Leningrad dem Erdboden gleichmachen
Dr. Wolfgang Biedermann, Berlin
Im September vor 80 Jahren begann die fast 900 Tage währende Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht und ihre Satelliten als Teil des geplanten Völkermords an der sowjetischen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Dieser Artikel basiert auf digitalisierten Quellen (vor allem von Wehrmachtsdokumenten) aus russischen Archiven, die in den letzten Jahren im Rahmen des »Deutsch-russischen Projekts zur Digitalisierung deutscher Dokumente in Archiven der Russischen Föderation«[1] im Internet publiziert worden sind und an deren Bearbeitung die Föderale Archivagentur (Rosarkhiv) beteiligt ist.
Gemäß dem »Unternehmen Barbarossa« sollte der »Koloss auf tönernen Füßen« binnen weniger Monate zerbröselt am Boden liegen, die bedeutenden Metropolen Leningrad und Moskau ausradiert. Der Chef des Generalstabes des Heeres, Halder, notierte kurz nach dem vertragsbrüchigen Überfall am 08.09.1941: »Führer betont grundsätzlich, dass er Moskau und Leningrad dem Erdboden gleich machen wolle.«[2] Die taktische Orientierung des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), dass sowjetische Städte »vor der Einnahme durch Artillerie und Luftangriffe zu zermürben sind und ihre Bevölkerung zur Flucht zu veranlassen ist«[3], erfuhr hinsichtlich Leningrads eine Modifizierung. In der »Weisung 35 für die Kriegführung«[4] vom 06.09.1941 orientierte Hitler auf die vollständige Einkreisung der Stadt, um vor allem bestimmte schnelle Kontingente für den Ansturm auf Moskau (»Taifun«) freizusetzen.
Die völlige Einkesselung Leningrads blieb jedoch Wunschdenken. Der Wehrmacht gelang es nicht, die Garnison auf der in der Newamündung gelegenen Insel Schlüsselburg aufzureiben und die Verbindung zum Ladogasee zu durchschneiden. Die Festung hielt über 500 Tage stand und sicherte die berühmte »Straße des Lebens«.[5] Das OKW unterrichtete die Seekriegsleitung, welche auf die Inbesitznahme der Leningrader Werften und Hafenanlagen spekuliert hatte: »Der Führer ist entschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden verschwinden zu lassen. Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse an dem Fortbestand dieser Großsiedlung […] Es ist beabsichtigt, die Stadt eng einzuschließen und durch Beschuss mit Artillerie aller Kaliber und laufendem Lufteinsatz dem Erdboden gleichzumachen […] Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung […] besteht unsererseits nicht.«[6]
Die Wehrmachtstruppen verschanzten sich 4 bis 7 km vom Standrand entfernt, und der Beschuss mit schwerer Artillerie und die Bombardements nahmen an Intensität zu. Die Artillerie feuerte insgesamt 150.000 Granaten auf die Stadt und es fielen mehr als 107.000 Brand- und Sprengbomben.[7] Vornehmliche Ziele waren neben der Schwerindustrie Einrichtungen der Infrastruktur wie Elektrizitätswerke, Fernwärmeerzeugung, Wasserversorgung, Nahrungsmittellager, Brennstoffdepots, Krankenhäuser, Schulen. Der Roten Armee gelang es zunächst nicht, den Blockadering zu sprengen.
»Wir müssen Verhältnisse schaffen, die unserem Volk gestatten, sich zu vermehren, die Vermehrung der Russen aber einzudämmen.«
So Hitler in einem seiner berüchtigten Monologe, gehalten im Führerhauptquartier. Eines dieser Verhältnisse bestand im Nahrungsmittelentzug der sowjetischen Bevölkerung zugunsten der deutschen Versorgung. Das wirtschaftliche Auspowern besetzter sowjetischer Gebiete folgte einem Plan, der bereits im Vorfeld von »Barbarossa« erste Konturen erhielt. Als (wirtschaftliche) Ergänzung zum »Unternehmen Barbarossa« wurde im Februar 1941 der »Wirtschaftsstab z.b.V. Oldenburg« gebildet.[8] Der Beauftragte des Vierjahresplanes, Göring, übernahm auf Geheiß Hitlers dessen Vorsitz. Dieser Stab figurierte als oberste Zentralstelle im Gebiet von »Barbarossa« und ihm oblag die maximale »wirtschaftliche Ausnutzung«.[9] Unterstellt waren ihm 5 Wirtschaftsinspektionen, 23 Wirtschaftskommandos und 12 Außenstellen, die im rückwärtigen Heeresgebiet wirkten. Primär diente er Bedürfnissen der Wehrmacht in besetzten Gebieten der UdSSR und weiter der »Heimatfront«. Dort, im »Kernreich«, sollte niemand spüren, dass ein wohl länger dauernder Krieg die Versorgung mit Lebensmitteln beeinträchtige und somit demoralisierend wirke.
Hierzu verordnete Göring am 16.09.1941 ganz im Sinne der Stärkung des kriegswirtschaftlichen Potenzials eine Rangfolge bei der Versorgung mit Nahrungsgütern. Vorrang haben erstens die kämpfenden Einheiten, die Verbände in den besetzten Gebieten und ferner die »Heimattruppe«, zweitens die deutsche nichtmilitärische Bevölkerung und drittens die Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Zum 3. Punkt eine weitere Erläuterung, die den Nahrungsmittelentzug betonte: »Grundsätzlich sollen in den besetzten Gebieten nur diejenigen in der entsprechenden Ernährung gesichert werden, die für uns arbeiten. Selbst wenn man die sämtlichen übrigen Einwohner ernähren wollte, so könnte man es in den neubesetzten Gebieten nicht.«[10]
Ein Jahr später (01.12.1942), die deutsche Wehrmacht sah dem Stalingrader Fiasko entgegen, forderte der Reichsmarschall erneut: »… aus den besetzten Ostgebieten [sind] für Truppe und Reich mit nachhaltiger Wirkung möglichst hohe landwirtschaftliche Überschüsse herauszuwirtschaften. In jedem Falle haben die Erfordernisse der Kriegsernährungssicherung von Truppe und Heimat den Vorrang vor örtlichen Versorgungswünschen.«
Für das Gros der verbliebenen Bevölkerung im besetzten Gebiet bedeutete das Herauspressen eines Maximums an Lebensmitteln die weitere Eskalation des Hungers. Waren auf dem Lande noch eher Möglichkeiten zur Selbstversorgung gegeben, so fehlten jene in den Großstädten völlig.
Verhungern, erfrieren, siechen …
Die Heeresgruppe Nord hatte am 08.09.1941 die Stadt Schlüsselburg erobert und vollendete die Einschließung insofern, da Leningrad nunmehr über keine Landverbindung zum sowjetischen Hinterland verfügte. Nördlich von Leningrad hatten sich finnische Truppen der Stadt angenähert.
Bereits vor Beginn der Blockade war die Nahrungsmittelsituation akut geworden. Die vorhandenen Vorräte reichten allenfalls für wenige Wochen, sodass augenblicklich deren strenge Rationierung erfolgte. Dem allgegenwärtigen Hunger der nicht evakuierten Bevölkerung fielen sukzessive die Haustiere zum Opfer, Katzen und Hunde verschwanden aus dem gewohnten Stadtbild.[11] Nahrungsmittel gelangten hauptsächlich über den vereisten Ladogasee in die Millionenstadt. Die dünne »Nabelschnur«, die unter dem Bombardement und dem Beschuss der Wehrmacht lag, ermöglichte eine, wenn auch sehr spärliche, Grundversorgung mit lebensnotwendigen Gütern aus dem sowjetischen Hinterland.[12]
In der 2. Hälfte des Novembers 1941 erreichte die tägliche Brotration das absolute Minimum. Die Zuteilung betrug für Schwerarbeiter 375; für Arbeiter/Ingenieure 250; für Angestellte, deren (nichtarbeitende) Angehörige und Kinder bis zu 12 Jahren je125 g.[13] Der Abwurf gefälschter Lebensmittelkarten sollte zudem Verzweiflung und Unmut schüren. Daneben erschwerten ungewöhnlich niedrige Temperaturen das Überleben in jenem Winter. Die Quecksilbersäule fiel temporär auf ungewöhnliche 32,1 °C. Alles, was brennbar war (Möbel und Bücher) diente der Heizung. In jenem Winter verhungerten und erfroren monatlich 100.000 Leningrader.[14]
Trotz aller einschneidenden Entbehrungen legte die Dichterin Olga Bergholz Zeugnis von der hohen Moral und dem Willen zum Widerstand der Leningrader ab: »Wir sagen offen, wir verschweigen nicht. Wie haben in diesen Tagen Erde, Kleber, Riemen [Leder] gegessen. Aber nach dem Verzehr der Riemen-Suppe, ging der hartnäckige Meister zur Werkbank zurück, um Teile für Kanonen zu drehen, die für den Krieg wichtig waren.«[15] In einer Abhandlung zur Lage in der blockierten Stadt hieß es: »Mit dem Anfang Januar begonnenen Massensterben infolge Hunger und Kälte ist nach europäischen Begriffen der Höhepunkt dessen erreicht, was Menschen […] ertragen können.«[16]
Aufgrund der zerstörten Infrastruktur spekulierte das OKW ferner auf den baldigen Ausbruch von Seuchen und erließ vorsorglich ein Verbot zum Betreten der Stadt. Dass der Ausbruch einer Epidemie im Bereich der realen Möglichkeiten lag, belegte die überbordende Rattenplage. Die sich rasch und ungehemmt ausbreitenden Schädlinge bedrohten nicht nur die Gesundheit und die Nahrungsmittelvorräte. Selbst die im Keller der Eremitage gesicherten Kunstschätze und elektrotechnischen Installationen waren vor ihnen nicht sicher.
Um der großen Plage Herr zu werden und um eine Epidemie zu vermeiden, beschloss der Lensowjet, Katzen in die Stadt zu bringen. Die Rote Armee durchbrach am 18.01.1943 die Blockade bei Schlüsselburg und errichtete einen 10 bis 12 km breiten Korridor, der die Landverbindung mit Leningrad wieder herstellte. Umgehend und in kürzester Frist entstand eine 36 km lange Bahnstrecke von Schlüsselburg nach Polyany, die ab dem 06.02.1943 Leningrad versorgte.[17] So gelangten auch vier Waggons mit besonderer Fracht in die Stadt: Blaue Rauchkatzen aus Jaroslawl. Diese Spezies galt als besonders guter Rattenfänger.[18] Ein solches Kätzchen kostete damals in Leningrad 500 Rubel – das Zehnfache eines Brotlaibes (1.000 g).[19]
Die angestrebte Einebnung Leningrads war ein untrennbarer Bestandteil der »rücksichtslosen Germanisierung des Ostens« (Generalplan Ost) und zugleich eine ihrer Voraussetzungen. Ein Merkmal des Genozids an den sowjetischen Ethnien war das absichtliche Auferlegen von solchen Lebensbedingungen, welche die physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführten.[20] Die Schreckensherrschaft über Leningrad forderte rund 800.000 Menschenleben.[21] Etwa so viele wie alle (zivilen und militärischen) Todesopfer des Zweiten Weltkriegs in den USA und Großbritannien (799.000).[22]
Anmerkungen:
[1] Siehe: wwii.germandocsinrussia.org/de
[2] Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtsführungsstab), Bd. I (1940-1941), Hg.: P. E. Schramm, Frankfurt am Main: Bernard & Graefe Verlag für Wehrwesen, Dok. 69, S. 1021.
[3] Ebenda, Fernschreiben an H. Gr. Mitte (12.10.1941) S. 1070.
[4] W. Hubatsch, Hitlers Weisungen für die Kriegführung, Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht, Koblenz: Bernard und Graefe, Weisung 35, S. 150 ff.
[6] victims.rusarchives.ru/direktiva-shtaba-voenno-morskikh-sil-germanii-ob-unichtozhenii-g-leningrada-29-sentyabrya-1941-g, Weisung der deutschen Seekriegsleitung zur Zerstörung von Leningrad (29.09.1941).
[7] spb.aif.ru/leningrad/1089961
[8] victims.rusarchives.ru/protokol-soveschaniya-gitlera-s-rukovoditelyami-vermakhta-po-obsuzhdeniyu-organizacionnoy-struktury, Protokoll Besprechung mit Hitler und Wehrmachtsführern zur Erörterung der Organisationsstruktur des wirtschaftlichen Teils des Barbarossa-Oldenburg-Plans.
[9] wwii.germandocsinrussia.org/de/nodes/2231-akte-94-richtlinien-f-r-die-f-hrung-der-wirtschaft-in-den-neubesetzten-ostgebieten-gr-ne-mappe »Richtlinie für die Führung der Wirtschaft in den neu besetzten Ostgebieten«
[10] victims.rusarchives.ru/iz-protokola-konferencii-pod-predsedatelstvom-reykhsmarshala-g-geringa-ob-ekonomicheskoy-politike-na, Aus dem Protokoll der Konferenz unter dem Vorsitz von Göring über die Wirtschaftspolitik in den besetzten Gebieten der UdSSR. (Hervorhebung im Original).
[11] www.spb-guide.ru/page_18809.htm
[12] www.spzeitung.ru/aktuell/vor-70-jahren-wurde-die-strasse-des-lebens-erstmals-benutzt.html
[13] militaryarms.ru/voennye-konflikty/blokada-leningrada (Tabelle der täglichen Brotration).
[14] www.rbth.com/arts/history/2017/01/27/agony-of-the-blockade-remembering-the-siege-of-leningrad_690268
[15] www.spb-guide.ru/page_18809.htm (Übersetzung Autor)
[16] wwii.germandocsinrussia.org/de/nodes/363, Zustandsbericht von Heeresgruppe Mitte vom 04.02.1942 über Leningrad., S. 2. (Hervorhebung im Original)
[17] www.prlib.ru/en/history/618956
[18] Ihnen ist ein Denkmal in St. Petersburg gewidmet. Katzen gelten auch gegenwärtig als die heimlichen Herrscher der Eremitage.
[19] www.spb-guide.ru/page_18809.htm
[20] spb.aif.ru/leningrad/1089961 (Lediglich 3 % der Todesopfer waren auf den Beschuss und Bombardierung zurückzuführen, die übrigen 97 % verhungerten).
[21] Eine andere Quelle bilanzierte 950.000 Opfer, hiervon 620.000 Zivilisten und 330.000 Militärangehörige.
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