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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zum 130. Geburtstag Walter Ulbrichts (1893-1973)

Prof. Dr. Siegfried Prokop, Bernau

 

Walter Ulbricht, geboren am 30. Juni 1893, war Zeit seines Lebens eine vielschichtige und widersprüchliche Persönlichkeit. Ernst Wollweber urteilte, Ulbricht sei ein Mann »von einigen verehrt, von vielen geachtet, von keinem geliebt.« [1]

Der Leipziger Arbeiterjunge Ulbricht war rasch in der Parteihierarchie der KPD aufgestie­gen. Er hatte sich bis in den EKKI-Apparat in Moskau hochgearbeitet.

Ende Januar 1946 wurde Ulbricht von Stalin nach Moskau beordert und dort aufgefordert, die Parteivereinigung von KPD und SPD bis zum 1. Mai 1946 zu vollziehen. Ulbricht war indes nicht schlechthin ein Befehlsvollstrecker. 1952 gelang es ihm, Stalin die Zustimmung zum planmäßigen Aufbau des Sozialismus in der DDR abzuluchsen, was dessen Nachfolger im Krisenjahr 1953 mit viel Aufwand zu korrigieren versuchten. Das »Überlebenstalent« Ulbricht indes nutzte den 17. Juni zur weiteren Befestigung seiner Macht.

Insgesamt war 1953 im Herrschaftsverhalten Ulbrichts eine Zäsur: Die Vorstellung, einen eigenen deutschen Beitrag in die Schatzkammer des Marxismus-Leninismus einbringen zu können, nahm allmählich Gestalt bei ihm an. Ulbricht war unübertrefflich in der Bewertung gegebener Kräfteverhältnisse. Er ordnete sich ein, wo es nicht anders ging, nutzte aber auch sich eröffnende Möglichkeiten für seine Politik. In den Junitagen des Jahres1953 empörten sich viele Bürger darüber, dass sowjetische Behörden willkürlich erscheinende Verhaftungen von DDR-Bürgern vornahmen, ohne irgendwelche Auskünfte zu geben. Aus diesem Anlass schrieb Walter Ulbricht am 15. Juni 1953 einen Brief an das Präsidium der KPdSU. Darin hieß es: »Angesichts der Tatsache, dass zahlreiche deutsche Bürger ständig Auskunft über das Schicksal ihrer von sowjetischen Besatzungsorganen verhafteten Ange­hörigen verlangen, bittet das Politbüro die Sowjetorgane, den deutschen Organen die Mög­lichkeit zu geben, diese Anfragen zu beantworten.« [2] Ein sowjetisches Tabu wurde gebro­chen und damit vielen Familien geholfen.

Die nächste Zäsur im Herrschaftsverhalten Ulbrichts folgte nach dem Mauerbau 1961/62. Ulbricht nutzte den Souveränitätsgewinn der DDR, um dem Modell der sowjetischen Wirt­schaft eine Absage zu erteilen, was im Bereich der Ideologie noch mehr Brüche hervorru­fen musste. Mit unerschöpflicher Energie setzte sich Ulbricht an die Spitze einer Wirt­schaftsreform von oben, die der DDR neue Kraft und Dynamik verlieh.

Ein intakter Staat an der Schwelle der internationalen Anerkennung

Ulbricht sorgte dafür, dass Bürger, die bis zum Mauerbau in den Westen geflüchtet waren, 1963 an den Volkskammerwahl teilnehmen durften. Trotz der Falschinformationen aus Bonn beteiligten sich 28.119 in der Bundesrepublik lebende DDR-Bürger an den Volkskam­merwahlen. [3] Geldzuwendungen im Zusammenhang mit hohen Auszeichnungen, die er erhalten hatte, stellte Ulbricht gemeinnützigen Zwecken zur Verfügung. Der Leiter des Sekretariats von Ulbricht, Herbert Graf, berichtete in seinen Erinnerungen über die Einrich­tung eines Kindergartens in der Schuhfabrik »Banner des Friedens« in Weißenfels und in der LPG in Halenbeck, Kreis Pritzwalk. [4]

Der VI. Parteitag 1963 sah Walter Ulbricht real im Zenit der Macht. Seine Führung war unumstritten, seine Kompetenz auch in wirtschaftlichen Grundsatzfragen unangetastet.

Der designierte Kronprinz Erich Honecker begann, Veränderungen in Moskau nach Chruschtschows Sturz und Widerstände im Apparat gegen Ulbrichts Reformdrang zu nut­zen. Eine Zäsur bildete in diesem Zusammenhang das »Kahlschlagplenum« von 1965. Danach missbrauchte Honecker seine Tätigkeit als Leiter des Sekretariats des ZK dazu, eigene politische Interessen zu verfolgen.

Jedoch scheint Ulbrichts anfängliche Sympathie für den Prager Frühling etwas überbewer­tet, wenn behauptet wird, dass Ulbricht »die Intervention des Warschauer Paktes am 21. August 1968 nicht verhindern« konnte. [5] Ulbricht wollte sie nicht verhindern. Er war aktiv für die Intervention, weil er im Sommer 1968 fürchtete, dass nach dem Austritt der CSSR aus dem Warschauer Vertrag aus der bisherigen Südgrenze der DDR eine zweite West­grenze (und damit die DDR existentiell gefährdet) wird. Hochinteressant sind die deutsch-deutschen Sonderbeziehungen im Jahre 1970. Die Treffen von Erfurt und Kassel waren Ausdruck einer neuen Deutschlandpolitik Ulbrichts, die Moskau mit größtem Argwohn ver­folgte. Honeckers Drängen auf Ablösung Ulbrichts fand deshalb ab 1970 in Moskau mehr Gehör als in den Jahren davor. Die Ablösung selbst verzögerte sich noch um einige Monate, weil Ulbricht Honecker von der Position des Kronprinzen zu drängen versuchte und einen »heimlichen« Kronprinzen präsentierte, der offenbar in Moskau nicht völlig abgelehnt wurde.

Jedoch ist die mitunter geäußerte Vermutung falsch, dass Günter Mittag der »heimliche« Kronprinz war. Der »heimliche« Kronprinz hieß Alfred Neumann. Der ursprünglich ins Auge gefasste Günter Mittag war zu dieser Zeit schon auf die Seite von Honecker übergelaufen.

Ulbricht hinterließ seinem Nachfolger einen intakten Staat an der Schwelle der weltweiten völkerrechtlichen Anerkennung, eine intakte sozialistische Partei in einem halbwegs funk­tionierenden Mehrparteiensystem (CDU, DBD, LDPD und NDPD), im Rahmen der Gepflo­genheiten, wie sie im Ostblock praktiziert wurden. Die Arbeiterpartei bestand auf ihrer füh­renden Rolle.

Die DDR war nicht nennenswert verschuldet. Die Goldreserve in einer Größenordnung von 1,5 Milliarden Mark war klein, aber sie war vorhanden. In alledem unterschied sich das Ende der Ära Ulbricht erheblich vom Ende der Ära Honecker.

In der Öffentlichkeit der DDR kam das familiäre Umfeld von Walter Ulbricht in der Regel viel zu kurz. DDR-Bürgern blieb verborgen, dass er 1920 die Näherin Martha Schmelinsky geheiratet hatte und dass aus dieser Ehe die Tochter Dorle hervorgegangen war. Von 1925 bis 1934 war Ulbricht mit der französischen Journalistin Rosa Michel (geb. Wacziarg) befreundet. 1931 wurde in Moskau die Tochter Rose (auch Mimi genannt) geboren.

Lotte, die Frau seines Lebens, lernte Ulbricht am 29. Januar 1935 im Speiseraum des berühmt-berüchtigten Hotels Lux in Moskau kennen. Sie verabredeten sich zum Schlitt­schuhlaufen. Im Rückblick schrieb Lotte: »Wir verliebten uns ineinander. Noch heute kann ich mir das Wunder nicht erklären.« Erst 1949 gab Ulbrichts erste Frau die Einwilligung zur Scheidung. Am 25. Januar 1950 erfolgte die Eheschließung zwischen Walter Ulbricht und Charlotte (Lotte) Kühn. Die beiden ergänzten sich in menschlicher und politischer Hinsicht sehr gut. Jedoch bestand ein Problem darin, dass Lotte aufgrund mehrfacher Erkrankun­gen in der Emigration keine eigenen Kinder bekommen konnte. Nach einem ersten vergeb­lichen Adoptionspflegeversuch gelang es ihnen, die am 6. Mai 1944 in Leipzig zur Welt ge­kommene Maria Pestunowa (Kurzname: Mascha), die Tochter einer ukrainischen Zwangs­arbeiterin und eines unbekannten Vaters, als Beate in Pflege zu nehmen.

In der politischen Arbeit unterstützte Lotte Walter Ulbricht außerordentlich. Von 1947 bis 1953 war sie persönliche Mitarbeiterin Ulbrichts, was in der Juni-Krise 1953 im Politbüro zu heftiger parteiinterner Kritik führte. Lotte verzichtete auf die Fortsetzung einer eigenen politischen Laufbahn. Sie begann 1954 ein Studium, das sie 1959 mit dem Diplom abschloss. Danach wurde sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Marxismus-Leninismus. Sie bearbeitete Texte von Walter Ulbricht und unterstützte die Ausarbeitung der achtbändigen Geschichte der Arbeiterbewegung. Sie war Mitglied in der Frauenkom­mission des Politbüros. 1968 erschienen ihre »Reden und Aufsätze«. Die darin erhobenen Forderungen zur Frauenemanzipation sind auch heute noch aktuell. Durch ihre natürliche und unkomplizierte Art erwarb sie nicht wenige Sympathien, was auch der Popularität von Walter Ulbricht zugutekam.

Ende 1961 entfaltete das westdeutsche Magazin »Stern« eine Kampagne gegen Ulbricht. Journalisten hatten seine in Hamburg verheiratete Schwester Helga Niendorf und seinen 1928 nach New York ausgewanderten jüngeren Bruder Erich »entdeckt«. Diese Ent­deckung hätte für Walter Ulbricht ein Stolperstein werden können, wenn er die Existenz seiner Geschwister in den Fragebögen verschwiegen hätte. Die Überprüfung ergab jedoch für die Schwester den Vermerk »Westdeutschland« und für den Bruder »USA« mit den Zusätzen »Aufenthaltsort unbekannt«. Tatsache war, dass zwischen den Geschwistern seit knapp drei Jahrzehnten kein Kontakt mehr bestand. Dem »Stern« misslang gründlich, Ulbricht der Lüge zu überführen.

Sebastian Haffner, der sich angeregt durch die 1966 in der Bundesrepublik erschienene Ulbricht-Biographie von Gerhard Zwerenz [6] gründlich mit dem Leben und Wirken Ulbrichts auseinandergesetzt hat, gelangte zu der Feststellung: »Ulbricht ist der erfolgreichste Politi­ker nach Bismarck und neben Adenauer.« [7]

 

Anmerkungen:

[1] Ernst Wollweber: Aus Erinnerungen. Ein Porträt. In: BzG, Berlin 1990, Heft 3, S. 351.

[2] SAPMO-BArch, DC20/3446 Ebenda, S. 91.

[3] Herbert Graf: Mein Leben. Mein Chef Ulbricht. Meine Sicht der Dinge. Erinnerungen. Berlin 2008, S. 445.

[4] Ebenda, S. 234 f.

[5] Norbert Podewin: Walter Ulbricht. Eine neue Biographie. Berlin 1995, S. 397.

[6] Vgl. Gerhard Zwerenz: Walter Ulbricht. Archiv der Zeitgeschichte. München 1966.

[7] Sebastian Haffner: Zur Zeitgeschichte. Reinbek bei Hamburg 2017, S. 125.

 

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