»Meinst Du, die Russen wollen Krieg?«
Ellen Brombacher, Berlin
Beitrag auf der Veranstaltung »Das Fanal von Stalingrad« am 19. Februar 2018 im Münzenberg-Saal des Berliner nd-Gebäudes
Anlässlich des 75. Jahrestages des sowjetischen Sieges in Stalingrad wurde der Militärhistoriker Prof. Söhren Neitzel am 2. Februar 2018 im ZDF-Morgenmagazin interviewt. Er sagte u.a.: »Als Hitlers 6. Armee schließlich … kapitulierte, waren dem Wahnsinn auf beiden Seiten fast 700.000 Menschen zum Opfer gefallen.« Eine unfassbare Formulierung.
Doch es kommt noch schlimmer. Die Deutschen, so Neitzel, gingen kritischer mit ihrer Geschichte um, als die Russen. Die hätten auch aus Stalingrad vieles aus kritischer Perspektive zu berichten. Und dann wörtlich: »Sie haben den deutschen Vormarsch im Blut ihrer eigenen Leute ertränkt.« Das ist unglaublich.
Die Deutschen führten erklärtermaßen gegen die Sowjetunion einen Vernichtungskrieg. Aber nicht die Faschisten tränkten 2.000 km verbrannter Erde mit dem Blut von 27 Millionen sowjetischen Menschen. Nein – die Sowjetunion selbst hat das getan.
Ich bin dankbar, dass ich 30 Jahre meines Lebens in einem Staat verbrachte, in dem die Anerkenntnis deutscher Schuld für den mörderischen II. Weltkrieg zur Staatsräson gehörte. Ebenso wie die Erziehung zum Frieden und zur Völkerfreundschaft, vor allem mit den Völkern der Sowjetunion. Und das war nicht auf partei- und regierungsamtliche Reden beschränkt. Es gehörte zu unserem Alltag.
Vor ein paar Jahren sprach mich eine Frau auf der Straße an. »Du wirst Dich nicht an mich erinnern. Ich war Mitglied des Freundschaftszuges 1969 nach Moskau, den Du geleitet hast. Spät abends kehrten wir von einem Ausflug nach Moskau zurück. An den Panzersperren, die markieren, wie nah die Deutschen Moskau gekommen waren, ließest Du den Bus halten. Du hieltest eine kurze Rede, was aus der Welt geworden wäre, wenn die Faschisten nicht gestoppt und besiegt worden wären. Das vergesse ich nie und die können mir heute über die Russen erzählen, was sie wollen.«
1977 fand in Wolgograd das deutsch-sowjetische Jugendfestival statt. Das erste Mal nach dem Krieg kam eine so große Anzahl Deutscher in die Stadt. Wie würde das werden? Nicht nur wir sorgten uns, auch die sowjetische Seite. Nie habe ich bei einer Demonstration durch ein Spalier so viele bewegte Menschen gesehen, vor allem Ältere mit Tränen in den Augen. Aber das bewegendste waren die scheinbar kleinen Episoden. Zwei davon: Drei Berliner FDJler gehen abends noch einmal zum Mamajew-Hügel, um sich die Gedenkstätte in Ruhe anzusehen. Doch der Eingang ist verschlossen. Der Wachhabende, ein alter Mann, die Brust voller Orden, kommt aus seinem Häuschen, fragt nach dem Begehr, schließt auf und geht mit ihnen gemeinsam in die Halle des Ruhms. Anschließend lädt er die jungen Deutschen zum Tee ein und sie reden die halbe Nacht.
Ein Mädchen aus unserer Delegation hatte von der Mutter den Auftrag, den guten, scharfen russischen Senf mit zu bringen. Im Laden, im dem sie fragt, ist der gerade nicht vorrätig. Eine Wolgograderin nimmt unsre FDJ-lerin beim Arm, nimmt sie mit in ihre Wohnung, gibt ihr ihren Senf und bewirtet sie wie eine gute Bekannte.
Und eine letzte Episode. In Odessa komme ich in ein Reisebüro und frage diejenige am Schluss der Schlange, ob sie die letzte sei. Die Frau zuckt mit den Schultern und sagt bedauernd auf Deutsch, sie spräche leider kein russisch. Wir lachen. Sie erzählt, vor fünf Jahren habe sie hier eine Schiffsreise mit ihrem Mann gemacht und ein russisches Ehepaar kennengelernt. Dieses Ehepaar hätte sie und ihren Mann vor der Abreise in die DDR in ihre Wohnung eingeladen. Bei denen zu Hause seien Nachbarn und Freunde gewesen, die Tische waren voll und die Stimmung herzlich. »Wissen Sie«, sagte sie zu mir, »ich war ein begeistertes BdM-Mitglied und habe auch nach dem Krieg kaum über unsere Schuld nachgedacht. Doch plötzlich, 25 Jahre später, begriff ich, was wir diesem Volk angetan haben und weinte. Meine sowjetische Bekannte, die alles verstand, legte mir den Arm um die Schulter und sagte: ›Nicht weinen. Wir sind doch jetzt Freunde.‹«
Es gab hunderttausende, wenn nicht gar Millionen solcher Episoden. Und davon ist etwas geblieben. Hier im Osten verstehen sehr viele das Lied »Meinst Du, die Russen wollen Krieg«. Tun wir gemeinsam alles, damit sich im deutsch-russischen Verhältnis die Stimmen der Vernunft wieder durchsetzen.
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