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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Internationale Streitfälle mit friedlichen Mitteln lösen

Prof. Dr. Gregor Schirmer, Berlin

 

Die Weltgemeinschaft der Vereinten Nationen (UN) umfasst gegenwärtig 193 Vollmitglieder. Palästina und der Vatikan haben einen Beobachterstatus. Wir haben es mit einer schier endlosen Vielfalt unterschiedlicher, teils sogar antagonistischer politischer, ökonomischer und geistig-kultureller Verfasstheiten und Interessen zu tun. Die UN-Mitglieder und Beobachter gelten allesamt als souveräne politische und völkerrechtliche Subjekte mit Staatscharakter, die kraft freiwilligen Beitritts durch die Charta der Vereinten Nationen als eine Art Verfassung mit ius-cogens-Charakter (zwingendes Recht) zusammengehalten werden. Bisher hat kein Mitglied die UN verlassen oder ernsthaft mit dem Austritt gedroht. Die UN sind trotz vielfachen Versagens eine einzigartige, unentbehrliche, universale, mit einem völkerrechtlichen Vertrag geschaffene Staatengemeinschaft. Sie »beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder« (Art. 2 Ziffer 1 der Charta).

UN-Charta als rechtsverbindliche Alternative zur gewaltsamen Konfliktlösung

Das Völkerrecht der Charta ist für alle Mitglieder gleichermaßen verbindlich. Das gilt für den größten Staat der Welt, die sozialistische Großmacht Volksrepublik China mit fast 1,4 Milliarden Einwohnern auf einer Fläche von 9.597.000 Quadratkilometern, genauso wie für den Zwergstaat Fürstentum Monaco mit 38 Tausend Bewohnern auf einer Fläche von zwei Quadratkilometern. Bei der Fülle von Unterschiedlichkeiten und Gegensätzen zwischen den UN-Mitgliedern wäre es geradezu ein Wunder, wenn es keine mehr oder weniger schwerwiegenden Streitfragen zwischen den Staaten gäbe. Dessen waren sich wohl schon die Gründerstaaten der UN bewusst. Deshalb schrieben sie an prominenter Stelle der Charta, noch vor dem Verbot der Anwendung und Androhung militärischer Gewalt durch Art. 2 Ziffer 4 der Charta, in Ziffer 3 als verbindliches Handlungsprinzip fest: »Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.« Der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten wurde in der Charta ein eigenes Kapitel VI gewidmet, das noch vor dem umstrittenen und missbrauchten Kapitel VII eingeordnet worden ist, das militärische Maßnahmen des Sicherheitsrates ermöglicht.

Die UN-Charta ist die rechtsverbindliche Alternative zur gewaltsamen Konfliktlösung durch Krieg und Militär. Es besteht ein ziemlich engmaschiger Fundus an völkerrechtlichen Regelungen, der im Friedenskampf gebührend genutzt werden sollte. »Notwendiges Korrelat zu den sich bezüglich der militärischen Gewalt überschneidenden Prinzipien des Gewalt- und des Interventionsverbots ist die Verpflichtung, internationale Streitigkeiten friedlich zu regeln« [1]. Es soll nicht verschwiegen werden, dass es ein ausführliches Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle schon von 1899 gab, dessen Beachtung uns ein friedliches 20. Jahrhundert gebracht hätte. Art.1 lautet: »Um in den Beziehungen zwischen den Staaten die Anrufung der Gewalt so weit wie möglich zu verhüten, erklären sich die unterzeichneten Mächte alle einverstanden. … die friedliche Erledigung ihrer Streitfragen zu sichern.« Aber die damaligen Großmächte taten das Gegenteil. Sie entfesselten den ersten Weltkrieg, voran das kaiserliche imperialistische Deutschland.

Wenn sich nach dem Sieg über den Faschismus nach dem zweiten Weltkrieg dieses Prinzip als politische Handlungsmaxime gegen die Aggressionspolitik von USA und NATO durchgesetzt hätte, wäre die Menschheit von grausamen Kriegen, wie denen in Algerien, Korea, Vietnam, Afghanistan und dem Dauerkrieg Israels gegen die Araber mit vielen Millionen Toten und unermesslichen materiellen Schäden verschont geblieben. Dann müsste heute im Internet nicht registriert werden, dass nach dem Ende des II. Weltkriegs mindestens 60 bis 65 Millionen Menschen durch Kriege gestorben sind. Wenn es im ersten Kalten Krieg auch Phasen und Ereignisse friedlichen Koexistierens gab, dann war das jeweils dem Umstand zu verdanken, dass es ein starkes sozialistisches Lager gab und dass die offensichtliche Vernünftigkeit dieses Prinzips auch der Einsicht kapitalistischer Politiker entsprach, dass es auch in Friedenszeiten Möglichkeiten friedlicher kapitalistischer Profit- und Monopolwirtschaft gibt.

Das Prinzip hat im Völkerrecht eine vielfache Bestätigung und Fortentwicklung erfahren. Es wurde in folgender Fassung in die Deklaration der Prinzipien des Völkerrechts von 1970 [2] aufgenommen, die die UN-Vollversammlung einstimmig beschlossen hat und die allgemein als völkerrechtlich verbindlich betrachtet wird: »Das Prinzip, dass die Staaten ihre internationalen Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln auf solche Weise regeln, dass der Weltfrieden und die internationale Sicherheit sowie das Recht nicht gefährdet werden.«

Internationale und multinationale Verträge

Auch in den Friedensverträgen von 1947 mit Italien, Finnland, Ungarn, Rumänien und Bulgarien sind Klauseln zur friedlichen Streitbeilegung enthalten. Sie fehlen leider im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990, der an die Stelle eines Friedensvertrags mit Deutschland getreten ist. Ungeachtet dessen gilt das Gebot der friedlichen Streitbeilegung selbstverständlich auch für diesen Vertrag.

Das Kapitel VI der Charta beginnt mit Art. 33 Abs.1: »Die Parteien einer Streitigkeit, deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden, bemühen sich zunächst um eine Beilegung durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung, Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen oder durch andere friedliche Mittel eigener Wahl.« Das liest sich, als ob friedliche Streitbeilegung erst bei schwerwiegenden internationalen Konflikten zum Tragen kommen soll. Das Prinzip gilt jedoch für Streitfälle jeder Größenordnung, auch für »kleine« internationale Zwischenfälle, die die Beziehungen zwischen Staaten trüben und sich zu handfesten Konflikten »hochschaukeln« können. Die Freiheit der Wahl der Mittel durch die Streitparteien ist richtig und wichtig, weil so die Haltbarkeit und Akzeptanz der zu erreichenden Lösungen am ehesten gesichert werden können. Die schwächliche Wortwahl »Die Parteien bemühen sich« ändert nichts daran, dass es sich um verbindliches (zwingendes) Völkerrecht handelt.

Zu den regionalen Abmachungen, die mit Regeln über friedliche Streitbeilegung ausgestattet sind, gehören die Afrikanische Union, die Liga der Arabischen Staaten, die Organisation der Amerikanischen Staaten, die Organisation der Afrikanischen Einheit und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). In der Schlussakte von Helsinki wird festgelegt: »Die Teilnehmerstaaten werden Streitfälle zwischen ihnen mit friedlichen Mitteln regeln« und – die UN-Charta ergänzend – wird erklärt, dass die Streitbeilegung auch die Gerechtigkeit nicht gefährden darf. Es wird vorsorglich bestimmt: »Sollte sich durch keines der vorgenannten friedlichen Mittel eine Lösung erzielen lassen, werden die an einem Streitfall beteiligten Parteien weiterhin nach einem gegenseitig zu vereinbarenden Weg zur friedlichen Regelung des Streitfalles suchen.«

Die friedliche Regelung der Streitfälle ist die verbindliche Alternative zur gewaltsamen Lösung von Konflikten durch Missachtung des Verbots der völkerrechtswidrigen Androhung und Anwendung militärischer Gewalt und Krieg, dessen katastrophales Scheitern wir gegenwärtig in Afghanistan erlebt haben.

Einige multilaterale Verträge enthalten ausdrückliche Streitbeilegungsklauseln, so auch der Atomwaffenverbotsvertrag, dem Deutschland immer noch nicht beigetreten ist. Art. 11 bestimmt: »Entsteht eine Streitigkeit zwischen zwei oder mehr Vertragsstaaten über die Auslegung oder Anwendung des Vertrags, so konsultieren die beteiligten Parteien einander im Hinblick auf die Beilegung der Streitigkeit durch Verhandlungen oder andere friedliche Mittel.« Das Pariser Klima-Abkommen von 2016 konstituiert in Art. 15 einen »Mechanismus zur Erleichterung der Durchführung und zur Förderung der Einhaltung der Bestimmungen des Übereinkommens.« Als allgemein verbindliches Völkerrechtsprinzip gilt die friedliche Streitbeilegung für alle bi- und multilateralen völkerrechtlichen Verträge, unabhängig davon, ob sie in einem Vertrag ausgeformt ist oder nicht. Das geht auch aus der Wiener Konvention über das Recht der Verträge von 1969 hervor, wo schon in der Präambel versichert wird, »dass Vertragsstreitigkeiten – genau wie andere internationale Streitigkeiten – durch friedliche Mittel beigelegt werden sollen«.

Erklärung von Manila zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten

Von großem aktuellem Wert im Friedenskampf ist die von der UN-Generalversammlung 1982 ohne förmliche Abstimmung angenommene Erklärung von Manila zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staaten [3]. Die Erklärung fordert in der Präambel, »dass äußerste Anstrengungen unternommen werden müssen, um alle Konflikte und Streitigkeiten zwischen Staaten ausschließlich mit friedlichen Mitteln beizulegen und jegliche militärische Aktionen und Feindseligkeiten zu vermeiden (sind), die die Lösung dieser Konflikte und Streitigkeiten nur erschweren können«. Die Frage der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten sollte als »eines der zentralen Anliegen der Staaten und der Vereinten Nationen« verfolgt werden. In Ziffer 1 heißt es: »Alle Staaten bemühen sich in redlicher Absicht und im Einklang mit den in der Charta niedergelegten Zielen und Grundsätzen Streitigkeiten untereinander zu vermeiden.« In den einzelnen Punkten der Erklärung ist eine Fülle von beachtenswerten Aktivitäten zur friedlichen Streitbeilegung nummeriert, aus der nur einige herausgegriffen werden können (vgl. zum Folgenden Teil II der Erklärung):

  • Alle Staaten bemühen sich in redlicher Absicht Streitigkeiten untereinander zu vermeiden, die sich auf die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Staaten auswirken könnten.
  • Staaten sollten den Abschluss von Abkommen zur friedlichen Beilegung ihrer Streitigkeiten erwägen.
  • Weder das Bestehen einer Streitigkeit noch die Erfolglosigkeit eines Verfahrens zur friedlichen Streitbeilegung berechtigt irgendeine der Streitparteien zur Anwendung beziehungsweise Androhung von Gewalt.
  • Streitparteien und andere Staaten unterlassen jedwede Handlung, die die Situation noch verschärfen könnte.
  • Unbeschadet des Rechts der freien Wahl der Mittel sollten sich die Staaten bewusst sein, dass direkte Verhandlungen ein präzises und wirksames Mittel zur Beilegung ihrer Streitigkeiten sind, um rasch eine für alle beteiligten Parteien annehmbare Regelung zu finden.
  • Gelingt es den streitenden Parteien nicht mit den genannten Mitteln eine schnelle Lösung herbeizuführen, setzen sie die Suche nach geeigneten Mitteln fort und konsultieren einander.
  • Die Mitgliedstaaten sollen den Sicherheitsrat in seiner Rolle bei der Streitbeilegung bestärken.
  • Beteiligte eines Streitfalls halten sich im Übrigen in ihren gegenseitigen Beziehungen weiterhin an ihre (unstrittigen) völkerrechtlichen Verpflichtungen.
  • Die Staaten sollten sich voll der Rolle des Internationalen Gerichtshofs bewusst sein.
  • Die Staaten sollten in Verträge, »wo immer dies angebracht ist«, Streitbeilegungsklauseln aufnehmen.
  • Die Generalversammlung »bittet alle Staaten eindringlich, die Bestimmungen dieser Erklärung bei der friedlichen Beilegung ihrer internationalen Streitigkeiten nach Treu und Glauben zu befolgen und zu fördern«.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Welt in eine bessere, weil friedliche Verfasstheit kommen würde, wenn alle Staaten dieser Bitte folgen würden. Die Friedensbewegung sollte die Erklärung von Manila auch als ihr Kampfinstrument aufgreifen.

 

Anmerkungen:

[1] Graf Vitzthum. Völkerrecht, Berlin 1997, RN 77

[2] 2625 (XXV). Declaration on Principles of International Law concerning Friendly Relations and Co-operation among States in accordance with the Charter of the United Nations, 24.10.1970, https://www.undocs.org/A/RES/2625(XXV)

[3] 37/10. Manila Declaration on the Peaceful Settlement of International Disputes, 15.11.1982, https://www.undocs.org/A/RES/37/10

 

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