Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Versailles vor 100 Jahren

Prof. Dr. Gregor Schirmer, Berlin

 

Vor hundert Jahren, am 28. Juni 1919 wurde im berühmten Spiegelsaal des Schlosses von Versailles der Friedensvertrag mit dem geschlagenen Deutschen Reich unterzeichnet. Unter den Vertretern der 31 Siegerstaaten waren bekannte Namen: Woodrow Wilson –  Präsident der USA, David Lloyd George – Regierungschef von Großbritannien, Georges Clemenceau – französischer Präsident. Deutschland war durch Außenminister Hermann Müller (SPD) unterrepräsentiert. Der Ort war mit Bedacht ausgesucht. Frankreich wollte sich für die Schmach revanchieren, die ihm angetan wurde, als der Preußenkönig Wilhelm I. die geschmacklose Machtdemonstration beging, sich auf historischem französischem  Boden und in einem seiner herausragenden Baukunstwerke zum deutschen Kaiser ausrufen zu lassen.

Die Altvorderen

Fragen wir zuerst unsere Altvorderen, was sie damals über Krieg und Frieden dachten. Karl Liebknecht sagte vier Wochen vor seiner Ermordung: »Nicht ein Friede des Augenblicks. Nicht ein Friede der Gewalt, sondern ein Friede der Dauer und des Rechts, das ist das Ziel des deutschen und des internationalen Proletariats. Aber es ist nicht das Ziel der gegenwärtigen Regierung, die, ihrem ganzen Wesen entsprechend, mit den imperialistischen Regierungen der Entente lediglich einen Frieden des Augenblicks zu schließen vermag, und zwar deshalb, weil sie es verabsäumt, an die Fundamente des Kapitals zu rühren.« Rosa Luxemburg schrieb zur gleichen Zeit: »Wir werden zusammen mit dem Sozialismus und den Interessen der Revolution auch die Interessen des Weltfriedens zu verteidigen haben.« Und: »Der Weltkrieg hat die Gesellschaft vor die Alternative gestellt: entweder Fortdauer des Kapitalismus, neue Kriege [...] oder Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung. Mit dem Ausgang des Weltkrieges hat die bürgerliche Klassenherrschaft ihr Daseinsrecht verwirkt.« Wie wahr!

Die Vorortverträge

Der Friedensvertrag von Versailles war der erste und bedeutsamste der fünf sogenannten Pariser Vorortverträge. [1] Die anderen Vorortverträge waren der Vertrag von Saint-Germain-en-Laye vom 10. September 1919 mit Österreich, der das Verbot des Anschlusses an Deutschland, die Auflösung der Donau-Monarchie und den territorialen Status der neu gegründeten Tschechoslowakei festschrieb; der Vertrag von Trianon mit Ungarn vom 4. Juni 1920, der empfindliche territoriale Abtretungen Ungarns festschrieb; der Vertrag von Neuilly-sure-Seine vom 27. November 1919 mit Bulgarien, das Territorien an Griechenland und Rumänien abgeben musste; der Vertrag von Sèvres mit dem in Agonie taumelnden Osmanischen Reich‚ von dem nur die Türkei übrig bleiben sollte.

Das Statut des Völkerbunds

Die schärfsten und klarsten kritischen Aussagen über den Versailler Vertrag, die ich kenne, stammen – von wem wohl? – von Wladimir lljitsch Lenin: »Deutschland wurde ein Frieden aufgezwungen, aber das war ein Frieden von Wucherern und Würgern, ein Frieden von Schlächtern. … Das ist ein ungeheuerlicher Raubfrieden … Das ist kein Frieden, das sind vielmehr Bedingungen, die einem wehrlosen Opfer von Räubern mit dem Messer in der Hand diktiert worden sind.«

Am Anfang des Versailler Vertrags steht eine Groß-Lüge: die alliierten und assoziierten Mächte hätten den Wunsch, an die Stelle des Krieges »einen festen, gerechten und dauerhaften Frieden« treten zu lassen. Wenn das ihr ernsthafter Wille gewesen wäre, hätten sie einen anderen Vertrag abschließen müssen, der Krieg und Anwendung militärischer Gewalt – außer zur Selbstverteidigung – kategorisch und unumgehbar verbietet und einen wirksamen Mechanismus der gegenseitigen Sicherheit bietet. Der Völkerbund hat nichts dergleichen vorgesehen.

Die Völkerbundsatzung enthielt trotz der bitteren Erfahrungen des Weltkriegs kein konsequentes und generelles Verbot von Krieg und militärischer Gewalt.

Nach Artikel 8 bekennen sich die Völkerbundmitglieder »zu dem Grundsatz, dass die Aufrechterhaltung des Friedens eine Herabsetzung der nationalen Rüstungen auf das Mindestmaß erfordert, das mit der nationalen Sicherheit und mit der Erzwingung internationaler Verpflichtungen durch gemeinschaftliches Vorgehen vereinbar ist.« Ein lobenswerter und richtiger Grundsatz, aber er ist nicht umgesetzt worden.

Artikel 10 statuiert die Pflicht, »die Unversehrtheit des Gebiets und die bestehende politische Unabhängigkeit aller Bundesmitglieder zu achten und gegen jeden äußeren Angriff zu wahren.« Was heißt »achten« und »wahren«? Was geschieht im »Falle eines Angriffs, der Bedrohung mit einem Angriff oder einer Angriffsgefahr«? Dann »nimmt der Rat auf die Mittel zur Durchführung dieser Verpflichtung Bedacht«. Was heißt Bedacht nehmen? Der Bund hat, wenn er Bedacht genommen hat, »die zum wirksamen Schutz des Völkerfriedens geeigneten Maßnahmen zu ergreifen«. Welche Maßnahmen sind geeignet? Das ist eine Ansammlung unkonkreter und zu nichts verpflichtender Worthülsen.

Die Völkerbundsatzung setzt vor allem auf Schiedsgerichtsbarkeit und auf die Pflicht der Bundesmitglieder, »den erlassenen Schiedsspruch nach Treu und Glauben auszuführen«. Nach Artikel 12 der Satzung kommen die Bundesmitglieder überein, eine Streitfrage, »die zu einem Bruch führen könnte, entweder der Schiedsgerichtsbarkeit oder der Prüfung durch den Rat zu unterbreiten«.  Dann kommt ein makabrer Tiefpunkt der Satzung: »Sie [die Völkerbundmitglieder] kommen ferner überein, in keinem Falle vor Ablauf von drei Monaten nach dem Spruch der Schiedsrichter oder dem Bericht des Rats zum Krieg zu schreiten.« Also statt Kriegsverbot Aufschub um drei Monate.

Summa summarum: Die Völkerbundsatzung enthält kein wirksames System kollektiver Sicherheit und kein völkerrechtlich eindeutiges Kriegsverbot. Das Versagen des Völkerbunds als universale Organisation für Frieden und internationale Sicherheit war schon in seiner Satzung angelegt. Die praktische Tätigkeit des Völkerbunds war in Sachen Friedenswahrung so lahm wie seine Satzung schwammig. Auf einen imperialistischen Krieg folgte ein imperialistischer Frieden, der konsequent in einen noch grausameren imperialistischen Krieg mündete, weil eine siegreiche Revolution ausgeblieben war.

Kriegskosten

Das deutsche Volk musste auf Befehl in Gestalt des Versailler Friedensvertrags und dessen Folgen einen hohen Preis bezahlen. Ich rede jetzt nicht von den annähernd 20 Millionen Menschenleben, die dieser Krieg gekostet hat.

Der Hinweis Lenins in seiner Rede über das Friedensdekret gilt auch heute noch, die »räuberischen Regierungen haben nicht nur über Räubereien Abkommen getroffen«, sondern auch  über »verschiedene andere Punkte«, die wir gern annehmen. Solche Punkte findet man sogar im Versailler Raubfriedensvertrag. Dazu zähle ich den Teil V. des Vertrags über die ziemlich radikalen Verpflichtungen Deutschlands zur Abrüstung und Rüstungsbegrenzung. So wurde Deutschland verpflichtet, »in keinem fremden Lande irgendeine Mission des Landheeres, der Seemacht oder der Luftstreitkräfte zu beglaubigen, keine solche Mission dorthin zu senden oder abreisen zu lassen«. Oder: »Der Bau und der Erwerb aller Unterwasserfahrzeuge, selbst zu Handelszwecken, ist Deutschland untersagt.« Hundert Jahre nach dem Verbot haben deutsche Werften bislang an 17 Länder, darunter an Argentinien, Israel und die Türkei 120 Boote geliefert. Es ist nicht übertrieben, dass Deutschland ein nicht militaristisches Land geworden wäre, wenn es seine Abrüstungsverpflichtungen erfüllt und nicht missachtet und hintertrieben hätte.

Schuld und Sühne

Der Erinnerung wert ist der Umgang mit den Strafbestimmungen.

Große Empörung löste in Deutschland der Artikel 231 aus. Dort hieß es: »Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.« Damit war die alleinige Schuld am Krieg den Mittelmächten zugewiesen. Einseitige Schuldzuweisung wurde gebraucht, um die Höhe ihrer Reparationspflichten zu begründen. Die historische Wahrheit ist, dass das Deutsche Reich zwar nicht der alleinige, aber eindeutig der Hauptschuldige am Ersten Weltkrieg war und ist.

Die Begleichung der Wiedergutmachungsschulden gegenüber den Alliierten des Ersten Weltkriegs durch die Bundesrepublik, der Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs, zog sich noch in die jüngste Zeit hin. Nach deutschen Angaben soll das Deutsche Reich 67,7 Milliarden Goldmark bezahlt haben. Nach den der Alliierten sollen es »nur« 21,8 Milliarden gewesen sein. Die Bundesrepublik soll die letzten Schulden für 2010 in Höhe von 56 Millionen D-Mark getilgt haben. Die DDR hatte es abgelehnt, für Schulden des Deutschen Reichs aus dem Versailler Vertrag aufzukommen.

Der Vertrag enthielt in den Artikeln 227 bis 230 Strafbestimmungen. In Art. 227 war bestimmt, dass die alliierten und assoziierten Mächte den abgesetzten und abgedankten Wilhelm II. von Hohenzollern, »wegen schwerer Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge unter öffentliche Anklage« stellen müssen. Ein »besonderer Gerichtshof« aus fünf Richtern, je einer aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan, sollte eingesetzt werden. Er sollte – wie es etwas schwülstig und unbestimmt hieß – »auf der Grundlage der erhabensten Grundsätze der internationalen Politik« urteilen und nach einer »Richtschnur« arbeiten: nämlich  »den feierlichen Verpflichtungen und internationalen Verbindlichkeiten ebenso wie dem internationalen Sittengesetze Achtung zu verschaffen. Das las sich konsequent und unerbittlich. Daraus wurde aber nichts. Wilhelm II. war nach seiner Absetzung in die Niederlande geflohen und hatte dort Asyl erhalten. Die Regierung in Den Haag lehnte  seine Auslieferung ab. Er konnte im niederländischen Doorn einen von juristischer Verantwortung für seine Kriegsverbrechen unbehelligten Lebensabend verbringen.

In Art. 228 räumte die deutsche Regierung den alliierten und assoziierten Mächten »die Befugnis ein, die wegen eines Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges angeklagten Personen vor ihre Militärgerichte zu ziehen«. Die deutsche Regierung wurde verpflichtet, die Beschuldigten an die Siegermächte auszuliefern. Auch dazu kam es nicht.

Die Europäischen Siegermächte hatten im Februar 1920 eine Liste mit 854 Namen von auszuliefernden Beschuldigten vorgelegt. Darunter befanden sich Generalfeldmarschall von Hindenburg und General Erich Ludendorff (der vom Vorwurf des Hochverrats durch das bayrische Volksgericht wegen seiner Verdienste im I. Weltkrieg freigesprochen wurde). Die Alliierten und Assoziierten verzichteten auf alle Auslieferungen, nachdem die deutsche Nationalversammlung schon ein halbes Jahr nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags im Dezember 1919 ein »Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen« mit der apodiktischen Feststellung erlassen hatte, dass in solchen Sachen »das Reichsgericht für die Untersuchung und Entscheidung in erster und letzter Instanz ausschließlich zuständig« ist. Dort verlief die Verfolgung der Straftaten im Sand. In den 861 Fällen, die bis 1927 vor dem Reichsgericht verhandelt wurden, gab es nur 13 Verurteilungen. Eine »Meisterleistung« Weimarer Klassen-Justiz! Der vornehme Umgang der bundesdeutschen Justiz mit faschistischen Kriegsverbrechern hatte sein Vorbild. Logisch und verständlich, dass nach diesen Erfahrungen die Besatzungsmächte nach dem Zweiten Weltkrieg die Aburteilung von Kriegsverbrechen der Deutschen zunächst selbst übernahmen und nicht deutschen Gerichten überließen.

Kleiner gewordenes Deutschland

Zu Grenz- und Territorialfragen gibt es im Versailler Vertrag den Teil II »Deutschlands Grenzen« mit 4 Artikeln und einen Teil III »Politische Bestimmungen über Europa« mit 22 Abschnitten und 158 Artikeln. Der ganze Vertrag hat 300 Artikel. Mehr als die Hälfte der Regelungen des Versailler Vertrags ist also Verschiebungen von Territorien und Grenzen gewidmet. Ein Zeichen dafür, wie wichtig diese Fragen für die Vertragsteilnehmer waren.

Die benachbarten Siegerstaaten wollten vor allem Territorien samt Bodenschätzen, die dort lebenden Menschen, die Industrieanlagen, die landwirtschaftlichen Nutzflächen und Infrastrukturen. Deutschland war vor dem Weltkrieg 540.000 Quadratkilometer, danach 474.000 Quadratkilometer groß, war also territorial um 66.000 Quadratkilometer kleiner geworden. Die Einwohnerzahl war von vor bis nach dem Krieg von 64,3 auf 60,9 Millionen geschrumpft, das Land hatte also 3,4 Millionen Einwohner verloren.

Es kann nur eine Lehre aus dem Versailler Raubfrieden geben: Zwei Weltkriege sind genug, ein dritter muss verhindert werden.

 

Anmerkung:

[1]  Sie erhielten ihre Namen von den Orten in der Nähe von Paris (daher Vorort), wo sie unterzeichnet wurden.

 

Mehr von Gregor Schirmer in den »Mitteilungen«: 

2019-01: Zum Charakter der real existierenden EU, ihrer Krise und den Aussichten für ihre Veränderung

2018-06: Atalanta – Seeräuberei – Völkerrecht

2017-10: Das Leninsche Dekret über den Frieden 1917

2016-04: Rechtswidrige Intervention