Mit Clara Zetkin die Gegenwart meistern und die Zukunft gewinnen!
Prof. Dr. Heinz Karl, Berlin
Wir haben in diesen Tagen doppelten Anlass, einer der größten und wirkungsvollsten Persönlichkeiten der deutschen und der internationalen sozialistischen und kommunistischen Bewegung zu gedenken – Clara Zetkins. Vor 90 Jahren, am 20. Juni 1933, vollendete sich ihr kampferfülltes und an richtungsweisenden Erkenntnissen von großer Tragweite so reiches Leben. Fast genau zehn Jahre zuvor, am 23. Juni 1923, vor nunmehr 100 Jahren, hatte sie dem III. Erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) die erste spezifische, zusammenfassende Analyse des sich herausbildenden Faschismus und die von ihr vorgeschlagene Orientierung zu dessen Bekämpfung unterbreitet.
»Das Proletariat hat im Faschismus einen außerordentlich gefährlichen und furchtbaren Feind vor sich. Der Faschismus ist der stärkste, der konzentrierteste, er ist der klassische Ausdruck der Generaloffensive der Weltbourgeoisie in diesem Augenblick« [1], begann sie ihren Bericht. Mit dieser Charakteristik des Klasseninhalts und der sozialen Triebkräfte des Faschismus bestimmte sie den wichtigsten seiner grundlegenden Wesenszüge.
Dann wandte sie sich gegen einen einseitigen Blick auf den für ihn zweifellos kennzeichnenden Terror, etwa seine Identifizierung mit dem konterrevolutionären Horthy-Regime in Ungarn. Der Faschismus sei erfolgreich, weil er seinen brutalen Terror mit hemmungsloser sozialer Demagogie kombiniere: »ein scheinrevolutionäres Programm, das außerordentlich geschickt an die Stimmungen, Interessen und Forderungen breitester sozialer Massen anknüpft« [2]. Als dritten allgemeinen Wesenszug faschistischer Politik und Ideologie erfasste sie den für diese typischen extremen Nationalismus und die Verherrlichung des bürgerlichen Staates in seinen autoritären Formen.
Von besonderer Bedeutung ist ihre Charakteristik der Massenbasis des Faschismus. Das »ist nicht eine kleine Kaste, sondern es sind breite soziale Schichten, große Massen, die selbst bis in das Proletariat hineinreichen« [3] – große Teile des Kleinbürgertums und der Intelligenz, der Bauernschaft, der Angestellten- und Beamtenschaft, des Militärs, deklassierte Elemente aus allen Bevölkerungsschichten. Diese äußerst heterogene Zusammensetzung verschleierte den Klassencharakter des Faschismus und komplizierte seine politische Bekämpfung.
Clara Zetkin lenkte das Augenmerk auf den offenkundigen Widerspruch von Klassenfunktion und Massenbasis des Faschismus als dessen Achillesferse, die durch eine kluge Bündnispolitik gegenüber den Mittelschichten, insbesondere auch der Intelligenz, getroffen werden kann [4]. Der Kampf gegen den Faschismus war für sie »eine der stärksten Triebkräfte, die zum Zusammenschluß und zur Stärkung der proletarischen Einheitsfront führen muß. Ohne Einheitsfront ist es unmöglich, daß das Proletariat die Selbstverteidigung mit Erfolg durchführt.« [5] Und sie konkretisierte: »Den Anfang zum organisierten Selbstschutz des Proletariats haben wir in Deutschland gemacht mit der Organisierung der Betriebshundertschaften.« [6]
Bei all ihren Betrachtungen ging Clara Zetkin von der Einsicht aus: »Der Faschismus ist eine internationale Erscheinung, darüber sind wir uns alle einig.« [7] Zugleich musste sie – im Juni 1923, anderthalb Jahre nach Mussolinis Putsch – der Tatsache Rechnung tragen: »Das klassische Beispiel für die Entwicklung und das Wesen des Faschismus ist bis heute Italien« [8] – was sie sehr gründlich tat und was allgemeine Zustimmung fand.
Sie sprach unumwunden aus, dass (nach Italien) der aufkommende Faschismus »bis jetzt wohl seine stärkste und festeste Position in Deutschland errungen« [9] hat. »Hier haben der Ausgang des Krieges und das Versagen der Revolution seine Entwicklung begünstigt. ... In Deutschland ist die Wirtschaft infolge des verlorenen Krieges, der Reparationslasten, des Versailler Vertrages außerordentlich zerrüttet. Der Staat ist in seinen Grundlagen erschüttert. Die Regierung ist schwach, ohne Autorität, ein Spielball in den Händen der Stinnes und Konsorten.« [10]
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Clara Zetkin ist den von ihr am 23. Juni 1923 entwickelten Gedanken stets treu geblieben und hat in ihrem Sinne gehandelt. Sie kämpfte im Sommer und Herbst 1923 für die Realisierung von Arbeiterregierungen, nach Möglichkeit Arbeiter-und-Bauern-Regierungen, als Formen des Übergangs zu sozialistischen Machtorganen und unterstützte in Sachsen, Thüringen und anderen Regionen die darum Ringenden. Die 66-Jährige nahm leidenschaftlichen Anteil an den nach dem Scheitern der revolutionären Bewegungen von 1923 entbrennenden Auseinandersetzungen um deren Sinn und Lehren. Notwendiger Kritik an opportunistischen Schwankungen durchaus aufgeschlossen, wandte sie sich insbesondere auf dem V. Kongress der KI 1924 und den ihm vorausgehenden und folgenden Beratungen des EKKI 1924 bis 1927 und auf den Parteitagen und Konferenzen der KPD in diesen Jahren entschieden gegen sektiererische Enge, pseudolinkes Abenteurertum und dogmatische Beschränktheit. Konsequent verteidigte sie die bereits erarbeiteten Übergangsformen zur sozialistischen Revolution gegen die Angriffe von Dogmatikern. Leidenschaftlich bekämpfte sie Tendenzen der Passivität, besonders wenn sie durch pseudoradikale Phrasen bemäntelt wurden.
Sie nahm hervorragenden Anteil an der Stabilisierung bereits bestehender und Bildung neuer proletarischer, antifaschistischer und antikolonialistischer Massenorganisationen und gehörte zu ihren ältesten, erfahrensten und aktivsten Funktionären. Typisch für sie war die enge Verbindung von politisch-organisatorischer und ideologisch-theoretischer Aktivität.
Zu einem Höhepunkt ihres antifaschistischen Wirkens gestaltete Clara Zetkin am 30. August 1932 die Eröffnung des am 31. Juli neugewählten Reichstags. Als ältestem gewählten Mitglied stand es ihr zu, das Parlament als Alterspräsidentin zu eröffnen, und die 75-jährige – gesundheitlich äußerst labile – Kommunistin war entschlossen, diese politische Chance für die KPD (die ihr bisher bestes Wahlergebnis erzielt hatte) wahrzunehmen. Ihre Worte entsprachen dem Ernst der Situation. »Die politische Macht hat zur Stunde in Deutschland ein Präsidialkabinett an sich gerissen, das unter Ausschaltung des Reichstags gebildet wurde und das der Handlanger des vertrusteten Monopolkapitals und des Großagrariertums und dessen treibende Kraft die Reichswehrgeneralität ist.« [11] Obwohl es demagogisch das Gegenteil verspreche, würde es die Ausbeuterinteressen noch rigoroser zu Lasten der Massen durchsetzen; deshalb: »Ehe der Reichstag Stellung nehmen kann zu Einzelaufgaben der Stunde, muß er seine zentrale Aufgabe erkannt und erfüllt haben: Sturz der Reichsregierung, die den Reichstag durch Verfassungsbruch vollständig zu beseitigen drängt.« [12] Aber, so betont Zetkin: »Der Sturz der Regierung im Reichstage kann nur das Signal sein für den Aufmarsch und die Machtentfaltung der breitesten Massen außerhalb des Parlaments.« [13]
Ihre Rede mündete in den Appell: »Das Gebot der Stunde ist die Einheitsfront aller Werktätigen, um den Faschismus zurückzuwerfen, um damit den Versklavten und Ausgebeuteten die Kraft und die Macht ihrer Organisationen zu erhalten, ja sogar ihr physisches Leben. Vor dieser zwingenden geschichtlichen Notwendigkeit müssen alle fesselnden und trennenden politischen, gewerkschaftlichen, religiösen und weltanschaulichen Einstellungen zurücktreten. Alle Bedrohten, alle Leidenden, alle Befreiungssehnsüchtigen gehören in die Einheitsfront gegen den Faschismus und seine Beauftragten in der Regierung!« [14]
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Clara Zetkins Aktivitäten und Erfahrungen vor einem Jahrhundert sind keineswegs tote Vergangenheit, sondern auch gegenwärtig und künftig von größtem Interesse. Faschistische und faschistoide bzw. potentiell faschistische Tendenzen und Organisationen verschwinden nicht, sondern existieren, ja breiten sich aus.
Solange es imperialistische Gesellschaftsstrukturen, Interessen und Praktiken gibt, wird es auch tendenziell faschistische Projekte geben, nicht nur provozierend offene, sondern auch »sozial« oder »national« (»heimatlich«) getarnte Phänomene.
Eine wichtige Folgerung aus den Erfahrungen Clara Zetkins ist es, dass das Ringen um Verbesserungen im Rahmen des Kapitalismus differenziert zu bewerten ist. Faule Kompromisse mit dem Großkapital führen früher oder später, so oder so zum Abgleiten auf bürgerliche Positionen, zum Sichabfinden mit dem Kapitalismus.
Denken und Handeln Clara Zetkins sind beispielgebend dafür, welche entscheidende Rolle bei der Orientierung und Führung des Kampfes gegen faschistische Regime und Gefahren im Geiste von Marx und Lenin handelnden revolutionären Parteien zukommt: Nach engster Verbindung mit möglichst breiten Massen strebend, ohne ihre klaren marxistischen, antikapitalistischen Konturen zu verlieren. Eine elastische Bündnispolitik betreibend, die auch Kompromisse einschließen kann, ohne ihr sozialistisches Endziel aus dem Auge zu verlieren. Mit aller Kraft Aktionen anstrebend, ohne in kleinbürgerlichen »Avantgardismus« oder Abenteurertum zu verfallen.
Es ist nicht nur interessant (bis spannend), Clara Zetkin zu studieren. Es ist notwendig.
Anmerkungen:
[1] C. Zetkin: Aus ausgewählten Reden und Schriften, Bd. II, Berlin 1960.
[2] Ebenda, S. 699.
[3] Ebenda, S. 690.
[4] Vgl. Ebenda, S. 719 u. 725/726.
[5] Ebenda, S. 728.
[6] Ebenda, S. 727.
[7] Ebenda, S. 721.
[8] Ebenda, S. 699.
[9] Ebenda, S. 721.
[10] Ebenda.
[11] Ebenda, Bd. III, S. 414.
[12] Ebenda, S. 415.
[13] Ebenda, S. 416.
[14] Ebenda, S. 418.
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