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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Sorgfalt beim Unterscheiden zwischen Unschuld und Schuld

Klaus Höpcke

 

Sorgfalt beim Unterscheiden zwischen Unschuld und Schuld

Von Klaus Höpcke

Liebe Freunde, wegen einer Erkrankung kann Hermann Kant an unserer Veranstaltung leider nicht teilnehmen. Deshalb haben wir mit ihm, der die heute hier Versammelten herzlich grüßt, vereinbart, daß ich einen Text vortrage, in welchem ich über eine der von Kant geschriebenen Geschichten berichte, in der sich Geschichte besonders eindringlich verkörpert findet, seinen Roman „Der Aufenthalt“ (Rezension für „Sonntag“ 1977).

Mit der Geschichte von Mark Niebuhrs Entwilderung, die Hermann Kant in seinem Roman „Der Aufenthalt“ erzählt, haben wir neue Antwort gewonnen auf eine Lebensfrage. Von deren bis auf den Grund gehender Klärung hängt für die Völker Europas nicht weniger ab als ihr künftiges Schicksal. Es ist die Frage, wie die Menschen auf diesem Erdteil in gesellschaftlichen Verhältnissen und persönlichen Eigenschaften alle Wurzeln roden, aus denen der Faschis­mus Nahrung sog, die gräßlichste Ausgeburt des Unmensch­lichen im 20. Jahrhundert.

Knapp bemessen ist der zeitliche und räumliche Rahmen, in dem sich Kants Held im äußerlichen Sinne des Wortes bewegen kann. Der Roman beginnt damit, daß der 19jährige Ende 1944 zum faschistischen Militär eingezogen wird; dann folgen seine Gefangennahme in Polen und die Einlieferung in eine Kriegsverbrecherzelle in Warschau, in die er wegen des Verdachts gerät, an Morden in Lublin beteiligt gewesen zu sein; mit dem letzten Tag dieser Haft 1946 endet der Text. Doch welche Fülle wirklicher und gedanklich bewerkstellig­ter Bewegungen in dem eng anmutenden Rahmen, welche Weite des Nachsinnens, welche politische und psychologi­sche Vertiefung! Zum eigentlichen Schau- und Denkplatz des Romans werden die Bögen, die Niebuhr von sich zur europäischen Geschichte schlagen lernt, mählich, mählich auch sein Stück Verantwortung darin begreifend.

Hermann Kant, wie seine Leser wissen, ist ein Autor mit Sinn für erzählerische Perspektive. Meisterhaft bewährt sich dieser Sinn im vorliegenden Werk. Dem einsitzenden Nie­buhr wird eines Tages befohlen, eine Mauer abzutragen, die in den Gefängnishof zu stürzen droht. In großer Höhe hat er die Trümmerlandschaft Warschaus noch grausiger vor Augen als am Boden. Umsichtig Stein für Stein lockernd, stößt er auf einen Fund, der unter Kants Feder zu einem Höhepunkt der Romanhandlung wird. Niebuhr entdeckt einen Griffelkasten mit der Inschrift Jadwiga Sierp. Und nun wächst ein zauberischer Bau. Das Haus, dessen letzte Wand abzutragen er beschäftigt ist, erhält alle seine Wände, Fenster, Türen zurück, und die Wohnung bevölkert Nie­buhrs Vorstellungskraft mit Familien friedlicher Bürger, wie er sie aus seiner Gegend – in Marne, im Dithmarschen – ­kennt. Im Nachdenken über das kleine polnische Mädchen Jadwiga, das zur Schule kam und dem der Griffelkasten gehörte, bricht Erschütterung durch, reift Erkenntnis.

Wie in diesem Augenblick der Kopf den Mann über seine Lage hinaushebt, so quillt ihm – quillt in des Wortes übelster Bedeutung – in einem anderen Augenblick Erfahrung in abgrundtiefer Erniedrigung zu. Kant geht in der Schilderung der Situation und in der politischen Folgerichtigkeit bis zum äußersten. Grenadier Niebuhr, in der Zelle der SS- und Gestapo-Leute, der Generale und Majore nach Jahrgang und Rang der Jüngste, ist von der Gefängnisleitung als Zel­lenältester eingesetzt. Geringste Zeichen, daß der junge Mann ihnen ungefügig wird, nehmen die Nazis zum Anlaß, ihm auf Naziart „einzuträufeln“, was sie von ihm erwarten. Sie zwängen seinen Kopf in ein Klosettbecken. Das herab­stürzende Spülwasser in Mund und Nase, muß Niebuhr fürchten, ersäuft zu werden. – Soweit die Situation. Bis zum heutigen Tag und in den morgigen hinein aktuell wird die Szene durch ihren Ausklang: Niebuhr deutet einem der an der Tortur Beteiligten, dem niederländischen SS-Mann Beversen, der bloß der Tulpen wegen in Auschwitz zu tun gehabt haben will, was von Heimzahlen an. Darauf dieser: „Brauchst du mir nicht vertellen, ... das kommt, wenn keine Frijheit ist. In Frijheit hätt ich dir gehalten, bis du nix mehr versprechen kannst.“ Frijheit, auf die er sinnt wie alle seines Schlages, ist Gelegenheit, Gegner zu erschlagen oder we­nigstens so lange unter Wasser oder sonstwo zu halten, bis sie „nix“ mehr versprechen, geschweige denn tun können. Das ist die Freiheit, der Nachfahren der SS-Leute seit 1945 nachheulen. Jene Freiheit ist es, von der die bürgerliche Heuchelpropaganda bis zum Überdruß schreit. (Loriot hat dieses Geschrei kürzlich treffend buchstabiert, beginnend mit Ph wie Phrase: „Phreiheit – Fraiheyt – Freyhaidt­ – Vreiheid – Vreyheit ...“)

Ein Zufall hat dafür gesorgt, daß mir im Laufe der Tage, da ich bei Kant vom Geschick schwerer Verbrechen ver­dächtiger Deutscher in polnischem Gewahrsam las, ein „Polnisches Tagebuch 1939“ in die Hand geriet, das ein gewisser Friedrich Bodenreuth geführt hat und das die Nazis – Frevler, die sie auch im Buchwesen waren – drucken ließen und in Reclams Universalbibliothek herausbrachten. Unter dem Stichwort „Konzentrationslager in Posen“ hat der Herrenmensch seinen menschenfeindlichen Anwandlungen freien Lauf gelassen. Von achthundert Polen, die unter dem Vorwand gefangengehalten werden, sie seien Mörder, läßt Bodenreuth sich einen vorführen und legt los: „Vor diesen Kerlen fällt einen eine seltsame Verlegenheit an. Etwa wie vor den Menschenaffen in einem Tiergarten. Das Men­schentum schämt sich vor dem Auch-Menschen, wehrt sich gegen die Anerkennung des gleichen naturgeschichtlichen Klassennamens für sich und diese, empfindet von diesem Augenblick an das Leben nur mehr erträglich in der Ge­wißheit des Rechtes auf Strafe vom Leben zum Tod, zum Tod als Rettung der Ehre des Lebens. Es erscheint irrsinnig, diese Wesen, die als Tiere zu bezeichnen die Ach­tung vor dem Tier verbietet, eines Gerichtsverfahrens zu würdigen ...“ Er hält es für „wahnsinnig“, faschistische Soldaten „zum Opfer auch nur einer einzigen Minute ihres Lebens für die Bewachung dieser Verbrecher anzuhalten“.

Nicht zu fassen, solche Sätze? Hermann Kant macht die Leute faßbar, die so denken, reden, schreiben, handeln. und­ in entsprechender Lage – darüber schweigen. Zum Beispiel entwirft er einen Major Lundenbroich. Bodenreuth aus der Wirklichkeit und Lundenbroich aus dem Buch sind vom selben Holze. Was der tötungswütige Schreiber angesichts der Gefangenen in Poznań forderte, – der tötungswütige Schießer aus Kants Roman hat es in Łódź getan: Beim Herannahen der Front nahm er teil an der Ermordung aller, die im dortigen Gefängnis eingekerkert waren. Nun selbst in eine Zelle gekommen, spielt er Unschuldslamm, bis durch die Anklage zu Niebuhrs Überraschung ruchbar wird: Auch der ist nicht besser als der Hauptkommissar Rudloff, als General Eisensteck und sein vom „Entkotungs“wahn be­sessener Generalmajorskumpan, als SS-Hauptscharführer Beveren, Ortsbauernführer Kühlisch und das ganze übrige Nazigesindel.

Das übrige? Man könnte es auch das übliche nennen, ein zynisches Wort aufgreifend, das Niebuhr von Leimhut, seinem ersten Wehrmachtskommandeur, hört, der den frisch eingezogenen und fürchterlich geschundenen Rekruten, den „Jungs“, die „vertrauliche Mitteilung“ macht, er sei nicht das Übel, sondern das Übliche. Was Kant dem Urteil des Lesers überantwortet, ist ein Konzentrat des zum Üblichen ge­wordenen Üblen. Den Beiträgen, die unsere Literatur zur Durchleuchtung der politischen und moralischen Verkommenheit nazistischer Befehlshaber geleistet hat, fügt er eine besondere Leistung hinzu. Er zeigt Nazi-Obere, wie sie sich den wenigsten gezeigt haben: eingesperrt. Er überliefert, wie sie im Katzenjammer unter sich, unter ihresgleichen waren. Noch in der Prozedur ihrer Berichte über „schönste Erlebnisse“ enthüllt er ihre Häßlichkeit.

Es mag Leser geben, die zu mancher Einzelheit der Gestaltung dieser Sphäre sagen, sie sei abstoßend. Mir scheint, wer sein Denken nach dem Aufkommen eines solchen Eindrucks nicht anhält, wird finden: Ohne diese Einzelheiten wüßten wir doch nicht richtig, unter was für Leute Niebuhr gefallen war, würden wir uns zu schwach ausmalen, was er auszuhalten hatte, könnten wir nicht mit der Überzeugung sagen, mit der wir es so sagen: Niebuhr war in der Hölle. – Allgemeiner ausgedrückt: Mit der in den Zellenszenen gezeichneten Porträtgalerie von Feinden des Menschlichen hat Kant ein so noch nicht dagewesenes, erbarmungslos dichtes Bild der Erbärmlichkeit von Sozia­lismushassern geschaffen, nicht vergeßbare Menschheits­feindbildnisse, Bilder seiner, meiner, unserer Feinde. Sie vor Augen – einschließlich derjenigen, die keine einzige Minute auch nur für die Bewachung polnischer Gefangener „opfern“ –, liest man mit geschärfter Aufmerksamkeit von den Stunden und Tagen, von den Wochen und Monaten, die polnische Vernehmer gegenüber den von ihnen in Arrest genommenen Deutschen darauf verwandten, in der großen Schuld die einzelnen nicht unterschiedslos untergehen zu lassen, sondern jedes einzelnen Schuld- oder Unschuldsmaß genau zu ermitteln, darunter das des Helden des Romans. Abgehärtete Gemüter mögen meinen: Der Verdacht war unbegründet, also mußte Niebuhr von ihm freikommen. Was denn sonst? Für mich aber ist unter den unerhörten Geschichten, die dieses Buch in großer Zahl erzählt, die der sorgfältigen Lebenslaufstudien, Erkennungsversuche und aller übrigen mit den „Interrogationen“ verbundenen Nachforschungen der unerhörtesten eine.

Es ist ein Hohelied der Menschlichkeit.

 

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