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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Vor 100 Jahren: Deutsche Novemberrevolution 1918/19

Prof. Dr. Heinz Karl, Berlin

 

Seit fast drei Jahrzehnten leben wir wieder – wie vor 100 Jahren! – in einem einheitlichen kapitalistischen, imperialistischen Deutschland. In einem Staat, in dem die Einkommen von Besitzenden und Nichtbesitzenden immer weiter auseinanderdriften, einerseits Reichtum und andererseits Armut rapide wachsen, der sich aber den gefährlichen Luxus eines enorm wachsenden Rüstungshaushalts leistet und von Militärbündnissen, provokatori­schen Kriegsspielen und militärischen Interventionen in fernen Ländern geradezu magisch ange­zogen wird.

Vor 100 Jahren hatte der deutsche Imperialismus und Militarismus den durch seine Expan­sionspolitik entfesselten Ersten Weltkrieg auch schon so gut wie verloren, als sich die be­reits vier Jahre auf die Schlachtbank geführten oder in der Rüstungsindustrie ausgepower­ten Millionen gegen ihn erhoben. Das war die bis dahin größte und erfolgreichste revolutio­näre Bewegung auf deutschem Boden.

Damit steht zugleich die Frage nach ihrer Langzeit- und Tiefenwirkung im Raum; denn die grundlegende Verteilung von Eigentum und Macht in Deutschland ist heute wie vor 100 Jahren. Das wirft des Weiteren die Frage nach den Ursachen dieses dem Gedanken des historischen Fortschritts hohnsprechenden Zustandes und des Umgangs mit ihnen auf. Hier werden Zusammenhänge zwischen Ereignissen vor 100 Jahren und heutigen Zustän­den sichtbar, denen im Folgenden nachgegangen werden soll.

» ... eine revolutionäre Situation«

Mitte Juli 1918 scheiterte die letzte deutsche Offensive an der Westfront, und die Gegenof­fensive der britischen und französischen Armeen (verstärkt durch US-amerikanische Trup­pen), deren zahlenmäßige und materielle Überlegenheit immer drückender wurde, begann. Mit ihrem Durchbruch durch die deutsche Front am 8. August – von den deutschen Mili­tärs als »Schwarzer Tag des deutschen Heeres« bejammert – wurde ein ununterbrochener Rückzug der völlig erschöpften, schlecht versorgten und immer weniger kampfwilligen deutschen Truppen erzwungen. Am 21. September verlangte die Oberste Heeresleitung die sofortige Einleitung von Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen.

Zu diesem Zeitpunkt waren bereits über zwei Millionen deutsche Soldaten gefallen oder vermisst. Seit Juni 1918 erfasste eine Streikwelle das Land, in immer größerer Zahl kam es zu Pro­teststreiks gegen die fortgesetzten Kürzungen der völlig unzureichenden Lebensmit­telrationen. Ende September drang die Oberste Heeresleitung auch auf eine Regierung auf brei­terer Grundlage, was den Ansichten führender großbürgerlicher Kreise entsprach, das Re­gime durch seine »Parlamentarisierung« zu stabilisieren. Reichstagsfraktion und Partei­ausschuss der SPD sprachen sich am 23. September für eine Mitarbeit in der Regierung aus. Der SPD-Vorsitzende Ebert begründete das damit, eine Verweigerung würde bedeu­ten, das »weitere Schicksal Deutschlands der Partei der Revolution zu überlassen ... Wir müssen uns im Gegenteil in die Bresche werfen.« [1] Das war der Übergang von der seit dem 4. Au­gust 1914 betriebenen Burgfriedenspolitik zur Politik der Koalition mit großbürgerli­chen Parteien.

Am 3. Oktober 1918 berief Kaiser Wilhelm II. den als liberal geltenden Prinzen Max von Ba­den zum Reichskanzler. Seinem Kabinett gehörten auch zwei prominente Sozialdemokra­ten an: Philipp Scheidemann (wie Ebert Vorsitzender der SPD) und der stellvertretende Vorsitzende der Freien Gewerkschaften, Gustav Bauer.

Alle diese Vorgänge zeigten, dass in Deutschland eine revolutionäre Situation heranreifte.

Auch die Reichskonferenz der Spartakusgruppe Mitte Oktober 1918, an der auch Vertreter der »Linksradikalen« teilnahmen, konstatierte »eine revolutionäre Situation, die alle Proble­me neu entrollt, die die deutsche Bourgeoisie in der Revolution von 1848 nicht zu lösen fähig war« und den Kampf um »die deutsche sozialistische Republik« [2] auf die Tagesord­nung setze. Sie forderte die Aufhebung des Belagerungszustandes und aller repressiven Maßnahmen gegen Soldaten und Zivilisten, aber auch die Enteignung des Bankkapitals, der Bergbau- und Hüttenindustriellen und der Großagrarier sowie die Abschaffung der Ein­zelstaaten und Dynastien. Sie warnte vor den gerade eingeleiteten »Demokratisierungs«-Manövern der Herrschenden mit Hilfe von rechten Sozialdemokraten: »Der Kampf um die wirkliche Demokratisierung geht nicht um Parlament, Wahlrecht oder Abgeordneten­minister und anderen Schwindel; er gilt den realen Grundlagen aller Feinde des Volkes: Be­sitz an Grund und Boden und Kapital, Herrschaft über die bewaffnete Macht und über die Justiz.« [3] Die Konferenz beschloss, in allen Orten die Initiative zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten zu ergreifen. In diesem Sinne nahmen in Berlin die führenden Spartakus-Funktionäre Karl Liebknecht und Wilhelm Pieck seit dem 26. Oktober an den Sitzungen des Vollzugs-Ausschusses der revolutionären Obleute teil und wurden – ebenso Ernst Meyer – in dessen Leitung gewählt.

Die Revolution siegt

Unmittelbar ausgelöst wurde die Revolution durch den sinnlosen und abenteuerlichen Ent­schluss der Marineführung, mit der gesamten Hochseeflotte die weit überlegene britische Flotte anzugreifen. Der Widerstand der Matrosen, zunächst in passiven Formen, kann das Auslaufen verhindern. Angesichts von Repressionen geht er, zuerst am 3. November in Kiel, in bewaffnete Aktionen über. Die Mannschaften entwaffnen die Offiziere, setzen sie zum Teil fest, ihre Soldatenräte übernehmen die Kontrolle der Schiffe und Landeinrichtun­gen, stellen die Verbindung zu Einheiten des Landheeres her. Am 6. November hat die Be­wegung bereits das gesamte Küstengebiet erfasst, am 8. November auch Mittel-, Süd- und Westdeutschland. Während die Spartakusgruppe nach Kräften für sie wirkt und auch die Leitung der USPD sich für sie erklärt, wendet sich der Parteivorstand der SPD am 4. und 6. November in Aufrufen gegen revolutionäre Massenaktionen.

Am 9. November folgen in Berlin Hunderttausende dem Aufruf der Spartakusgruppe und der Revolutionären Obleute der Betriebe, besetzen das Polizeipräsidium, Kasernen und an­dere öffentliche Gebäude, entwaffnen Polizisten und Offiziere, befreien politische Gefange­ne. Hingegen lässt der SPD-Vorsitzende Ebert sich von Prinz Max v. Baden das Amt des Reichskanzlers übertragen, ruft zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung auf und appelliert an die kaiserlichen Behörden und Beamten, ihre Tätigkeit weiterzuführen.

Von größtem Gewicht war die Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte am 10. November im Zirkus Busch. Sie traf Entscheidungen von großer Tragweite – die im ge­samtdeutschen Maßstab anerkannt und durchgesetzt wurden –, widerspiegelte das reale politische Kräfteverhältnis, die gefährlichen Unklarheiten auch im linkssozialistischen Spektrum und die organisatorische Schwäche der konsequenten marxistischen Linken. Die Vollversammlung wählte als ihr real handelndes Organ den Vollzugsrat der Berliner Arbei­ter- und Soldatenräte – 14 Vertreter der Arbeiterräte (je 7 von SPD und USPD) und 14 Sol­datenräte (fast ausschließlich Mitglieder der SPD oder ihr nahestehend). Die SPD mit ih­rem in Berlin besonders großen und gut eingespielten Organisationsapparat hatte dessen Möglichkeiten optimal für die Wahl der Delegierten genutzt. Hinzu kam, dass unter den Soldatenräten das kleinbürgerliche und bürgerliche Element besonders stark vertreten war.

In dem von der Vollversammlung verabschiedeten Aufruf hieß es: »Deutschland ist ... eine sozialistische Republik. ... Die Träger der politischen Macht sind jetzt Arbeiter- und Sol­datenräte. ... Die rasche und konsequente Vergesellschaftung der kapitalistischen Produk­tionsmittel ist nach der sozialen Struktur Deutschlands und dem Reifegrad seiner wirt­schaftlichen und politischen Organisation ohne starke Erschütterung durchführbar. Sie ist notwendig ...« [4] Bereits am 24. November 1918 wurde eine Sozialisierungskommission unter Vorsitz Kautskys berufen, und am 13. März 1919 ein (folgenloses) Sozialisierungsge­setz erlassen.

Seitens der SPD-Führung war das reine Demagogie, aber viele USPD-Funktionäre waren ehrlich überzeugt, dass sie jetzt an der Macht und in der Lage wären, sozialistische Arbei­terpolitik zu treiben, und die Mehrheit der Arbeiter sah das so oder ähnlich. Bei diesen ge­fährlichen, folgenschweren Unklarheiten in der Machtfrage ging es gar nicht so sehr um unzureichende marxistische Grundkenntnisse als vielmehr darum, dass die Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem Reformismus und Revisionismus noch zu gering waren, oft auch als abstrakter »Akademikerstreit« unterschätzt wurden.

Die Vollversammlung bestätigte den vom Parteivorstand der SPD und ZK der USPD ausge­handelten, paritätisch zusammengesetzten Rat der Volksbeauftragten – Ebert, Scheide­mann und Landsberg von der SPD, Haase, Dittmann und Barth von der USPD (in dem Ebert und Haase den Vorsitz führten) – als neue deutsche Regierung. Außerordentlich eng gestaltete sich das Verhältnis des Vorsitzenden Ebert zur Obersten Heeresleitung, vertre­ten durch den »zweiten Mann« nach Hindenburg, Generalleutnant Groener. »Wir haben im­mer abends zwischen 11 Uhr und 1 Uhr telefonisch miteinander verkehrt, zwischen der Reichskanzlei und dem Großen Hauptquartier ... Der Zweck unseres Bündnisses, das wir am 10. November abends geschlossen hatten, war die restlose Bekämpfung der Revoluti­on ...« [5] erinnerte sich Groener vor Gericht.

Rätemacht oder Nationalversammlung?

Das hervorstechendste, prägende Phänomen der Novemberrevolution waren die Arbeiter- und Soldatenräte. Inspiriert durch die unbestreitbar erfolgreichen russischen Sowjets, waren sie Organe unmittelbarer Demokratie, basisdemokratische Institutionen und stan­den den Massen am nächsten. Sie griffen teilweise tief in das gesellschaftliche Leben ein. Ohne auf gesetzgeberische Akte »von oben« zu warten, setzten sie den Achtstundentag und andere soziale Verbesserungen in Kraft, verfügten Lohnerhöhungen und Maßnahmen zugunsten der Arbeitslosen. Sie verteilten freien Wohnraum und gehortete Lebensmittel, bekämpften Schleichhandel und Schiebertum. In Betrieben wurden reaktionäre Direktoren abgesetzt und mit der Produktionskontrolle begonnen, die in einzelnen Fällen bis zur selb­ständigen Organisation und Leitung der Produktion weitergeführt wurde.

Hier entstanden die Betriebsräte, die in der Folgezeit immer größere Bedeutung erlangten.

Verschiedentlich verboten die Räte bürgerliche Zeitungen oder stellten sie unter Zensur. Sie beschlagnahmten fürstliche Ländereien und vereinzelt auch Großgrundbesitz. Am 7. Dezember verhaftete der Mühlheimer Arbeiter- und Soldatenrat August und Fritz Thyssen, Edmund Stinnes und weitere Großindustrielle und Konzernmanager wegen ihrer Versuche, Ententetruppen zur raschen Besetzung des Ruhrgebiets zu bewegen.

Zahlreiche Räte bildeten Sicherheitswehren, um die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten und reaktionären Umtrieben vorzubeugen. Damit entstanden zum ersten Male in der deutschen Geschichte demokratische, volksverbundene Polizeikräfte.

Natürlich war der Grad der Wirksamkeit und Konsequenz der einzelnen Räte sehr unter­schiedlich, und nur eine Minderheit tastete die Staatsbürokratie und das Privateigentum an Produktionsmitteln an. Aber so gut wie alle wirkten im Interesse der Verbesserung der Lebenslage der Werktätigen, der Erweiterung der demokratischen Rechte und Freiheiten der Massen.

Alles in der Novemberrevolution Errungene ist in dieser oder jener Weise mit dem Wirken der Rätebewegung verbunden. Sie versetzte dem reaktionären Obrigkeitsstaat mit seinem antidemokratischen bürokratischen Apparat einen schweren Schlag und realisierte ein in Deutschland bis dahin nicht dagewesenes Maß an Demokratie.

Wie sehr sich die durch die Revolution bewirkten tatsächlichen Veränderungen in den Gren­zen des Allgemein-Demokratischen bewegten, mochten sie auch in Erklärungen verbal dar­über hinausgehen, zeigte mit aller Deutlichkeit der vom 16. bis 21. Dezember 1918 in Ber­lin tagende 1. Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands. Von seinen 489 Delegierten gehörten 291 der SPD an und nur 90 der USPD (unter ihnen 10 Mitglieder des Spartakusbundes). Die SPD nutzte ihre komfortable absolute Mehrheit rücksichtslos, um auf die Stabilisierung des bürgerlichen Staates gerichtete Beschlüsse durchzusetzen. Mit großer Mehrheit wurde beschlossen, am 19. Januar 1919 Wahlen zur Nationalver­sammlung durchzuführen. Bis dahin sollte nicht nur die vollziehende, sondern auch die ge­setzgebende Gewalt beim Rat der Volksbeauftragten liegen. Dem neugewählten Zentralrat wurde nur ein vages parlamentarisches Kontrollrecht eingeräumt. Ihm gehörten nur SPD-Mitglieder an, da die USPD aus Protest gegen deren ständige Majorisierung sich verwei­gert hatte. Ein Beschluss, der die Regierung beauftragte, sofort mit der Sozialisierung der dafür reifen Industriezweige zu beginnen, hatte keinerlei praktische Konsequenzen, son­dern diente lediglich der Täuschung und Ablenkung. Eine unerwartete Niederlage erlitten die SPD-Führer auf militärpolitischem Gebiet. Der Kongress nahm mit den Stimmen vieler Soldatendelegierter, die sonst mit der SPD stimmten, einen Hamburger Antrag an, der u.a. den Übergang vom stehenden Heer zur Volkswehr, die Wählbarkeit der militärischen Führer und größere Kompetenzen der Soldatenräte vorsah. Insgesamt aber stärkte der Kongress die konterrevolutionären, auf die Stabilisierung des bürgerlichen Staates gerich­teten Positionen und stellte damit einen Wendepunkt der Revolution dar.

Vom Spartakusbund zur KPD

Der Spartakusbund, zu dem sich die Spartakusgruppe am 11. November 1918 konstituier­te, [6] hatte vor dieser Entwicklung gewarnt. In seiner von Rosa Luxemburg verfassten und am 14. Dezember veröffentlichten Programmschrift »Was will der Spartakusbund?« hatte er die konsequente Entscheidung der Machtfrage in den Mittelpunkt gerückt und die Be­deutung konkreter Schritte dazu (wie bereits auf der Oktober-Konferenz 1918) unterstri­chen.

Nach den alarmierenden Erfahrungen des Reichsrätekongresses berief die Zentrale des Spartakusbundes am 22. Dezember eine Reichskonferenz ein und forderte zugleich vom Vorstand der USPD die Einberufung eines Parteitages, was mit fadenscheiniger Begrün­dung abgelehnt wurde.

Die Reichskonferenz am 29. Dezember 1918 beschloss die Trennung von der USPD und Konstituierung einer selbständigen Partei und setzte ihre Tätigkeit am nächsten Tage als Gründungsparteitag fort. Noch am 30. Dezember 1918 fasste sie den Beschluss über die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund). Am Gründungspar­teitag nahm eine starke Delegation der Internationalen Kommunisten Deutschlands (eine Vereinigung der Bremer Linken und anderer linksradikaler Gruppen) teil, die am 31. De­zember deren Beitritt zur neugegründeten Partei erklärten.

Der Parteitag nahm die – von Rosa Luxemburg erläuterte – am 14. Dezember veröffent­lichte Programmschrift als Parteiprogramm an. Die Quintessenz ihrer Darlegungen über die Ziele und die Taktik der Partei, deren Rolle als Vorhut der Arbeiterklasse und ihre Aus­einandersetzung mit dem Revisionismus fasste Rosa Luxemburg in der Sentenz zu­sammen: »Wir sind wieder bei Marx, unter seinem Banner.« [7] Sie unterstrich die Bedeutung der Arbeiter- und Soldatenräte als »das einigende Band und das bleibende, das rettende Prinzip« [8] der revolutionären Bewegung. Den antibolschewistischen Attacken rechter und zentristischer Sozialdemokraten hielt sie entgegen: »Wo habt Ihr das Abc Eurer heutigen Revolution gelernt? Von den Russen habt Ihr’s geholt: die Arbeiter- und Soldatenräte ...« [9]

Natürlich vermochte die junge, noch wenig erfahrene Partei nicht alle, in der Regel kompli­zierten, Probleme auf Anhieb optimal zu lösen. So war es ein ernster Fehler, dass der Par­teitag mit großer Mehrheit die von der Zentrale vorgeschlagene – und von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in der Diskussion nachdrücklich unterstützte – Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung ablehnte, statt sie zur Aufklärung der Massen und Entlarvung der konterrevolutionären Politik zu nutzen. Es zeugte von Sektierertum und revolutionärer Ungeduld.

Aber entscheidend war, dass die deutsche Arbeiterbewegung wieder über eine grundsätz­lich klare und auch handlungsfähige revolutionäre marxistische Vorhut verfügte.

Konterrevolution

Die Bilanz des Reichsrätekongresses ermunterte alle konterrevolutionären Kräfte, die Wahlen zur Nationalversammlung in ihrem Sinne effektiv vorzubereiten. Der militärische Überfall auf die Volksmarinedivision in Schloss und Marstall am 24. Dezember 1918 war ein erster blutiger Test. Die USPD reagierte lediglich passiv – durch ihren Austritt aus dem Rat der Volksbeauftragten und der preußischen Regierung. Im Rat der Volksbeauftragten wurden die hinausgeekelten Halblinken durch Noske und Wissell ersetzt und das dubiose Gremium nannte sich fortan nur noch »Reichsregierung«.

Dadurch alles andere als abgeschreckt, konzentrierten Hindenburg/Groener immer mehr Truppen um und auch in Berlin, und Ebert/Scheidemann beeilten sich, die nächste Provokation zu liefern. Die nur noch von der SPD getragene preußische Regierung maßte sich an, den vom Berliner Arbeiter- und Soldatenrat eingesetzten Polizeipräsidenten, den angesehenen linken USPD-Politiker Emil Eichhorn, durch einen Mann ihres Vertrauens zu ersetzen. Alle Kräfte links von Ebert/Scheidemann/Noske – Berliner Arbeiter- und Sol­datenrat, revolutionäre Obleute, USPD, KPD – protestierten gegen den frechen Gewaltakt, Hunderttausende demonstrierten und es kam – was vorauszusehen war und kommen soll­te – zu bewaffneten Auseinandersetzungen, den Berliner Januarkämpfen. Noske wurde »Oberbefehlshaber in den Marken« (eine Funktion aus der Kaiserzeit) und gab den von Hin­denburg/Groener unter der Firma »Vorläufige Reichswehr« formierten Terrorbanden freies Schussfeld. Ihr Massaker übertraf bei weitem den vom preußischen Militär unter dem Kommando des »Kartätschenprinzen« 1848/49 ausgeübten Terror. Seine prominentesten Opfer waren Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg – ermordet von einem Offiziers­kommando der Garde-Kavallerieschützendivision, Noskes Elitetruppe.

Derartige Operationen wiederholten sich im Februar 1919 in Bremen, im März wieder in Berlin, im April/Mai in Bayern und im ganzen Frühjahr 1919 im Rhein-Ruhr-Gebiet. Unter der Reichsregierung Ebert/Scheidemann wurde Bürgerkriegsführung gegen Volksmassen zu einer »normalen« Regierungsmethode.

Die am 19. Januar durchgeführten Wahlen zur Nationalversammlung brachten das zu er­wartende Ergebnis. Die SPD erhielt 37,9 Prozent der Stimmen und 163 Mandate, die USPD 7,6 Prozent und 22, die als Koalitionspartner der SPD in Frage kommenden gemäßigten bürgerlichen Parteien (Zentrum und Deutsche Demokratische Partei) 36,9 Prozent und 166 von insgesamt 421 Mandaten. Für USPD und SPD waren 13.826.338 Stimmen abgegeben worden, für alle anderen (d.h. die bürgerlichen) Parteien 15,658.377. Hinter der dann in der Tat zustande gekommenen »Weimarer Koalition« von SPD, Zentrum und DDP standen 329 von 421 Ab­geordneten. Die Nationalversammlung wählte Ebert zum Reichspräsidenten und stellte Scheidemann an die Spitze der Regierung.

Die neue Reichsregierung der Weimarer Koalition setzte im Interesse einer Stabilisierung der bürgerlichen Staatsmacht den seinerzeit vom Rat der Volksbeauftragten eingeschlage­nen, auf dem 1. Reichsrätekongress im Dezember sozusagen »prinzipiell« begründeten so­zialdemagogischen Kurs fort, indem sie von der Rätebewegung durchgesetzte soziale Verbesserungen sanktionierte und z.B. das bereits erwähnte »Sozialisierungsgesetz« verab­schiedete. Dennoch war das ganze Frühjahr 1919 – und noch darüber hinaus – von mäch­tigen Streikbewegungen erfüllt, und die Rätebewegung war trotz der ihr zugefügten bluti­gen Aderlässe keineswegs in sich zusammengefallen.

Im Januar 1919 kam es in Bremen zur Errichtung der ersten Räterepublik auf deutschem Boden. Erst Anfang Februar konnte sie – der Berliner Januar machte Schule! – militärisch niedergeschlagen werden. Noch bemerkenswerter war die Bayerische Räterepublik, ent­standen im April und niedergeschlagen Anfang Mai 1919. Sie vermochte eine schlagkräfti­ge Rote Armee zu formieren, die mehrere Wochen erfolgreich operierte und die bayeri­schen Reaktionäre zu Paaren trieb. Zerschlagen wurde sie durch ein mehrfach überlege­nes Aufgebot preußischer Noske-Truppen. Wie viel Lebenskraft der deutschen Rätebewe­gung innewohnte, zeigte sich auch darin, dass im Kampf gegen den Kapp-Putsch im März/April 1920 vielerorts die Räte reaktiviert wurden und eine wichtige Rolle spielten.

Mit der Liquidierung der Bayerischen Räterepublik ging die deutsche Novemberrevolution zu Ende. Versuchen wir eine Bilanz. Von ihrer Bedeutung, dem, was sie erreichte, war be­reits die Rede.

Dass es trotz aktiven, oft heroischen Wirkens vieler Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter und anderer Werktätiger nicht gelang, die bürgerlich-junkerliche Reaktion entscheidend zu schlagen, sie aus ihren staatlichen Machtpositionen zu vertreiben, ihre ökonomischen Machtgrundlagen zu beseitigen, hatte fatale Auswirkungen. Der 1918/19 nicht ent­machtete deutsche Imperialismus und Militarismus, der seit 1924/25 sichtlich erstarkte, konnte schon 1926/27 seine expansiven und antidemokratischen Machtansprüche anmel­den, sie 1929 geradezu herausschreien, 1930 ein profaschistisches Präsidialregime, 1933 eine offene faschistische Diktatur installieren, 1938 zur Eroberung anderer Länder über­gehen und 1939 den Zweiten Weltkrieg entfesseln. Und seit 1948/49 so weitermachen, als hätte es diese Geschichte nicht gegeben. 1945 war oft die Rede von Grundfehlern von 1918, die nicht wiederholt werden dürften. Im Westen Deutschlands wurden sie wieder­holt!

Im Rahmen dieser katastrophalen Entwicklung erwies sich insbesondere der als »neutral« ausgegebene staatliche Machtapparat in seinen diversen Sparten als eine wahre »Büchse der Pandora«. Auch daraus wurden keine Konsequenzen gezogen; selbst die personellen Kontinuitäten wurden gewahrt – wie nach 1918/19, so nach 1945/1949.

Die Klage über die mangelnde Einigkeit, das Gegeneinander der verschiedenen Richtungen der Arbeiterbewegung 1918/19 ist geradezu ein bedingter Reflex. Über die Ursachen dafür wird weniger gesprochen: die Bindung an bestimmte, miteinander unvereinbare, ja gegensätzliche Klassenpositionen. Wie sollten sich denn Luxemburg mit Ebert, Liebknecht mit Noske »einigen«? Das Problem des Zusammenwirkens der verschiedenen Strömungen, Abteilungen ist viel komplizierter als oft angesprochen, auch in Abhängigkeit von Zeit und Ort differenzierter zu sehen. Wunschdenken hilft da nicht weiter. Schlüsse für gegenwärti­ges Handeln setzen eine sehr konkrete, differenzierende Analyse voraus.

Wichtige Lehren für die Gegenwart und Zukunft vermitteln die Auseinandersetzungen in­nerhalb der revolutionären Arbeiterbewegung 1918/19. Die Entgegensetzung der Organi­sation und Leitung »von oben« und »von unten«, von »zentralistisch« und »basisorientiert«, wie sie etwa Paul Frölich auf der Reichskonferenz bzw. dem Gründungsparteitag vornimmt, ist unrealistisch und von der Geschichte widerlegt und bewährt sich heute genau so wenig wie vor 100 oder vor 90 Jahren. Und mit anarcho-syndikalistischen Ansätzen in der Orga­nisations- bzw. Gewerkschaftsfrage ist es nicht anders.

 

Anmerkungen:

[1] Vorwärts, 24. September 1918.

[2] Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Reihe II: 1914-1945, Bd. 2, Berlin 1957, S. 229.

[3] Ebenda, S. 233.

[4] Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 3, Berlin 1966, S. 487/488.

[5] Ebenda, S. 488/489.

[6] Zur Gründung der KPD und ihrer Vorgeschichte erscheint im nächsten Heft der Mitteilungen ein spezieller Beitrag, weshalb hier nur knapp auf diesen Gegenstand eingegangen wird. – d. Vf.

[7] R. Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 494.

[8] Ebenda, S. 497.

[9] Ebenda, S. 498.

 

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