»Meinst Du, die Russen wollen Krieg?« (Auszug)
Prof. Dr. habil. Herbert Meißner, Oranienburg
Diese Frage hat Jewgeni Jewtuschenko in seinem eindrucksvollen Gedicht diesen Titels überzeugend beantwortet. Ich hatte die Möglichkeit, gemeinsam mit ca. 1000 Zuhörern in Moskau den Dichter seine Verse vortragen zu hören. Begeisterte Zustimmung war gemischt mit großer Nachdenklichkeit. Die Nachdenklichkeit galt dem Umstand, dass nach dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion und den ungeheuren Opfern der Sowjetunion in der Welt immer noch Zweifel daran existieren und systematisch verbreitet werden – siehe Russophobie –, wie die gestellte Frage zu beantworten sei.
Übrigens: diese Verse wurden 1961 erstmals veröffentlicht und sind heute in 20 Sprachen zu lesen.
Allerdings hatte ich zu dieser Zeit bereits eine Entwicklung durchlaufen, die mich zum »Russenversteher« machte. Dies erfolgte durch eine Reihe von Begegnungen mit Russen, die mein Weltbild schrittweise veränderten.
Das begann im April des letzten Kriegsjahres, als ich mich als 17-jähriger Wehrmachtsangehöriger mit meiner Einheit freiwillig in russische Kriegsgefangenschaft begab. Was taten die Rotarmisten als erstes mit uns? Sie ließen uns antreten, Kochgeschirre bereithalten und führten uns an eine große Feldküche mit heißer Erbsensuppe. Ein russischer Dolmetscher stand daneben und wiederholte ständig: Langsam essen, sonst krank, gaaanz langsam!
Hier begann mein bisheriges Weltbild zu bröckeln!
Zweite Begegnung: Im zum Gefangenenlager umfunktionierten KZ Auschwitz- Birkenau, wo wir zu Aufräumungsarbeiten eingesetzt waren, bekam ich im Sommer 1945 Gelbsucht. Im Lagerlazarett mit sauberer Wäsche und relativ guter Verpflegung wurde ich von einem russisch-deutschen Ärzteteam gesund gepflegt. Bei der letzten Visite eines deutschen Stabsarztes und einer deutschsprechenden russischen Oberärztin sagte der Deutsche: Wollen wir nicht dem Jungen (ich sah aus wie 15) noch ein paar Tage Ruhe geben? Die Russin lächelte und sagte: Lassen wir ihn noch 10 Tage hier.
Mein Weltbild verschob sich weiter!
Dritte Begegnung: Im September 1945 befahl die Lagerleitung alle Deutschen unter 18 Jahre auf den Appellplatz zur Registratur. Am nächsten Tag erklärte der Kommandant: Die Sowjetunion führt nicht Krieg gegen Kinder. Alle Registrierten besteigen die bereitstehenden Güterwaggons, fahren nach Frankfurt/Oder und erhalten dort Entlassungspapiere. In Frankfurt wurden wir entlassen, fuhren nach Hause und standen am Beginn eines neuen Lebens.
Mein Weltbild erhielt einen weiteren Schub!
Vierte Begegnung: Als ich nach meinem Hochschulstudium im September 1952 mit einer kleinen Studiengruppe zur weiteren Ausbildung an der Universität Leningrad eintraf, waren die Kriegswunden dieser Stadt noch nicht verheilt. Zerstörte Wohnviertel waren noch nicht wieder aufgebaut und die zerbombten Elektrizitäts- und Wasserwerke waren noch nicht völlig funktionstüchtig. Es gab keine Familie, die nicht durch Kriegshandlungen, Hunger und Kälte Verluste erlitten hat. Anna Reid hat dies in ihrem Buch »Blokada – Die Belagerung von Leningrad 1941–1944« eindrucksvoll geschildert. In diese, von der faschistischen Kriegsmaschine gebeutelten Stadt, kamen wir als erste junge Deutsche. Und was passierte?
Trotz allgemeiner Wohnungsnot erhielten wir Zimmer in einem Studentenheim am Ufer der Newa mit Blick auf die Eremitage und Wassilewskij Ostrow. [...]
Die leidgeprüften Leningrader begegneten uns Deutschen anfangs mit kritischer Aufmerksamkeit, die sich rasch zu großzügiger Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft entwickelte. Wenn wir im Lebensmittelladen hilflos in der Schlange standen, kam stets jemand und erklärte: Du musst erst an die Warentheke und auswählen, dann zur Kasse und bezahlen und mit dem Kassenbon zur Verkäuferin. Oder wenn wir im vollbesetzten Bus oder in der Straßenbahn mühsam versuchten, zur Lösung des Fahrscheins zum Fahrer vorzudringen, wurden wir freundlich belehrt, dass hier das Fahrgeld von Hand zu Hand nach vorn geht und Fahrschein mit Wechselgeld auf gleichem Wege zurückkommen. Keine Kopeke ging auf diesem Weg verloren.
Apropos Bahn und Bus: in keinem der vielen gesehenen Länder habe ich soviel junge wie alte Leute mit einem Buch auf den Knien lesend bewundert. Der Hunger nach Bildung und Wissen aller Art war außergewöhnlich und ging quer durch die ganze Bevölkerung.
Auch über die Universität hinaus knüpfte ich Bekanntschaften, die von gegenseitigem Vertrauen geprägt waren. Dadurch erhielt ich auch mehrfach Hinweise auf die innenpolitischen Probleme der Sowjetunion. Dies war lange Zeit gegenüber Ausländern tabu. Erst nach Stalins Tod 1953 lockerte sich dies und ich erfuhr Dinge, die mich erschütterten. Später setzte ich mich damit ausführlich auseinander, z. B. in meinen Büchern über Trotzki und über »Gewaltlosigkeit und Klassenkampf«. Dies erwähne ich hier nur, um nicht einseitiger Nostalgie bezichtigt zu werden. [...]
Meine Studienaufenthalte und privaten Kontakte beschränkten sich nicht auf Leningrad und Moskau. Ich lernte die schönsten Städte der UdSSR kennen wie Odessa und Taschkent sowie Samarkand und Buchara mit ihrer fantastischen osmanischen Architektur. Nach Kursk wurde ich vom dortigen »Haus der Wissenschaften« zu Vorträgen eingeladen. Im Kursker Kriegsmuseum wurde mir die im Modell nachgestellte Panzerschlacht am Kursker Bogen, die bekanntlich nach Stalingrad die endgültige Wende im II. Weltkrieg herbeiführte, erklärt.
Diese Beziehung zu den Wissenschaftlern in Kursk entstand aus einer Studienreise, die ich als Vorsitzender der Berliner Bezirksorganisation der URANIA zu unserer Partnerorganisation SNANIJE in Moskau machen konnte. Auch dabei entstanden viele freundschaftliche Beziehungen und mein Kontakt mit Kursk hält bis heute an.
Als ich mit einer kleinen Delegation von Alma-Ata (heute Astana) aus tief in der kasachischen Steppe eine Woche bei Nomaden in ihrer Jurte lebte, fühlten wir uns alle wie Brüder. Dabei wurde mir die Ehre zuteil, das aus einem gekochten Ochsenkopf herausgelöste große Ochsenauge auf einem Suppenlöffel mit einem Schluck herunter zu schlürfen. Nur sofortige Sto Gramm Wodka konnten das Ochsenauge daran hindern, aus meinem Magen den Rückweg anzutreten. Danach haben wir gemeinsam russische und deutsche Volkslieder gesungen.
All das bestimmt unzerstörbar mein Verhältnis zu den Russen und ihre befreundeten mittelasiatischen Nachbarn. Das können auch die Vorgänge unter Stalins Herrschaft einerseits sowie die Russenfeindlichkeit des heutigen politischen und journalistischen Mainstreams andererseits nicht ändern.
Der Beitrag »Meinst Du, die Russen wollen Krieg?« wurde zusammen mit dem ebenfalls von Herbert Meißner stammenden Text »Russophobie – was ist das?« in dem im Oktober 2017 erschienenen 28. Informationsblatt der Kommunistischen Plattform der Partei DIE LINKE des Landes Brandenburg komplett veröffentlicht. Zugleich erschienen beide Artikel in der Schriftenreihe der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V. (GBM).
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