Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Das eurasische Drehkreuz

Moritz Hieronymi, Peking

 

Reise in das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang

 

Über den dicht verzweigten Straßen der Altstadt Macaus ragen die Ruinen der São Paulo-Kirche empor. Diese Jesuitenkirche war einst der Prachtschmuck der portugiesischen Kolonisatoren, die im 16. Jahrhundert die Inseln Taipa und Coloane [1] im Delta des Perl-flusses unter ihre Kontrolle brachten. Anders als die verachtungsvollen Engländer zeichneten sich die Portugiesen unter König Manuel I. durch eine kluge Expansionspolitik aus. Mit Hilfe der Aufnahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen gelang es Portugal nach Jahrzehnten von Verhandlungen, dem chinesischen Kaiserreich die Gebiete des heutigen Macaus abzuringen. Lissabon hatte dieses Gebiet als einen geeigneten Umschlagsplatz für die in Europa begehrten Waren aus Fernost ausgemacht. Um jedem Konflikt mit dem Ming-Kaiser vorzubeugen, wurde das Reich der Mitte angemessen an den profitablen Geschäften beteiligt. Als die Erben des Vasco da Gama im Niedergang begriffen standen, wurden die Zahlungen an das Reich der Mitte spärlicher und blieben irgendwann ganz aus – dennoch hielten die Portugiesen an ihrem Pachtland fest.

Von der einstigen Größe der portugiesischen Krone ist heute neben dem im Manuelinik-Stil errichteten Kolonialviertel und dem barocken Portal der São-Paulo-Kirche, welche während eines Brandes zerstört wurde, wenig übriggeblieben. Das Fatum der Geschichte hat ausgerechnet die Krypta der vormals größten katholischen Kirche in China unbeschadet belassen. Ein brachialer Glasbau führt heute in die Katakomben, wo die Gebeine christlicher Märtyrer, meist chinesischer Provenienz, der Öffentlichkeit zur Schau gestellt werden.

Zurecht könnte sich der Leser fragen, wieso dieser Beitrag über die zentralasiatische Region Xinjiang an einem der südlichsten Punkte der Volksrepublik China beginnt. Bietet es sich von Macau nicht eher an, Überlegungen über die keine 1000 km entfernte Insel Taiwan, die die Portugiesen Formosa – die Schöne – tauften, anzustellen? Welche Rolle kommt Xinjiang zu, wenn sich die Strategen aus Washington und Peking doch längst die Hohe See als Schlachtfeld einer möglichen Konfrontation ausgemacht haben?

Als im Jahr 1999 Macau der Volksrepublik China übergeben wurde, endete nicht nur eines der letzten Kolonialregime der Welt, sondern auch die Herrschaft des weißen Mannes über China. Seither verschieben sich die geopolitischen Kräfteverhältnisse mit gravierenden Folgen. Selbst der für den BRD-Mainstream jenseits jeden Zweifels stehende Politologe, Herfried Münkler, kam kürzlich zu dem Schluss: diejenigen, »[…] die glaubten, die bisherige Weltordnung sei wiederherstellbar, lägen falsch.« [2] Die US-Hegemonie hat ihr Ende erreicht, während sich eine alternative Ordnung noch nicht herauskristallisiert hat. Die Folgen sind Friktionen in den verbliebenen internationalen Institutionen und Konflikte, denen vermehrt mit militärischen Mitteln begegnet wird.

Dieses Interim ist durch eine Konfrontationsgefahr zwischen Washington und Peking geprägt, weswegen dem indo-pazifischen Raum eine herausgehobene Bedeutung zuge­messen wird. Dennoch scheint eine direkte Konfrontation der beiden Supermächte auf­grund der unkontrollierbaren Risiken gegenwärtig unrealistisch. So hatte der einstige US-Generalstabschef, Milley, darauf hingewiesen, dass die Folgen eines US-amerikanisch-chi­nesischen Krieges, selbst wenn der unwahrscheinliche Fall des gegenseitigen Verzichts auf den Einsatz nuklearer und biochemischer Waffen eintrete, allein aufgrund der dichtbesie­delten Pazifikregionen in den USA und China katastrophal wären. [3]

Stellt man sich in Washington eigentlich die Frage, wie es zur einer solch unkomfortablen Lage gegenüber China kommen konnte? Mehr als 50 Jahre, nachdem US-Präsident Nixon Mao Zedong besuchte, ist der letzte Veteran und Architekt der US-Annäherung an die Volksrepublik China, Heinrich – genannt Henry – Kissinger, gestorben. Nur wenige der Gäs­te seiner Totenmesse werden daran Anstoß genommen haben, dass dieser Mann die Ermordung hunderttausender Zivilisten in Lateinamerika und Asien zu verantworten hatte – weniger als die Kritiker daran, dass seine China-Politik dem Aufstieg des Reichs der Mitte erheblichen Vorschub leistete. Während die Sowjetunion bereits unter der ideologischen und wirtschaftlichen Sklerose der Breschnew-Ära litt, verfolgten damals die USA die alte Weisheit: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Dabei hatte doch schon Napoleon gewusst: »China ist ein schlafender Löwe, lasst ihn schlafen! Wenn er aufwacht, wird er die Welt verrücken!« Nunmehr stehen die USA vor der Aufgabe, den von ihnen kitzlig gemach­ten Löwen zu bezwingen, indem sie einen beispiellosen Wirtschafts- und Medienkrieg füh­ren.

Währenddessen steht China vor gravierenden Herausforderungen. Erstmalig in ihrer Geschichte muss die Pekinger Führung sich zu einer Generation verhalten, bei der die eige­ne Karriere Vorrang vor der Gründung einer Familie hat. Die Gesamtbevölkerung schrumpft. Zugleich wächst die Zahl der 25 Millionen Muslime innerhalb der Volksrepublik, die einer der 10 islamischen Minderheiten angehören. Die westlichen Nachbarn Chinas erleben derweilen ein nationalistisches Aufbegehren, von dem die Proteste von 2022 in Kasachstan erst der Beginn waren. »Xinjiang wird dir noch Kopfschmerzenbereiten«, warn­te einst Stalin seinen chinesischen Konterpart, Mao Zedong.

Über dreißig Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion und beim gegenwärtigen Siech­tum der USA – der agonischen Phase der alten Welt – bereiten sich die asiatischen Anwär­ter auf ihre neuen globalen Aufgaben vor. Mag es den politischen Eliten in Washington, Brüssel und Moskau gewahr werden, wenn sie einen Blick auf die ruinöse São-Paulo-Kirche in Macau werfen, dass jedem Großen ein kläglicher Niedergang vorherbestimmt ist.

In den Fernen Westen Chinas

Das Zugpersonal schaute irritiert, als sie den Wei Guo Ren [4]in der Schlange zur Ticketkon­trolle für den Zug nach Ürümqi [5] sahen. Im Vorfeld hatten chinesische Freunde wenig begeistert auf meinen Plan reagiert, in das Uigurisch Autonome Gebiet Xinjiang zu reisen. Zu weit weg, Kommunikationsschwierigkeiten, vielleicht nicht ungefährlich oder kurz und knapp: Was willst du da? Die Ergänzung, ich würde den Zug nehmen, ließ die Gegenüber an meinem Verstand vollends zweifeln. Schließlich würde die Zugreise von 2.800 km Strecke nicht nur über 30 Stunden dauern, sondern weckte auch traumatische Erinnerungen: Im Jahr 2014 war es in der Hauptstadt der Südprovinz von Yunnan, Kunming, zu einem Terror­anschlag gekommen. Neun Personen hatten im Zentralbahnhof Fahrgäste mit Macheten angegriffen. Während dieses Massakers starben 31 Menschen, 143 wurden verletzt. [6] Die Festgenommenen, darunter zwei Frauen, von denen eine im Begriff stand, Mutter zu wer­den, waren Uiguren, die sich dem heiligen Jihad angeschlossen hatten. [7] Kunming war nur der Kulminationspunkt einer Serie von Anschlägen des uigurisch geprägten Islamismus. Zwischen 1990 und 2016 kam es zu mehreren tausend Terroranschlägen, bei denen das Massaker von Ürümqi mit 197 Toten und über 1.700 Verletzten hinsichtlich der Opferzahlen und der Brutalität den traurigen Höhepunkt darstellte. [8]

Der Passagierzug war ausgebucht. Die überwiegende Anzahl der Mitreisenden war schwer bepackt; die braun-gegerbte Haut wies auf einen Arbeiterhintergrund hin. Diese in den westlichen Medien als »Wanderarbeiter« Bezeichneten sollen entrechtet und teilweise ver­sklavt ihrem Schicksal ausgeliefert sein. Dabei unterschlagen dieselben Medienanstalten, dass sich in den letzten 9 Jahren die chinesischen Durchschnittsreallöhne verdoppelt ha­ben. [9] Ebenso fehlt jede Berichterstattung über die Abkehr vom quantitativen und die Hin­wendung zum qualitativen Wirtschaftswachstum seit dem 19. Parteitag der Kommunisti­schen Partei Chinas. Die Konsequenzen dieser Beschlüsse wurden sichtbar, je weiter der Zug ins Landesinnere zog. In den Provinzen Shanxi und Shaanxi [10] hatten die Kleinstädte ihren Charme aus der Mao-Ära noch nicht verloren. Die beigefarbenen Mietskasernen, die sich in den Mittelgebirgslandschaften drängten, waren in die Jahre gekommen. Unweit die­ser kümmerlichen Siedlungskomplexe entstanden neue Wohnviertel; entlang der Bahn­strecke ragten 20-stöckige Gebäude in die Landschaft. Diese im Entstehen begriffenen Stadtviertel werden plangemäß an das Autobahn- und Bahnnetz angeschlossen; neue Krankenhäuser, Schulen und Stadien entstehen.

Zum Spätnachmittag füllte sich der Speisewagen. Entgegen der unzumutbaren Versorgung der Deutschen Bahn wurde hier frisch gekocht und ein überraschend schmackhaftes Mahl serviert. Zum Essen gab es Bier und die Flachmänner des beliebten Hirse-Schnaps »Roter Stern« gingen herum. Die Stimmung war ausgelassen. Ein junger Mann aus Tianjin bot sich mir als Übersetzer an. Dieser stammte aus einer Han-Familie, die seit der dritten Genera­tion in Xinjiang lebte. Der Großvater wurde nach seiner Demobilisierung am Ende des Korea-Krieges in die Westregion versetzt. Dieses Schicksal trägt eine große Anzahl chinesi­scher Korea-Veteranen, die zu den Pionieren der uigurischen Provinz werden sollten. [11] Bei­spielhaft steht hierfür das Großprojekt der über 2.000 km langen Lanzhou-Schienenlinie durch den Hexi-Korridor [12], wodurch Peking mit der uigurischen Hauptstadt Ürümqi verbun­den wurde. Heldenhafte Leistungen bei Temperaturen von bis zu minus 30 Grad im Winter und über 40 Grad im Sommer.

In diesen Zeiten hatte es aber auch hinsichtlich der Nationalitätenpolitik weitreichende Veränderungen gegeben. Nach Jahrhunderten rassistischer Diskriminierung der Minderhei­tenvölker von Xinjiang hatte Mao Zedong die Pekinger Funktionäre zum Ende des Han-Chauvinismus aufgefordert. [13] Die Kaderpolitik der regionalen KP-Organisationen wurde angepasst und die Provinzministerien mit Angehörigen der unterschiedlichen Volksgruppen besetzt. Prominentestes Beispiel ist der uigurische Separatist und Bildungsminister der kurzlebigen zweiten ostturkestanischen Republik [14], Saifudin (Seypidin Aziz), der in die Rei­hen der KP aufgenommen und mit ministerialen Funktionen ausgestattet wurde.

Geostrategisches Experimentierfeld

Zum 70. Geburtstag des Generalissimus Josef Stalin reiste Mao Zedong mit einer uiguri­schen Delegation nach Moskau. Der Grund für diese Zusammensetzung der Delegation ist heute fast in Vergessenheit geraten, er sollte vergessen werden.

In den 1930er Jahren, während des Höhepunkts des chinesischen Bürgerkriegs, schloss die sowjetische Firma Sovsintorg [15] mit der lokalen Regierung von Xinjiang einen Kreditver­trag zur Finanzierung von Infrastruktur, zur Erschließung unterschiedlicher Ressourcen, zum Bau von Militäreinrichtungen und Krankenhäusern in Höhe von 5 Millionen Rubel ab. [16] Zugleich erhielt Sovsintorg exklusive Rechte, die entsprechenden Investitionen zu tätigen. Der Ausbau eines Netzes von Niederlassungen und sowjetischen Handelsvertretungen wurde nötig und führte dazu, dass die Sowjetunion de facto administrative Befugnisse in allen Städten in Xinjiang ausübte [17]

In den folgenden Jahren erzeugte die Parallelität zwischen sowjetischen und lokalen Struk­turen ein Machtvakuum in Ürümqi. Rassistische Übergriffe gegen die Minderheiten und soziale Unruhen führten zum Ausbruch der Hami-Rebellion. [18]

Nachdem sich die Rebellen gegen sowjetische Einrichtungen und Staatsbürger richteten, sah sich Moskau veranlasst, militärisch zu intervenieren. Mit Unterstützung der Kuomintang, den Feinden der Kommu­nistischen Partei Chinas, ging die Sowjetunion siegreich aus dem Konflikt hervor und bilde­te mit den Nationalisten ein informelles Kondominium über Xinjiang. Ab Mitte der 1930er Jahre verloren die Chinesen zusehends an Einfluss über die Region. Die Sowjetunion hatte ihre wirtschaftliche Potenz in Xinjiang genutzt, um direkten Einfluss auf politische Ent­scheidungen zu nehmen. Beispielhaft steht hierfür die Berufung von Stalins Schwager, A.S. Svandze, zum Wirtschaftsberater in Ürümqi, der wesentlich den ersten 3-Jahresplan beein­flusste. [19]

Ab 1940 verfolgte die UdSSR eine mehrgleisige Strategie: Zum einen unterstützte sie die offizielle nationalistische Lokalregierung unter Sheng Shicai. Andererseits alimentierte die Sowjetunion separatistische Bewegungen bei der Errichtung der Zweiten Republik Osttur­kestan. [20] Dieses Vabanquespiel führte zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

Mit der Niederlage der Kuomintang gegen die Kommunisten in den Jahren 1948-49 erhob Mao Zedong Ansprüche auf Xinjiang. Eine KP-Delegation sollte in der selbsternannten Republik Ostturkestan über die Wiedereingliederung in China verhandeln. Dazu kam es nicht mehr. Ein Hinterhalt der Kuomintang forderte den Tod aller Delegierten. Unter den Opfern war der kommunistische Diplomat Mao Zemin, der jüngere Bruder des Staatsgrün­ders der Volksrepublik China. [21]

Das sowjetische Katz-und-Maus-Spiel sollte erst enden, als Mao Zedong der UdSSR exklu­sive Abbaurechte für Erdöl, Uran- und Beryllium-Erze in Xinjiang zubilligte. Ein Handel, der äußerst nachteilig für das von Kriegen geschundene China ausfiel. [22]

Es mag deshalb kein Wunder gewesen sein, dass die erste und einzige persönliche Zusam­menkunft zwischen den beiden Titanen, Mao und Stalin, zum Geburtstag des Letzteren unterkühlt verlief. Stand im Fokus der Gespräche wohl die Rückgabe der von der Sowjet­union beherrschten Erzminen. [23] Erst Ende der 1950er Jahre wurden die Verbindungsbüros der Firma Sovsintorg endgültig geschlossen. Zuvor war es zu einem Eklat zwischen Mao und Chruschtschow gekommen, als Letzterer fragte, ob Mao wirklich die Sowjetunion als roten Imperialisten betrachte. Die Antwort, die weder in das eindimensionale Schema mancher Linken noch bürgerlicher Historiker passt, lautete: »Da war ein Mann namens Sta­lin, der nahm uns Port Arthur und verwandelte Xinjiang und die Mandschurei in Halbkolonien […]. Das waren alles seine guten Taten.« [24] Jahrzehnte später, mit der Öffnung der sowjeti­schen Archive, sollte sich herausstellen, dass selbst nach der Gründung der Volksrepublik China die Sowjetunion ihre Rauminteressen über Xinjiang nicht aufgegeben hatte. [25] So war bis zu Stalins Tod in Planung, den Bürgern von Xinjiang vereinfacht die sowjetische Staats­bürgerschaft zu erteilen sowie die Ressourcenausbeutung produktiver voranzutreiben.

Die Geschichte lebt

Am Morgen des nächsten Tages fuhr der Zug in die bezirksfreie Stadt Jiuquan in der Pro­vinz Gansu ein. Die letzte Station vor Xinjiang befindet sich in einer Halbsteppen-Land­schaft. Jiuquan hat internationale Berühmtheit erlangt, seit hier ein Kosmodrom errichtet wurde, von dem die Mehrzahl der Shenzhou-Raketen für den Bau einer chinesischen Raum­station gestartet wird. Während die Touristenscharen das chinesische Baikonur bestaun­ten, nutzte ich den Kurzstopp, um die Grabstätte des legendären Heerführers Huo Qubing zu besuchen.

Um 100 v. u. Z., während der westlichen Han-Dynastie, litt das kurzzeitig zweigeteilte chi­nesische Reich unter wiederholten Überfällen und Brandschatzungen durch die Xiongnu, die mutmaßlichen Vorgänger der Hunnen. Der junge General Huo hatte entgegen allen militärischen Doktrinen mithilfe einer Nadelstichtaktik – kurze Vorstöße und Terrorisierung der Zivilbevölkerung – die Barbaren wirksam eindämmen können. Dieses unkonventionelle Denken bezog der autodidaktische Militär auch auf die in China sakrosankte Familie, die er erst gründen wollte, wenn das Kaiserreich gesiegt habe. Eine Anekdote, die in die chinesi­schen Annalen einging und bezeichnend für die Aufopferungsbereitschaft der Chinesen ist.

Die Grabstätte für den an der Pest verstorbenen General war mit einem kitschigen Denk­mal aus Sandstein versehen, das den Geehrten in der Mitte von Soldaten und Bauern zeig­te. Der martialisch aussehende Huo machte zwischen den ergebenen Blicken des Volkes einen anachronistischen Eindruck. Vielleicht war es auch die Sorge um das Kommende. Schließlich wurden aus den Barbaren-Stämmen die Horden, aus deren Wurzeln die Kriegs­herren Dschingis Khan und Tamerlan entstammten. Da vermochte es nicht einmal die Gro­ße Mauer, zu verhindern, dass sich im Jahr 1271 der Mongole Kublai Khan zum chinesi­schen Kaiser ausrufen ließ. Aufgrund der Verwandtschaft des Kublai Khans mit dem Herr­scher des Tschaghatai-Khanats [26] wurde Xinjiang faktisch aufgegeben. Erst 500 Jahre spä­ter hatte der Qing-Kaiser Qianlong erfolgreich die Gebiete zurückerobert.

Seither gehört die Region ununterbrochen zu China. Die islamisch geprägte Bevölkerung besteht aus Uiguren, Kasachen, Kirgisen, Hui, Mongolen, Xiben, Russen, Tadschiken, Usbe­ken, Tataren, Manchu und Dachuren [27]. Die Uiguren stellen, anders als behauptet, keine ethnische Einheit dar. Der ethnonymische Begriff »Uigure« war eine von den Chinesen ver­wendete Fremdbezeichnung für verschiedene Stämme in Zentralasien. [28] Es galt als strittig, ob es sich bei den Uiguren um eine ethnische oder politische Zugehörigkeit handelte. Die­se Zweifel wurden erst 1921 auf dem Ersten Gesamttürkischen Kongress in Taschkent beseitigt. Auf Druck Sowjetrusslands wurde damals unter Bezugnahme auf Stalins Natio­nalitätenpolitik den Uiguren der Volkscharakter zugebilligt. Dabei erscheint es äußerst fragwürdig, worin sich die Uiguren wegen ihres Taranqi-Dialektes von den anderen Erben der Köktürken unterscheiden sollen.

Vor dem Himmlischen Gebirge

Mit der Einfahrt in die autonome Provinz verändert sich die Landschaft schlagartig. Nun­mehr ist die schon vorher kahle Steppe einer Wüste gewichen. Ausschließlich der schmale Korridor zwischen den tibetischen und mongolischen Plateaus macht die Durchfahrt in der ansonsten lebensfeindlichen Umgebung möglich. Die 10-stündige Fahrt durch diese Mond­landschaft und durch endlose Baumwollplantagen endete in der Provinzhauptstadt Ürümqi. Die Gebirgslandschaft des Tian Shan (Himmelsgebirge) erstreckte sich unweit der uiguri­schen Metropole und schaffte ein beeindruckendes Panorama. Dieser Gebirgszug trennte das Reich der Mitte von der einstigen Sowjetunion.

In der kleinen Provinzhauptstadt, wie mein Taxifahrer seine Heimatstadt bezeichnete, leben 1,6 Millionen Menschen. Der erste Eindruck hinterlässt ein positives Bild von einer modernen und sauberen Stadt, die sich hinsichtlich ihrer Quirligkeit kaum von den Provinz­städten des Südens unterscheidet. Mit dem Besuch des Großen Basars änderte sich mein Eindruck. Dieser war zu einer Touristenmeile verkommen, auf dem an Ständen überteuer­ter Nippes dargeboten wurde, wobei, zu meiner Überraschung, das händlertypische Feil­schen verpönt war.

In dieser sino-orientalischen Kulisse stach ein Militärcheckpoint hervor. Auf einem gepan­zerten Fahrzeug standen zwei Han-Soldaten, die im Anschlag ihre Typ-95-Maschinenge­wehre mit aufgepflanztem Bajonett hatten. Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft, wie es einem deutschen Fernsehteam in den Fingern gejuckt hätte, dieses Bild in der Totalen aufzunehmen. Dabei erinnerten diese schmächtigen Soldaten eher an die Wachmann­schaften vom Platz des Himmlischen Friedens. Im Allgemeinen erschienen die Sicherheits­vorkehrungen zu denen in Peking identisch. Beschränkungen oder gar Kontrollschikanen hatte ich zu keinem Zeitpunkt zu erdulden. Im Gegenteil. Auf dem Internationalen Flugha­fen von Ürümqi fiel mir ein laxer Umgang mit den Sicherheitsvorkehrungen auf – obwohl zu diesem Zeitpunkt die 19. Asienspiele in Hangzhou stattfanden.

Die endlose Steppe

Nachdem sich das kleine Passierflugzeug über den Tian Shan gemüht hatte, erstreckte sich die endlose Steppe der zentralasiatischen Republik Kasachstan unter uns. Ich erinner­te mich an ein Gespräch mit einer chinesischen Rechtsanwältin, die auf meine Frage, ob Taiwan im Vergleich zu Xinjiang nicht das kleinere Problem sei, mit Unverständnis antwor­tete: »Wir hatten immer Probleme in dieser Region, aber wir haben es jedes Mal wieder hinbekommen. Xinjiang gehört zu China.« In der Sowjetunion wird man wohl nicht minder selbstbewusst über die zentralasiatischen Republiken gesprochen haben, deren islamo-na­tionalistische Wiederbelebung mit großrussischer Überheblichkeit abgetan wurde. Dabei ist Xinjiang aufgrund seiner geographischen Lage, des Ressourcenreichtums und der mili­tärischen Bedeutung eine der Schlüsselregionen im eurasischen Großraum. Mithin von strategischer Wichtigkeit für Vereinigten Staaten von Amerika.

Im Jahr 2018 hatte Oberst a.D. Lawrence Wilkerson, ehemaliger US-Stabschef in Afghani­stan, während einer Vorlesung im Ron Paul Institute eingeräumt, dass einer der drei Haupt­gründe der Afghanistan-Besetzung – an Xinjiang angrenzend – in der Eindämmung der Volksrepublik China bestand. [29] Da diese Strategie jedoch nicht aufgegangen sei, müsse China, so Lawrence, von innen statt außen destabilisiert werden. Dafür könnte die CIA Unruhen unter den Uiguren organisieren, um Druck auf Peking zu erzeugen. Nach diesem Affront waren die westlichen Medien darauf bedacht, die Aussagen des Obersts als bedau­erliche Einzelmeinungen oder gar als Pekings Fake-News abzutun. [30] Selbstverständlich bediente sich die veröffentlichte Meinung dafür leidenschaftlich des Vorwurfs der Ver­schwörungstheorie. Gleichzeitig blieb die Berichterstattung über Vorkommnisse in Xinjiang augenfällig tendenziös. Grundsätzlich werden dortige Polizeimaßnahmen als unbegründet dargestellt und mit Nazi-Methoden gleichgesetzt, [31] während uigurische Terroristen als sol­che nicht benannt bzw. in Anführungszeichen gesetzt werden.

In Anbetracht dieser geopolitischen Lage fragt sich, ob die schwadronierenden »Experten« in Washington, London, Brüssel oder Berlin sich überhaupt im Klaren sind, was sie mit ihrer verantwortungslosen Politik anrichten. Ist ihnen denn nicht bewusst, dass sie die Lunte an ein Pulverfass halten, welches die gesamte Welt ins Chaos stürzen könnte?

 

Anmerkungen:

[1] Zwei Inseln, auf denen sich das Territorium Macaus erstreckt.

[2] Redaktion, Politologe Herfried Münkler sieht die bisherige Weltordnung am Ende: Europa muss lernen, sich in der neuen zu behaupten, Deutschlandfunk, 17.1.2024, abrufbar: www.deutschlandfunk.de/politologe-herfried-muenkler-sieht-die-bisherige-weltordnung-am-ende-europa-muss-lernen-sich-in-der--100.html [18.1.2024].

[3] Redaktion, How to Avoid a Great-Power War, Foreign Affairs Podcast, 2.5.2023, abrufbar: www.foreignaffairs.com/podcasts/how-to-avoid-great-power-war-mark-milley [10.1.2024].

[4] 外国人 – den Menschen außerhalb der Heimat – »Ausländer«.

[5] Ürümqi (ch. Wulumuqi Shi, veralt. Urumtschi), Provinzhauptstadt von Xinjiang.

[6] Pach, Horrific Knife Attack in China Leaves 33 Dead, The Diplomat, 2.3.2014, abrufbar: thediplomat.com/2014/03/horrific-knife-attack-in-china-leaves-33-dead/ [19.1.2024].

[7] The Associated Press, China executes 3 over last year’s mass knife attack at Kunming train station, The Global and Mail, 24.3.2015, abrufbar: www.theglobeandmail.com/news/world/china-executes-3-over-last-years-mass-knife-attack-at-kunming-train-station/article23589510/ [19.2.2024].

[8] Botschaft der VR China in Deutschland, Tatsachen über Xinjiang, November 2020, abrufbar: de.china-embassy.gov.cn/det/zt/7c/202011/P020210702032696293785.pdf [19.1.2024].

[9] Vgl. Huld, China’s Average Wages – Trends and Implications for Businesses, China Briefing, 15.8.2023, abrufbar: www.china-briefing.com/news/average-salaries-in-china-trends-and-implications-for-businesses/ [18.1.2024].

[10] Shanxi und Shaanxi befinden ich in der Landesmitte und sind sehr ressourcenreich. Ein Großteil der Bevölkerung sind Arbeiter und Bauern, die die Grundlagenerzeugnisse für die reicheren Ostregionen produzieren.

[11] Clarke, Xinjiang and China’s Rise in Central Asia – A History, 2011, S. 61.

[12] Der »Hexi-Korridor« ist ein schmaler, langgestreckter Landstreifen in Xinjiang, China, zwischen dem Kunlun-Gebirge im Süden und dem Tian Shan-Gebirge im Norden. Der Begriff »Hexi« bedeutet »westlich der Pässe« und bezieht sich auf die historische Bedeutung als Durchgangsroute entlang der Seidenstraße. Diese Region spielte eine zentrale Rolle als Handels- und Kulturweg während der historischen Seidenstraßen-Ära, aufgrund seiner strategischen Lage als Hauptverbindungsweg zwischen China und dem westlichen Teil des Kontinents.

[13] Clarke [Fn. 11].

[14] Die Zweite Ostturkestanische Republik erstreckte sich geografisch über den Nordwesten der Region Xinjiang. Diese unabhängige Republik, die von Uiguren und anderen muslimischen Gruppen beansprucht wurde, existierte von 1944 bis 1949.

[15] Sowjetisch-Xinjiang Handelsgesellschaft; hierzu: Noris, Gateway to Asia: Sinkiang, Frontier of the Chinese Far West, 1944, S. 68.

[16] Hasani, Soviet Policy in Xinjiang, 2021, S. 5.

[17] Vgl. Politburo des ZK der Allunionistische Partei der Sowjetunion, »Zu Xinjiang«, 8. Juni 1934, RGASPI, f. 17, 1.93, in: Hasanli, Soviet Policy in Xinjiang, S. 37.

[18] Hami-Rebellion – soziale Aufstände in der Region Hami (Kumul), später die großen Teile von Xinjiang – von 1931 bis 1934 führten zur Unabhängigkeitsbewegung unter Führung verschiedener Sufi-Orden.

[19] Fn (13), S. 64.

[20] Wang, Preservation, Prosperity and Power: The Yining Incident. Ethnic Conflicts and International Rivalry in Xinjiang, 1944-1949, 1999, S. 60 f.

[21] Starr, Xinjiang: China’s Muslim Borderland, 2004, S. 81.

[22] Li, The Soviet Grip on Sinkiang, Foreign Affairs, April 1954, Vol. 32 (3), S. 491 – 503, S. 500.

[23] Ibidem.

[24] Zubok, The Mao-Krushchev Conversation, Cold War International History Project Bulletin, 12/13, 2001, S. 254.

[25] Liu, A Decade in Sino-Soviet Diplomacy, Diaries of Liu Zerong, 2023, S. 973.

[26] Das Tschaghatai-Khanat war ein zentralasiatisches Khanat, das im 13. Jahrhundert gegründet wurde und ein Teil des Mongolischen Reiches war. Es erstreckte sich über Teile Zentralasiens.

[27] Benson/Svanberg, China’s Last Nomads, 1998, S. 99-100.

[28] Fn. [13], S. 63.

[29] McAdams, What Is The Empire’s Strategy?, Ron Paul Institute, 22.8.2018, abrufbar: ronpaulinstitute.org/what-is-the-empires-strategy-col-lawrence-wilkerson-speech-at-rpi-media-war-conference/ [19.2.2024]. Ganzes Video der Rede: Youtube, What Is The Empire’s Strategy? – Col Lawrence Wilkerson Speech at RPI Media & War Conference, 2018, www.youtube.com/watch [19.1.2024].

[30] Vgl. Chik, China state media claim Xinjiang conspiracy hidden in old video retired US colonel, South China Morning Post, 26.3.2021.

[31] Vgl. Human Rights Foundation, What’s Happening In China’s Concentration Camps?, 13.4.2023, abrufbar:

hrf.org/whats-happening-in-chinas-concentration-camps-qa-with-uyghur-camp-survivors/ [19.1.2024].

 

Mehr von Moritz Hieronymi in den »Mitteilungen«: 

2024-01: Kriegsgefahr in Südamerika

2023-12: Der rote Himmelssohn

2023-12: Menschenrechte weiterdenken