Die »Hallstein Doktrin« (1955-1969) – Schwert oder stumpfe Waffe?
Prof. Dr. Siegfried Prokop, Bernau
Die Hallstein-Doktrin wurde am 8./9. Dezember 1955 auf der Botschafterkonferenz in Bonn proklamiert. Benannt wurde die Doktrin nach Walter Hallstein, der Staatssekretär im Auswärtigen Amt (1951-1958) war. Einen amtlichen Text, der als »Hallstein-Doktrin« bekanntgegeben wurde, gibt es nicht. Die Doktrin nahm im zweiten Halbjahr 1955 Gestalt an [1]:
- In der Erklärung von Bundeskanzler Konrad Adenauer am 22. September 1955 vor dem Deutschen Bundestag.
- In der Rede von Wilhelm G. Grewe, Leiter der politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, auf der Botschafterkonferenz am 8. Dezember 1955 in Bonn.
- Im Interview des Nordwestdeutschen Rundfunks mit Wilhelm G. Grewe am 11. Dezember 1955.
Die Hallstein-Doktrin besagte, dass die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR durch Drittstaaten als »unfreundlicher Akt« gegenüber der Bundesrepublik betrachtet werde. Die angedrohten Gegenmaßnahmen reichten von wirtschaftlichen Sanktionen bis zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Der schon 1949 bei der separaten Gründung der Bundesrepublik verkündete Alleinvertretungsanspruch war die Grundlage der »Hallstein-Doktrin«. Dass nur die Bundesrepublik das deutsche Volk vertreten dürfe, wurde aus der Präambel des Grundgesetzes abgeleitet. Das Ziel, das letztlich angestrebt wurde, war die Liquidierung der sozialistischen Alternative auf deutschem Boden. Erreicht werden konnte dieses Ziel nicht. Die durch die Doktrin im Verlauf von anderthalb Jahrzehnten bewirkte Entfremdung zwischen West- und Ostdeutschen wurde stillschweigend in Kauf genommen.
Umstrittene Sanktionen
Anlass für die Verschärfung des Alleinvertretungsanspruchs durch die »Hallstein-Doktrin« war die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR im September 1955. Die Volksdemokratien Osteuropas wollte die Bundesrepublik wegen deren engen Beziehungen zur DDR nicht anerkennen. Die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion wurden wegen ihrer Bedeutung als Signartarstaat des Potsdamer Abkommens zur Ausnahme erklärt. Die »Hallstein-Doktrin« war in der bundesdeutschen Politik von Anfang an umstritten, was erklärt, dass sie nicht immer konsequent angewandt wurde, weil eine Isolierung der Bundesrepublik befürchtet wurde. So kam es 1957 anlässlich der Eröffnung eines Büros der DDR in Kairo, das für den diplomatischen Kontakt mit den arabischen Ländern zuständig war, zu keiner Anwendung der »Hallstein Doktrin«.
Angewandt wurde die Doktrin am 19. Oktober 1957 gegenüber dem blockfreien, sozialistischen Staat Jugoslawien (SFRJ) und am 14. Januar 1963 gegenüber Kuba unter Fidel Castro. Die diplomatischen Beziehungen zu diesen Ländern wurden abgebrochen. Jedoch wurde bezüglich Jugoslawiens der Zahlungsverkehr zwischen beiden Ländern beibehalten. Ein Generalkonsulat der Bundesrepublik verblieb in der SFRJ. 1959 konnte die Bundesrepublik die De-facto-Anerkennung der DDR im Rahmen der Genfer Außenministerkonferenz nicht verhindern, an der Delegationen der beiden deutschen Staaten gleichberechtigt beteiligt waren. Die »Hallstein-Doktrin« diente der Bonner Politik dazu, die DDR zunächst außenpolitisch zu isolieren. Zugleich engte sie den eigenen diplomatischen Spielraum selbst ein. Nachdem die Bundesrepublik 1965 diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen hatte, brachen gleich zehn arabische Staaten die diplomatischen Beziehungen ab. Zum ersten Mal zeigte sich, dass sich die »Hallstein-Doktrin« nicht nur zum Nachteil der DDR, sondern auch zum Schaden der Bundesrepublik auswirken konnte. [2] Aufschlussreich ist auch, was Torben Gülstorff, ein Kenner der Akten des Auswärtigen Amtes, zu berichten wusste: »Jedes Jahr wurden den Ministerien und Institutionen der Bundesrepublik von jedem Staat, in dem Westdeutschland diplomatisch vertreten war, hunderte von Projektvorschlägen unterbreitet – stets gespickt mit Andeutungen über eine mögliche Anerkennung der DDR im Fall einer Ablehnung des Ersuchens. So scheuten sich die westdeutsche Botschaft in der Republik Kongo und der kongolesische Industrie- und Handelsminister beispielsweis 1964 nicht, die Gefahr der Inanspruchnahme einer ›sbz-wirtschaftshilfe‹ – und eine damit verbundene Annäherung der DDR und Kongo – an die Wand zu malen, um die Bewilligung eines in der Schwebe befindlichen Hermes-Förderantrags zu beschleunigen.« [3] Wenig souverän reagierte die Bundesrepublik auf die Erfolge des DDR-Sports. Operiert wurde mit dem Begriff der »Aufwertung«, der im Gegensatz zur Anerkennung kein völkerrechtlicher Terminus war. Werner Kilian, der viele Jahre im Auswärtigen Amt tätig war, bemerkte dazu: »Besonders im Sportsektor kam es dabei zur Jagd auf Kleinigkeiten, die der Hallstein-Doktrin in den 60er Jahren den Ruf eintrug, sie sei zum Spatzenschießen im Vorhof der Anerkennung geworden.« [4]
Die DDR war außenpolitisch zu keinem Zeitpunkt völlig isoliert. Nach ihrer Gründung wurde sie von den sozialistischen Ländern Europas und Asiens völkerrechtlich anerkannt. 1957 folgte mit Jugoslawien ein blockfreies Land Europas. 1963 folgte mit Kuba ein Land des amerikanischen Kontinents.
Um die völkerrechtliche Anerkennung der DDR
Anfang der 60er richtete sich der Blick der DDR-Diplomatie im Kampf gegen die »Hallstein-Doktrin« auf den afrikanischen Kontinent. 1960 konnten sich 17 afrikanische Staaten aus der kolonialen Unterdrückung befreien. Die DDR, die den antikolonialen Befreiungskampf unterstützt hatte, sah in diesen Veränderungen in Afrika eine neue Chance in ihrem Ringen um die völkerrechtliche Anerkennung. Schon 1959 besuchte Ministerpräsident Otto Grotewohl Ägypten. Danach erfolgte in Kairo die Einrichtung eines Generalkonsulats der DDR.
Das SED-Politbüro fasste am 4. Januar 1960 den Beschluss: »Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten wird beauftragt, einen Plan zur Entsendung führender Persönlichkeiten der DDR (Mitglieder des Präsidiums des Ministerrates u.a.) zur Führung von Gesprächen und zur Erweiterung der bestehenden Kontakte mit der VAR, Guinea, Ghana, Marokko, Nigeria, Kamerun und der Mali-Föderation im Jahre 1960 auszuarbeiten. [5] In diesem wurde aufgeführt, durch welche Maßnahmen die DDR afrikanische Länder unterstützen wollte:
- Journalisten aus Ghana, Marokko, Nigeria, Kamerun, der Mali-Föderation, Äthiopien, Togo und dem Sudan werden in die DDR eingeladen.
- Dokumentationen über die Kolonialpolitik des deutschen Imperialismus werden erarbeitet und in Englisch und Französisch publiziert.
- Das Staatliche Rundfunkkomitee wird beauftragt, eine Afrika-Redaktion einzurichten, die zunächst Sendungen mit afrikanischen Rundfunkstationen austauscht und später die Sendungen mit dem Richtstrahler für Afrika übernimmt. [6]
Ein verfrühter Versuch, die völkerrechtliche Anerkennung zu vollziehen, erfolgte 1960 durch die Regierung Guineas. Sie schickte den Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafter Dr. Seydou Contes mit der Absicht nach Berlin, die Herstellung diplomatischer Beziehungen mit der DDR einzuleiten. Allerdings war nach dem Austritt Guineas aus der Franc-Zone und der Einführung einer eigenen Währung für das Land eine komplizierte Situation entstanden. Frankreich verhängte eine ökonomische Blockade. Guinea wurde der Vorwurf gemacht, ein »Vorposten des Kommunismus« zu sein. An die Stelle einer völkerrechtlichen Anerkennung trat schließlich ein Vertrag über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit. Die DDR gewährte Guinea einen Kredit in Höhe von fünf Millionen Dollar. [7]
Im Jahre 1961 weitete die DDR ihre Beziehungen zu afrikanischen Ländern aus. Im August richtete sie eine Handelsvertretung in Marokko ein. Vom 15. Februar bis 30. März beteiligte sich die DDR an der Weltlandwirtschaftsausstellung in Gezira (VAR). Im September 1961 fanden Verhandlungen mit den Regierungen des Kongo und von Ghana statt. Im November 1961 besuchte eine Delegation der Algerischen Befreiungsarmee die DDR.
Nach dem 13. August 1961 entsandte die DDR Sonderbotschafter in die VAR, nach Äthiopien, Ghana, Mali und Guinea, die über die vom Warschauer Vertrag beschlossenen Maßnahmen zur Grenzsicherung in Berlin aus erster Hand informierten. Rückschläge blieben nicht aus. 1964 hatte Sansibar die erste Botschaft der DDR in Afrika eröffnet. Nach der Vereinigung Sansibars mit Tanganjika kam es jedoch zur Umwandlung der Botschaft in ein Generalkonsulat in Daressalam und ein Konsulat in Sansibar.
Die bedeutendsten Veränderungen vollzogen sich im Verhältnis der DDR und der VAR. 1964 residierten in der VAR eine Handelsvertretung, ein Generalkonsulat und die Dienststelle eines »Beauftragten der DDR für die arabischen Länder«; insgesamt 130 Diplomaten und Angestellte. Die Bundesrepublik beschäftigte in ihrer Kairoer Botschaft etwa 20 Angehörige des höheren Dienstes. In gewissem Umfang gelang es der DDR, den Sperrriegel der »Hallstein-Doktrin« dadurch zu unterlaufen, dass sie alle Möglichkeiten bis an die Schwelle der diplomatischen Anerkennung ausschöpfte.
Eine qualitativ neue Situation entstand im Ergebnis von Israels Sechstageskrieg gegen Syrien, Jordanien und Ägypten. Die Beziehungen der Bundesrepublik zu Ägypten verdüsterten sich, nachdem durch einen Artikel in der »Frankfurter Rundschau« vom 26. Oktober 1964 Details der geheimen Waffenlieferungen an Israel bekannt geworden waren. Die Bundesrepublik lieferte 24.000 Mörsergranaten und 150 Panzer-Chassis vom Typ M 48 (ausgediente Bundeswehrpanzer) über den Umweg Italien an Israel. Es war dafür gesorgt, dass die Panzer unterwegs mit neuen Kanonen und neuen Motoren ausgestattet wurden.
Völkerfreundschaft am Nil
Nachdem dies bekannt geworden war, lud die ägyptische Regierung den Staatsratsvorsitzenden der DDR, Walter Ulbricht, zu einem Besuch nach Kairo ein. Alle Bemühungen Bonner Diplomaten, diesen Besuch in letzter Minute zu verhindern, scheiterten letztlich daran, dass sich Bundeskanzler Ludwig Erhard nicht dazu entschließen konnte, auf die Waffenlieferungen zu verzichten. Ulbricht reiste vom 24. Februar bis zum 2. März 1965 nach Ägypten. Jedoch verweigerte das NATO-Mitglied Griechenland eine Überfluggenehmigung. Walter Ulbricht flog deshalb mit seiner Frau Lotte bis nach Dubrovnik in Jugoslawien. Mit dem Urlauberschiff »Völkerfreundschaft« fuhren die beiden nach Alexandria. Dort wartete schon Präsident Gamal Abdel Nasser auf die Gäste aus der DDR. 21 Schuss Salut wurden zur Begrüßung abgegeben. Im offenen Cadillac fuhren dann Nasser und Ulbricht, von der Bevölkerung begeistert begrüßt, zum Koubbeh-Palast.
Ägypten und die DDR verfügten über ein paralleles Interessengefüge. Dieses erwies sich jedoch noch »als zu labil, das außenpolitische Hauptziel – die diplomatische Anerkennung und damit die Durchbrechung der Hallstein-Doktrin in kurzer Zeit zu erreichen.« [8] Zwar wurde aus der zugesagten Reise Nassers in die DDR nichts mehr, aber die völkerrechtliche Anerkennung durch die VAR erfolgte vier Jahre nach Ulbrichts Besuch. Ägypten gehörte zur Gruppe der Länder, die den Reigen der weltweiten völkerrechtlichen Anerkennung der DDR eröffneten.
Im Jahre 1969 wurde Willy Brandt (SPD) Bundeskanzler. Er erkannte die DDR de facto an. Mit den direkten Verhandlungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik zur Regelung ihrer Beziehungen, die 1972 zum Grundlagenvertrag führten, wurde die »Hallstein-Doktrin« aufgegeben. Sie war schon eine Weile zur stumpfen Waffe geworden. Die Doktrin wurde auch deshalb aufgegeben, weil sie der »neuen Ostpolitik« Willy Brandts im Wege stand.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Wilhelm G. Grewe: Deutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit. Stuttgart 1960, S. 138 ff. – Werner Kilian: Die Hallstein-Doktrin. Aus den Akten der beiden deutschen Außenministerien. Berlin 2001.
[2] Werner Kilian, a.a.O., S. 327.
[3] Torben Gülstorff: Die Hallstein-Doktrin – Abschied von einem Mythos, in: Deutschland Archiv, 9.8.2017. Link: www.bpb.de/253953.
[4] Werner Kilian: Die Hallstein-Doktrin, a.a.O., S. 30.
[5] Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/682, Bl. 27.
[6] Ebenda, Bl. 34.
[7] Ebenda, DY 30/J IV/2/2/692, Bl. 9.
[8] Ingrid Muth: Die DDR-Außenpolitik 1949-1972. Berlin 2000, S. 42.
Mehr von Siegfried Prokop in den »Mitteilungen«:
2024-05: Der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz für die Bundesrepublik 1948/49