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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Mehr Deng Xiaoping wagen

Moritz Hieronymi, Peking

 

Zum 120. Geburtstag des chinesischen Revolutionärs und Staatsmannes

(22. August 1904 – 19. Februar 1997)

 

Wie ein Krankenhaus war das Flugzeug ausgestattet, das im Dezember 1974 von Peking abhob. An Bord befand sich der schwerkranke Zhou Enlai. Seit geraumer Zeit hatte sich die unheilbare Krebserkrankung ausgebreitet, sodass eine ständige medizini­sche Versorgung notwendig wurde. Trotz seines Zustandes war der Antritt der strapazi­ösen Reise unabdingbar.

In der knapp 1.500 km entfernten Provinzhauptstadt Changsha wartete Mao Zedong, der bereits schwer an der Muskelschwächekrankheit ALS litt. Dem nahenden Tod ent­gegenblickend hatten sich diese beiden Größen der jüngeren chinesischen Geschichte zum letzten Mal gemeinsam zusammengetan, um über die Zukunft ihres Landes zu beraten.

Zu diesem Zeitpunkt befand sich China in einer schweren sozialen und ökonomischen Krise. Nachdem die fanatisierten Roten Garden, die sich in aller Regel aus Studenten und Jugendlichen rekrutierten, je nach Lesart 3 bis 5 Jahre das Land mit einer Proletarischen Kulturrevolution überzogen hatten, musste die Volksbefreiungsarmee mit militärischen Mitteln die Ordnung wiederherstellen. Das öffentliche Leben, wenn es nicht am Boden lag, stand unter der allgemeinen Kontrolle der Armee. Bürgerkrieg oder Militärjunta? Wie sollte die Zukunft Chinas aussehen? Und welche Rolle käme der Kommunistischen Partei zu? – Am Ende der Beratung in Changsha stand ein Name: Deng Xiaoping.

Ein zentrales Ziel, zwei grundlegende Punkte – Chinas Entschlossenheit, am Sozialismus festzuhalten, wird sich nicht ändern. – Deng Xiaoping [1]

    Mit den diesjährigen Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Staatsgründung wird China ein Jahr länger existieren als die Sowjetunion. Unter der Führung der Kommunistischen Partei ist China in umfassendem Sinne zu einer Weltmacht geworden, die technolo­gisch, ökonomisch und militärisch mit den USA gleichauf ist oder sie teilweise überholt hat. Und das in nur 40 Jahren!

    Diese Entwicklung ist untrennbar mit dem Namen Deng Xiaoping verbunden. Dennoch ist er und sein Denken unter westlichen und deutschen Linken in einer Nische gefan­gen: Zwischen Missverständnissen, Verleumdungen oder ordinärer Provinzialität – die Entwicklungen in China nach Maos Tod wurden bis heute unzureichend analysiert und in weiten Teilen nicht verstanden.

    Deng Xiaopings Leben erstreckte sich von der Oktoberrevolution bis zur Restauration Russlands. Als Student der Moskauer Sun-Yat-sen-Universität in den späten 1920er Jahren wurde sein ideologisches Denken durch Lenins und Bucharins Neue Ökonomi­sche Politik (NÖP) geprägt. [2] Jahre später erlebte er als Delegationsleiter der KP Chinas beim XX. Parteitag der KPdSU die von Chruschtschow eingeleitete Entstalinisierungspo­litik. Die praktischen Schlussfolgerungen aus diesen historischen Ereignissen lassen sich in der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik seit 1978 wiederfinden.

    Ein zentrales Ziel, zwei grundlegende Punkte – so definierte die KPCh im Jahr 1987 auf dem XIII. Parteitag ihre Strategie: Um den Sozialismus zu erreichen, bedarf es der politischen und ideologischen Führung der KP [3] unter Beibehaltung der Reform- und Öffnungspolitik.

    Aber je mehr wir den Boden von dem Schutt der alten [Gesellschaft] gesäubert haben, um so klarer ist es für uns geworden, dass dies nur die Ebnung des Bodens für den Bau, aber noch nicht der Bau selber ist. – W. I. Lenin [4]

      Was ist Sozialismus? Der Volkswirt Werner Sombart möchte 260 Definitionsansätze ausgemacht haben. Und in der Tat, Sozialismus ist im Gegensatz zum Kapitalismus und Kommunismus etwas nicht abschließend Eingrenzbares. So schreibt Karl Marx, dass der Kommunismus – dem Sozialismus hatte er noch keine eigenständige Qualität zugesprochen – aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, »[...] also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt.« [5]

      Der Sozialismus ist eine relativ eigenständige sozialökonomische Formation [6], weil er zwischen kapitalistischen und kommunistischen Eigenschaften changiert, ohne kapita­listisch oder kommunistisch zu sein. Demnach ist der Sozialismus nicht nur eine Zustands-, sondern vielmehr eine Entwicklungsbeschreibung, dessen Anfangspunkt kapitalistisch dominiert ist. Die Produktionsverhältnisse müssen für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus hochentwickelt sein.

      Der erste weitreichende Sozialismusversuch in Russland sollte unter den Bedingungen eines halbfeudalen, vorindustriellen Staates stattfinden, indem faktisch die Entwick­lungsphase des Kapitalismus übersprungen wurde. Dieses Unterfangen wurde vom 1. Weltkrieg, von einem als Bürgerkrieg getarnten ausländischen Überfall und von der Ein­führung des Kriegskommunismus mit teils desaströsen sozioökonomischen Folgen begleitet.

      Lenin, der sich einer Hungerkatastrophe gegenübersah, zog die Schlussfolgerung des strategischen Rückzugs. Mit der Einführung der NÖP wurden in einem begrenzten Umfang ausländische Direktinvestitionen erlaubt und Handelsfreiheit sowie Privateigen­tum an Produktionsmitteln wiedereingeführt. Unter wesentlicher Mitwirkung von Nikolai Bucharin [7] etablierte sich eine funktional abgestufte Eigentumsstruktur von Staatsunter­nehmen, Genossenschaften und Privatunternehmungen. Eigentum an Grund und Boden war nicht erwerbbar, sondern wurde verpachtet. Der Handel unterlag bedarfsgerechten Preis- und Verteilungsauflagen, in denen Staatsunternehmen und Genossenschaften bevorzugt wurden. Dieses System folgte zwar größtenteils den ökonomischen Gesetzen des Kapitalismus, war aber staatlicherseits durchdrungen.

      Lenins späte Wirtschaftspolitik war dabei nicht die Abkehr vom Sozialismus. Er stellte sich stattdessen die Frage, ob das Unterbau- und Überbauverhältnis dergestalt sein kann, dass eine kapitalistische Formation hervorgeht, die machtpolitisch enthauptet ist: »[...] [W]ird die proletarische Staatsmacht im Stande sein, [...] die Herren Kapitalisten im Zaum zu halten, um den Kapitalismus in das Fahrwasser des Staates zu leiten und einen Kapitalismus zu schaffen, der dem Staat untergeordnet ist und ihm dient?« [8]

      Wenn die Tür des Käfigs offensteht, fliegt der Vogel davon. Oder der Kapitalis­mus im Vogelkäfig. – Chen Yun

        Deng Xiaoping hatte noch zu Maos Lebzeiten eine weitreichende Reform der Wirt­schaftspolitik eingeleitet. Im Fokus stand zuvörderst nicht die Liberalisierung des Han­dels, sondern der Import von Technologien, die Reform des Universitäts- und Ausbil­dungswesens und die Schaffung von Studentenaustauschen.

        In diesen Jahren entwickelte Deng die Theorie von der primären Phase des Sozialismus. Als Ausgangspunkt werden die ideologischen Auseinandersetzungen in der Sowjet­union genommen. Während Lenin in seiner Spätphase den Entwicklungsprozessen in­nerhalb des Sozialismus große Aufmerksamkeit widmete, begannen unter Stalin und Chruschtschow die Diskussionen zum Übergang in den Kommunismus forciert zu wer­den. Entgegen den sozioökonomischen Realitäten in der Sowjetunion kam es jedoch bis in die 1980er Jahre zu einem kontinuierlichen ökonomischen und technologischen Rück­stand gegenüber den USA. Die UdSSR erwies sich als unfähig, wirtschaftspolitische An­passungen vorzunehmen, und endete in der chaotischen und unverantwortlichen Agenda Gorbatschows, politische Reformen ohne wirtschaftliche Anpassungen einzuleiten. [9]

        »Suche die Wahrheit in den Fakten« wird stattdessen zum Mantra der KPCh – ein Slo­gan, der heute den Eingang der Pekinger Zentralen Parteihochschule schmückt. Der gestrenge Marschall Ye Jianying stellte nach den Wirren der Kulturrevolution 1979 fest: »Verglichen zum kapitalistischen System, welches eine Geschichte von drei- bis vierhun­dert Jahren hat, befindet sich unser Sozialismus erst in den Anfängen.« [10] Die chinesi­schen Kommunisten sind hiermit auf einen Faktor des Denkens zurückgekommen, der im europäischen System eher eine physikalische als philosophische Bedeutung hat: Die Zeit.

        Der Übergang in die Phase des Sozialismus bedeutet nicht das Ende des Kapitalismus. Solange die Produktivkräfte nicht hochentwickelt sind, ist diese Phase durch unter­schiedliche ökonomische Komponenten, einschließlich der Möglichkeit der Bereiche­rung Weniger, unter der Dominanz öffentlichen Eigentums gekennzeichnet. Anders als im Kapitalismus hat der Staat in dieser Phase die ausschließliche Prärogative.

        In dieser langen Phase misst Deng Xiaoping der Modernisierung der Produktionsbedin­gungen und der Sicherung des Staatsmonopols die größte Bedeutung bei. [11]

        Vor der Revolution des Proletariats warfen sie uns Utopismus vor, und nach der Revolution verlangen sie von uns eine fantastisch schnelle Beseitigung der Spu­ren der Vergangenheit. – W. I. Lenin [12]

          Das 6. Plenum des 11. Zentralkomitees der KPCh im Jahr 1981 läutete eine tiefgreifen­de Veränderung in der chinesischen Gesellschaft ein: Wie wollte die KP mit dem Erbe Mao Zedongs umgehen? Die Erfahrung aus Moskau im Umgang mit der Geschichte hat­te sich einerseits als oberflächlich und im Kern als machtpolitisches Manöver herausge­stellt und zugleich einen nicht wieder heilbaren Vertrauensverlust in der europäischen Arbeiterbewegung erzeugt.

          Deng Xiaoping entschied sich für einen langsamen und tiefgreifenderen Weg, um mit den Fehlentwicklungen der Mao-Ära umzugehen. Unter der nicht übersetzbaren Losung »拨乱反正« (sinngemäß: »Die Dinge in Ordnung bringen«) wurden Opfer der Kultur­revolution entschädigt. Die Viererbande, eine Fraktion der KPCh, die unter der Führung der nomi­nellen Ehefrau Maos, Jiang Qing, stand, wurde entmachtet und mit Ausnahme von Jiang hingerichtet. Zugleich wurde die Politik der Kritiklosigkeit [13] gegenüber Mao beendet.

          Als diese Vorarbeit geleistet war, erklärte sich die Partei in der Historischen Resolution des 11. ZK zu ihrer eigenen Vergangenheit. Wer heute dieses Dokument liest, stellt das hohe Niveau und die Tiefe der historischen Analyse fest. Nach den Grundsätzen des historischen Materialismus werden die politischen Entwicklungen im Zusammenhang mit der ökonomischen, sozialen und außenpolitischen Wirklichkeit betrachtet. Die Kritiker Dengs, die hierin den Sieg des Revisionismus sehen wollen, finden keine vulgä­re Abrechnung mit Mao. Dessen Leistungen, insbesondere die Befreiung Chinas vom japanischen Faschismus und der Kuomintang sowie der Aufbau der Volksrepublik, wer­den hervorgehoben und ihm wird ein besonderer und unverrückbarer Platz in der chine­sischen Geschichte eingeräumt. Zugleich werden Fehler, insbesondere die grauenvollen Folgen des Großen Sprungs nach vorn, kritisch diskutiert.

          Die Resolution endet anders als die Geheimrede in der Sowjetunion mit zehn Schluss­folgerungen: 1. Die Entwicklung der Produktivkräfte, 2. Modernisierung der Gesell­schaft und Ökonomie, 3. Aufbau einer Warenwirtschaft, 4. Klassenkampf ist kein gesell­schaftlicher Hauptwiderspruch in China, 5. Beibehaltung des Sozialismus, 6. Sozialis­mus muss hohe ethische und kulturelle Bedingungen etablieren, 7. China öffnet sich der Welt, 8. Modernisierung der Armee, 9. Sicherung des Weltfriedens, 10. Stärkung der Partei durch strenge Revision.

          Scheiße, oder verschwinde vom Pott! – Chinesische Weisheit

            Die Niederlage des sowjetisch geprägten Sozialismus hat die europäische Linke in eine tiefe politische und ideologische Krise gestürzt. Die darauffolgenden Debatten führten zu einer Identitätskrise: Was ist Sozialismus nach dem Sozialismus? Nach der Kompro­missphase während der Restauration haben sich linke Parteien in Europa jedoch struk­turell sozialdemokratisiert, ohne eine strategische Grundlage zu entwickeln, und eine politische Funktionselite hervorgebracht, die Machtpolitik in bürgerlichen Kategorien betreibt. Im Sinne Tucholskys: Sie wollten die Macht und kamen in die Regierung. Die ideologische Auseinandersetzung mit der Machtfrage, ihren strukturellen Verästelungen und ihrer ökonomischen Bedingtheit wurde stattdessen der politischen Rechten über­lassen. Der linke Glaube an die Veränderbarkeit der Gesellschaft wurde von ihnen ins­geheim aufgegeben.

            Die Welt hat sich unterdessen sehr verändert. Die Generaldirektorin der WTO, Ngozi Okonjo-Iweala, stellte fest, dass sich seit dem Aufstieg Chinas die ökonomischen Ver­hältnisse in den Entwicklungsländern spürbar verbessert haben. Zugleich zeigt eine kürzlich veröffentlichte Studie [14] der Universitäten von Cambridge und Edinburgh, dass die Anzahl global agierender Investment-Staatsfonds sich in den letzten 20 Jahren ver­sechsfacht hat. Der chinesische Staat kontrolliert einen globalen Investmentfonds, des­sen Wert über 1 Billion US-Dollar betragen soll. Zugleich nimmt der Anteil an Staatskon­zernen oder Teil-Staatskonzernen an der Weltwirtschaft gravierend zu.

            Das erlaubt keine Schlussfolgerungen hinsichtlich eines nahenden Sozialismus, aber es zeigt, dass das neoliberale Modell in der Mehrzahl der Staaten sich nicht durchgesetzt hat. Was machen wir mit diesen Fakten? Haben wir den Mut, Lenin und Deng Xiaoping zu befragen? Haben wir den Mut, Überlegungen zum Staatskapitalismus anzustellen, oder wollen wir bei mutloser Fixierung auf Regierungsbeteiligungen und historisieren­den Träumereien verweilen?

            Eines der ersten Projekte des Vizepremiers Deng Xiaoping hieß nach dem alten chinesi­schen Ausspruch: »Scheiße, oder verschwinde vom Pott.« Vielleicht wird es Zeit, dass wir mit der strategischen Arbeit endlich beginnen!

             

            Anmerkungen:

            [1] Deng, We must adhere to socialism and prevent peaceful evolution towards capitalism, Selected Works of Deng Xiaoping Vol. III (1982-1992) [Nachdruck 2022], S. 333-334, S. 334.

            [2] Vogel, Deng Xiaoping and the Transformation of China, S. 24-25.

            [3] Genannt die Vier Kardinalprinzipien: Beibehaltung des Sozialistischen Weges, der volksdemokratischen Diktatur, der Führung der KP und des Marxismus-Leninismus und Mao Zedong Denken.

            [4] Lenin, Die große Initiative, in: LW 29, S. 397-424, S. 419.

            [5] Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 13-32, S. 19.

            [6] Göschel, »Sozialismus«, Meyers Kleines Lexikon (1969), Band 3, S. 432.

            [7] Bucharin, Der Weg zum Sozialismus, S. 62-67.

            [8] Lenin, Die Neue Ökonomische Politik und die Aufgabe der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung, in LW 33, S. 42-46.

            [9] Wu/Ding, An Ideological History of the Communist Party of China, Vol. 3, S. 247.

            [10] Ibidem, S. 248.

            [11] Wu, On Deng Xiaoping Thought, S. 110.

            [12] Lenin, Die große Initiative, in: LW 29, S. 397-424, S. 415.

            [13] Genannt: 两个凡是.

            [14] Alami/Dixon, The Spectre of State Capitalism, Oxford Studies (2024), S. 8-9.

             

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