. Völlig entgegen der US-Strategie hat die Ausdehnung dieses Konflikts dazu geführt, dass sich Russland, Iran und China gemeinsam und verstärkt für die Aufrechterhaltung der regulär gewählten Regierung und die Selbstbestimmung des syrischen Volkes engagieren, womit der amerikanische Einfluss weiter zurückgedrängt wird.

Ein weiterer Minuspunkt zeigt sich bei allem, was sich in und um Iran abspielt. Viele Jahre haben die USA gemeinsam mit Israel den Iran des Atombombenbaus verdächtigt und Sanktionen verhängt. Netanjahu hat mehrfach versucht, eine militärische Aktion gegen Iran zu provozieren. Unter internationalem Druck mussten die USA ihre Strategie wechseln und einem internationalen Vertrag mit Iran zustimmen. Die Sanktionen werden schrittwei­se zurückgefahren.

Mehr noch: Irans Präsident Ruhani wurde vom Papst empfangen. Erstmals besuchte ein chinesischer Staatspräsident Teheran. Xi Jinping unterschrieb 17 Wirtschaftsverträge, dar­unter den Bau von zwei Kernkraftwerken im Iran und umgekehrt wurde die langfristige Lie­ferung iranischen Öls nach China vereinbart.

Nun kann sich auch die deutsche Bundeskanzlerin dem internationalen Sog einer Normali­sierung der Beziehungen zum Iran nicht mehr entziehen. Lange hat sie die Kontakte mit Iran verweigert. Jetzt berichtet »Der Spiegel« mit Bezugnahme auf Regierungskreise, dass Steinmeier und Gabriel seit längerem drängen, dem internationalen Trend nachzugeben. Auch die Wirtschaft übt Druck auf das Kanzleramt aus. Allerdings hat der neue Präsident der USA verdeutlicht, dass er diesen Vertrag mit Iran nicht unterschrieben hätte und jetzt darüber nachdenkt, wie sich die USA künftig dazu verhalten werden. Hieran wird bereits sichtbar, dass dieser Mister Präsident sich von Beginn an bemüht, bereits international erreichte progressive und friedensfördernde  Positionen zu untergraben.

Neuer und alter Brandherd

Noch deutlicher wird dies im Hinblick auf die Problematik Israel-Palästina. Die israelische Regierungspolitik der Besetzung palästinensischer Gebiete, des Landraubes mittels Sied­lungsbau und der Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung genoss viele Jahr­zehnte die Unterstützung der USA. Auch hier hat sich der Wind gedreht. Zunächst hatte Obama den israelischen Regierungschef zur Mäßigung gemahnt und sich hinter eine Zwei­staatenlösung gestellt. Diese wird inzwischen international als die einzige Möglichkeit ei­ner friedlichen Regelung in dieser Region betrachtet. Dem liegt auch zugrunde – was wenig bekannt ist –, dass Jordanien, welches bis 1967 das Westjordanland regierte, seine An­sprüche an die Palästinenser und nicht an Israel abgetreten hatte. Inzwischen leben im Westjordanland mehr als 45.000 Israelis in den neu gebauten Siedlungen, zerteilen das Land, sperren Transportwege und zerstören normale Lebensbedingungen. Hinzu kommen mindestens 160.000 Israelis im Stadtgebiet von Jerusalem. Mit jedem israelischen Sied­lungs- und Hausbau sinken die Chancen für einen selbständigen palästinensischen Staat.

Dazu positionierte sich der Generalsekretär der UNO Ban Ki Moon. Vor dem Sicherheitsrat der UNO sagte er: »Die Enttäuschung der Palästinenser wächst unter dem Druck eines hal­ben Jahrhunderts der Besatzung und der Lähmung des Friedensprozesses. Entfremdung und Verzweiflung steht hinter den Taten einiger Palästinenser. Für Fortschritte in Richtung Frieden muss Israel seine illegalen Siedlungsvorhaben einfrieren«.

Eine solch scharfe und auf hoher Ebene erfolgende Kritik der israelischen Annexions- und Kolonialisierungspolitik gab es bisher noch nicht! Das wird ergänzt durch folgenden Vor­gang: Ende Juni 2015 erfolgte in Rom die Unterzeichnung eines Staatsvertrages zwischen dem Vatikanstaat – dessen Oberhaupt der Papst ist – und dem Staat Palästina. Damit wird Palästina vom Vatikanstaat und vom Papst offiziell als Staat anerkannt.

(Der abschließende Teil II folgt im März-Heft.)

 

Mehr von Herbert Meißner in den »Mitteilungen«: 

2018-02: Keine Gewalt! ?

2017-11: »Meinst Du, die Russen wollen Krieg?«

2017-11: Bücherbord: Wehret den Anfängen!