Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Blutmai 1929

Prof. Dr. Heinz Karl, Berlin

 

Vor 90 Jahren, am 1. Mai 1929, floss Blut in Berlin. Kein tragischer Unglücksfall, keine Naturkatastrophe. Es wurde vergossen – vorsätzlich, politisch motiviert. Von der Polizei, auf Befehl ihres Chefs, der damit den politischen Auftrag seiner Regierung erfüllte. 33 Tote, viele Hundert Verletzte und 1.228 Verhaftete waren ihre Erfolgsbilanz. Zu diesem Tag des Terrors führten verschiedene Wege – von diesen soll zunächst die Rede sein.

Im Zuge der relativen Stabilisierung des Kapitalismus seit 1924 war Deutschland wieder stärkste Wirtschaftsmacht Europas und zweitstärkste – nach den USA – in der Welt gewor­den. Kein Wunder, dass die deutschen Unternehmerverbände im Dezember 1927 provoka­torisch von der Reichsregierung forderten, »den Kampf mit der Masse und mit dem Reichs­tage« aufzunehmen, um massive sozial-reaktionäre Veränderungen durchzusetzen, die auf »eine sehr einschneidende Verfassungsänderung« [1] hinauslaufen würden. Diese Regierung war eine des »Bürgerblocks«, einer Koalition von Parteien des Großkapitals und der Groß­agrarier, von Ernst Thälmann zu Recht als die reaktionärste Regierung seit der November­revolution charakterisiert. Ihr Reichswehrminister war seit Januar 1928 General a.D. Wil­helm Groener, 1918/19 als Ludendorffs Nachfolger »zweiter Mann« – nach Hindenburg – in der Obersten Heeresleitung, nun der erste Militär seit 1918 in diesem Amt; besonders bemüht um praktikable Rüstungsmaßnahmen, z.B. den Ersatz veralteter Linienschiffe durch hochmoderne Panzerkreuzer. Ihr rechtskonservativer Innenminister v. Keudell schei­terte im April 1928 mit einem von ihm betriebenen Verbot des Roten Frontkämpferbundes (RFB), was eine starke Protestbewegung bis in linksbürgerliche Kreise ausgelöst hatte.

Die Reichstagswahl am 20. Mai 1928 besiegelte das Schicksal des Bürgerblocks; seine Parteien erlitten starke Verluste. Hauptgewinner war die SPD, die als sozialbetonte Alterna­tive zum Bürgerblock agiert hatte. Ihre vielleicht zugkräftigste Wahlparole lautete »Kinder­speisung statt Panzerkreuzer!« Sie hatte ihr bestes Wahlergebnis seit 1919 erzielt. Aber auch die KPD hatte beachtlich zugelegt. Problemgeladen waren die Berliner Wahlergebnis­se. Auch hier war die SPD erfolgreich wie nie seit 1919. Die KPD jedoch konnte ihre Stim­menzahl gegenüber 1924 von 375.000 auf 611.000 steigern und doppelt so viel Stimmen hinzugewinnen wie die SPD! Hier deuteten sich unübersehbar Veränderungen im Kräftever­hältnis an.

Panzerkreuzer-Aufrüstung, die SPD-Vorstände hätten verhindern können

Am 28. Juni 1928 trat eine Regierung der Großen Koalition (die SPD, die linksbürgerliche Deutsche Demokratische Partei/DDP, das katholische Zentrum, die Bayrische Volkspar-tei/BVP und Stresemanns Deutsche Volkspartei/DVP) ihr Amt an. Reichskanzler war Hermann Müller (einer der drei SPD-Vorsitzenden). Die weiteren Sozialdemokraten im Kabinett waren Severing (Inneres), Hilferding (Finanzen) und Wissell (Arbeit und Soziales). Außenminister war Stresemann, Reichswehrminister weiterhin General Groener.

Bereits am 10. August fasste das Kabinett den Beschluss, mit dem Bau des Panzerkreu­zers A zu beginnen. Da die DDP-Minister bereit waren, mit der SPD gegen den militaris­tischen Beschluss zu stimmen, hätten die Sozialdemokraten ihn verhindern können, aber sie gingen lieber mit General Groener und den großbürgerlichen Aufrüstungsinteressenten. Am 15. August »bedauerte« eine Sondersitzung der Vorstände von SPD und SPD-Reichs­tagsfraktion diese Entscheidung, aber lehnte den von Vielen geforderten Austritt aus der Reichsregierung ab – Politik des »kleineren Übels«. Am 18. August schlossen sich der Par­teiausschuss und die Reichstagsfraktion diesem Votum der Vorstände an.

Am 16. August beschloss das ZK der KPD die Einleitung eines (mit einem Volksbegehren beginnenden) Volksentscheids-Verfahrens gegen den Panzerkreuzerbau. Das löste viel­fache Zustimmung aus, so erklärte am 24. August die Deutsche Liga für Menschenrechte ihre Unterstützung für das Volksbegehren. Am 27. August bildeten die KPD und andere linke Arbeiterorganisationen, pazifistische und Kulturorganisationen einen Reichsaus­schuss für den Volksentscheid, dessen Vorsitz der unabhängige Sozialist Georg Ledebour, der Maler Otto Nagel sowie Wilhelm Pieck, Mitglied des Polbüros des ZK der KPD und Vor­sitzender ihrer Bezirksorganisation Berlin-Brandenburg, übernahmen.

Am 20. September forderten der Ausschuss des Deutschen Friedenskartells und das Präsi­dium der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) zur Beteiligung am Volksbegehren auf. Beson­ders viele linke Medien- und Kulturschaffende – so Carl v. Ossietzky in der von ihm heraus­gegebenen und geleiteten »Weltbühne« – traten für das Volksbegehren ein. Auf der Gene­ralversammlung der Deutschen Friedensgesellschaft am 6./7. Oktober in Nürnberg kam es zu einer lebhaften Auseinandersetzung zwischen Helmut v. Gerlach, dem linken Sozialdemokraten Fritz Küster und anderen, die für die Unterstützung des Volksbegehrens eintraten, und dem sozialdemokratischen Generalsekretär der DFG, Gerhart Seger, der die Positionen der SPD-Führung vertrat. Eine von Ludwig Quidde eingebrachte Resolution für das Volksbegehren wurde mit überwiegender Mehrheit angenommen.       

Auch in der SPD breitete sich Empörung über das Aufrüstungs-Engagement ihrer Füh­rungsinstanzen aus, das in einem schreienden Widerspruch zu ihrem Auftreten im zurück­liegenden Wahlkampf stand und die politische Glaubwürdigkeit der SPD massiv in Frage stellte. Noch im August nahmen unter anderen die SPD-Organisationen von Chemnitz, Berlin und Leipzig scharf ablehnend Stellung.

Das Volksbegehren wurde in der Zeit vom 3. bis 16. Oktober 1928 abgehalten. Es scheiter­te, da sich nur 1.216.501 Wähler in die Listen eintrugen, d.h. weniger als die für einen Erfolg erforderlichen 10 Prozent aller Wahlberechtigten. Dennoch hat es einen bestimmten Beitrag zur politischen Bewusstseinsentwicklung geleistet. Dazu trugen auch sich ausdeh­nende und härter gestaltende Streikbewegungen bei, wie der Hamburger Hafenarbeiter­streik (17.-27. Oktober 1928), der Widerstand von 213.000 Metallarbeitern des Ruhrge­biets gegen ihre Aussperrung durch die Ruhrindustriellen (1. November – 4. Dezember 1928) und der Streik der Hennigsdorfer Walzwerker (23. Januar - 30. April 1929), der nur unter dem Druck reformistischer Gewerkschaftsbürokraten abgebrochen wurde.

Demonstrationsverbot vielerorts aufgehoben und vielfach verurteilt

Alle diese Entwicklungen zeugten davon, dass sich die Klassenauseinandersetzungen ver­schärften, die politischen Gegensätze zuspitzten, dass vor allem Monopolkapital und Groß­agrarier, ihre politischen und militärischen Eliten, der mit ihnen verbundene Staatsapparat ihren wirtschaftlichen und politischen Machtanspruch immer aggressiver durchsetzten und zunehmend bereit waren, jeden Widerstand dagegen auch mit Gewalt zu brechen. Auf der Tagung des ZK der KPD am 14. März 1929 wies Ernst Thälmann warnend darauf hin, dass in Deutschland »langsam ... eine reaktionäre Umgestaltung der bürgerlichen Staatsord­nung« mit »diktatorischen, zum Teil halbfaschistischen Methoden« vollzogen werde. Es handele sich um »Ansätze in der Entwicklung zum Faschismus«, auch wenn diese sich kei­neswegs »von heute auf morgen vollziehen« werde. [2]

Es war also vorauszusehen, dass der 1. Mai 1929 bewegter als in den Vorjahren sein würde. Die meisten deutschen Landesregierungen waren deshalb bemüht, seinen ruhigen Verlauf zu sichern, indem sie z.B. bestehende Demonstrationsverbote für den 1. Mai aufhoben; dies tat u.a. die scharf rechtsgerichtete bayrische Regierung. Die von der SPD geführte Regierung Preußens tat das Gegenteil – sie provozierte. Am 21. März wies Innenminister Grzesinski (SPD) alle Polizeibehörden an, gegen die »radikalen Organisationen« vorzugehen und Demonstrationen und Versammlungen unter freiem Himmel »vorbeugend« zu verbie­ten. Auch als am 16. April der Berliner Polizeipräsident Zörgiebel (SPD) ihm mitteilte, dass nach seinen Informationen die KPD nachdrücklich einen friedlichen Charakter der von ihr vorbereiteten Maidemonstration anstrebe, wurde das seit Dezember 1928 bestehende Demonstrationsverbot für den 1. Mai bekräftigt.

Dagegen protestierten nicht nur die KPD und zahlreiche Betriebsbelegschaften, sondern auch pazifistische und bürgerlich-demokratische Kreise. Das Deutsche Friedenskartell nahm auf Antrag von Helene Stöcker eine entsprechende Resolution an, die von Ludwig Quidde bei den preußischen Behörden vertreten wurde. [3] Auch eine Versammlung der Jung­demokraten  am 14. April in Berlin nahm einstimmig eine Resolution für die Aufhebung des Demonstrationsverbots an. Der teilnehmende DDP-Staatssekretär Wilhelm Abegg vom preußischen Innenministerium verurteilte das Verbot, das gegen seinen Rat von seinem Minister aufrechterhalten wurde. [4] Der Berliner Polizei-Vizepräsident, Dr. Bernhard Weiß, gleichfalls DDP, teilte diese Meinung. [5]

Als sich am 1. Mai an 20 Stellplätzen in der Berliner Innenstadt – die vom Maikomitee und der KPD öffentlich bekannt gemacht worden waren – etwa 200.000 Werktätige zur tradi­tionellen Maidemonstration formieren wollten, sahen sie sich der schon bereitstehenden Polizei gegenüber: insgesamt 16.500 Mann mit 91 Streifenwagen, 27 Mannschafts-LKW, einem mit einem Maschinengewehr bewaffneten Panzerwagen, zwei Wasserwerfern und einer Reiterstaffel. Ein von Zörgiebel am 30. April erlassener Einsatzbefehl ordnete an, »rücksichtslos vom Gummiknüppel Gebrauch zu machen« und sah auch den Gebrauch von Schusswaffen vor. [6] Die Polizei ging sofort mit äußerster Brutalität vor, wobei in großem Umfang völlig unbeteiligte Passanten, sogar sich in ihren Wohnungen aufhaltende, zufällig am Fenster erscheinende Personen (10 der 33 Todesopfer!) angegriffen wurden. Ausnahmslos alle Schussverletzungen waren durch Polizeimunition verursacht. Die Polizei hat insgesamt 10.981 Schuss abgegeben, davon 7.885 aus Pistolen und 3.096 aus Karabinern bzw. Maschinengewehren. [7] Entgegen ursprünglich von der Polizei in Umlauf gebrachten – und von der bürgerlichen Presse noch aufgebauschten – Lügengeschichten stellte sich heraus, dass die Polizei weder einen Toten  noch einen durch Schüsse Verletzten zu beklagen hatte, lediglich 15 durch Schläge oder Steinwürfe Verletzte, wobei nur in zwei Fällen die Einweisung in ein Krankenhaus für notwendig erachtet wurde. [8]

Aktionseinheit durch blutige Provokation massiv erschwert

Jedoch ging die Rechnung der rechtssozialdemokratischen Erfüllungsgehilfen des Großka­pitals nur zum kleineren Teil auf. Die KPD ging nicht wie im März 1921 in die Falle, die blu­tige Provokation mit bewaffnetem Widerstand zu beantworten. Aber die Regierung der Großen Koalition und die preußische Regierung nutzten die komplizierte Situation, um ein anderes reaktionäres Projekt zu verwirklichen, an dem der Bürgerblock gescheitert war: das Verbot des Roten Frontkämpferbundes. Am 3. Mai verbot die preußische Regierung den RFB. Auf einer Konferenz des Reichsinnenministers Severing mit den Innenministern der Länder am 10. Mai zeigten sich allerdings bemerkenswerte Unterschiede, die auch von einer gewissen Differenzierung innerhalb der SPD zeugten. Vor allem Wilhelm Leuschner (Hessen, SPD) und Adam Remmele (Baden, SPD) wiesen die demagogischen anti­kommunistischen Attacken Severings und Grzesinskis zurück und konfrontierten sie mit deren freundlichem Umgang mit Nazis und Stahlhelm. Nach der Konferenz gaben auch die Regierungen Hessens und Badens dem Druck nach. Allein die Braunschweiger Landes­regierung (Ministerpräsident Jaspers und Staatsminister Curt Steinbrecher, beide SPD) verweigerte sich konsequent der antidemokratischen Zumutung. Hier verhängte Severing, sie brüskierend, als Reichsinnenminister das RFB-Verbot. [9]

Ergänzt wurden die antikommunistischen Terrormaßnahmen durch monatelange Verbote der »Roten Fahne« und anderer kommunistischer Zeitungen. Dies alles wurde vom Magde­burger Parteitag der SPD (26. - 31. Mai 1929) ausdrücklich gebilligt.

Die mit dem blutigen antikommunistischen Terror verknüpften Hoffnungen auf eine Isolie­rung der KPD von den Massen erfüllten sich allerdings nicht. Bei den Berliner Kommunal­wahlen im November 1929 konnte die KPD fünfmal so viele neue Wähler hinzugewinnen wie die SPD. Nur ein Dreivierteljahr später, bei der Reichstagswahl im September 1930, überholte sie die SPD und wurde – als erste kommunistische Partei in einem kapitalis­tischen Lande – in der Hauptstadt wählerstärkste Partei.

Auch die Hoffnungen des rechtssozialdemokratischen Führungszirkels, durch Gewalttätig­keit gegen Kommunisten und andere Linke dem Großkapital ihre Unentbehrlichkeit zu be­weisen, ging nicht in Erfüllung. Auf das antikommunistische Massaker folgte schon im März 1930 die Verdrängung der SPD aus der Reichsregierung, und am 20. Juli 1932 wurde sie ihres preußischen »Erbhofs« enteignet. Die massivste Wirkung der Politik, die im Blut­mai barbarischen Ausdruck fand, war, dass sie für die lebensnotwendige Aktionseinheit der antifaschistischen Kräfte neue, schwer zu überwindende Hindernisse auftürmte.      

 

Anmerkungen:

[1]  Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 4, Berlin 1966, S. 487/488.

[2]  Ernst Thälmann. Eine Biographie, Berlin 1979, S. 414/415; Ruth u. Walter Wimmer: Kampf dem Faschismus! Thälmann 1929-1933, Leipzig/Jena/Berlin 1986, S. 15-17.          

[3]  Vgl. Heinz Habedank: Der Feind steht rechts. Bürgerliche Linke im Kampf gegen den deutschen Militarismus, Berlin 1965, S. 142.

[4]  Vgl. Léon Schirmann: Blutmai Berlin 1929. Dichtungen und Wahrheit, Berlin 1991, S. 70.

[5]  Vgl. ebenda.

[6]  Eberhard Czichon/Heinz Marohn: Thälmann. Ein Report, Bd. 1, 1886-1933, Berlin 2010, S. 410.

[7]  Vgl. L. Schirmann: Blutmai, S. 83.

[8]  Vgl. ebenda, S. 89.

[9]  Vgl. ebenda, S. 281/282.

 

Mehr von Heinz Karl in den »Mitteilungen«: 

2018-12: Vor 100 Jahren: Kommunistische Partei Deutschlands!

2018-11: Vor 100 Jahren: Deutsche Novemberrevolution 1918/19

2018-08: Wir erinnern