Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

In Verantwortung für die Erhaltung des Friedens

Ronald Friedmann, Berlin

 

Am 21. Dezember 1972, vor genau vierzig Jahren, unterzeichneten in Berlin, der Hauptstadt der DDR, die offiziellen Vertreter der beiden deutschen Staaten den "Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik". Für die DDR setzte Staatssekretär Michael Kohl seine Unterschrift unter die Vereinbarung, für die BRD war es der Bundesminister für besondere Aufgaben Egon Bahr. Das Dokument, das umgangssprachlich als "Grundlagenvertrag" bezeichnet wurde, bestand aus einer kurzen, nur knapp 140 Worte umfassenden Präambel sowie zehn gleichfalls sehr kurzen Artikeln. Doch nicht der Umfang des Dokuments machte seine historische Bedeutung aus, sondern die Tatsache, dass es überhaupt zustande gekommen war.

Die Vorgeschichte

Im Spätsommer 1955 hatte Wilhelm Grewe, der damalige Leiter der Politischen Abteilung des Bonner Auswärtigen Amtes, die Grundsätze formuliert, die in den folgenden knapp fünfzehn Jahren für die Beziehungen zur DDR gelten sollten und die unter Bezug auf seinen unmittelbaren Vorgesetzten, den Staatssekretär Walter Hallstein (CDU), als "Hallstein-Doktrin" bekannt und berüchtigt wurden: Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Deutschen Demokratischen Republik durch dritte Staaten wurde zum "unfreundlichen Akt" gegenüber der Bundesrepublik erklärt und mit nicht näher bezeichneten politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Sanktionen bedroht. Es ging nicht nur darum, die DDR unter allen Umständen und in jeder Hinsicht international zu isolieren, die BRD wollte ihren Alleinvertretungsanspruch für "alle Deutschen" weltweit durchsetzen. Diese Politik ging so weit, dass die offiziellen Vertreter der Bundesrepublik regelmäßig versuchten, bei internationalen Veranstaltungen, zum Beispiel bei Sportwettkämpfen, das Aufziehen der DDR-Fahne und das Abspielen ihrer Hymne zu verhindern. Zweimal führte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR tatsächlich zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch die Bundesrepublik: Das geschah 1957 im Fall von Jugoslawien und 1963 im Fall von Kuba.

Im Klima der Hallstein-Doktrin gab es daher kaum Chancen für die Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen der DDR und der BRD. Erst die Bildung der sogenannten sozialliberalen Koalition und der Amtsantritt von Willy Brandt als Bundeskanzler im Spätsommer 1969 gaben den internationalen Bemühungen um eine Entspannung der Lage in Europa neue Impulse.

Die BRD war nun zu direkten ergebnisorientierten Verhandlungen mit der Sowjetunion und Polen bereit. Bereits am 12. August 1970 wurde der sogenannte Moskauer Vertrag unterzeichnet, der die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion auf eine neue Grundlage stellte. Insbesondere die Anerkennung der bestehenden Grenzen, einschließlich der Oder-Neiße-Grenze zu Polen, bedeutete einen wesentlichen Fortschritt. Allerdings verzichtete die Bundesregierung nicht darauf, in einem von Willy Brandt unterzeichneten "Brief zu deutschen Einheit" auf das sogenannte Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes hinzuweisen. Am 7. Dezember 1970 folgte ein vergleichbarer Vertrag mit Polen, der sogenannte Warschauer Vertrag, bei dem gleichfalls die Unverletzlichkeit der in Europa bestehenden Grenzen im Mittelpunkt stand. (Allerdings erfolgte die endgültige An-erkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik erst durch den deutsch-polnischen Grenzvertrag, der am 14. November 1990 in Warschau unterzeichnet wurde.)

Zeitgleich verhandelten die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, also die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich, über ein Abkommen, das insbesondere den Status von Westberlin und das Verhältnis der Stadt zur BRD regeln sollte: Am 3. September 1971 unterzeichneten hochrangige Vertreter der vier Staaten schließlich im Gebäude des früheren Alliierten Kontrollrates im Westberliner Bezirk Schöneberg das sogenannte Vierseitige Abkommen. Auch wenn es in grundsätzlichen Fragen keine Einigung gab - so war im ersten (allgemeinen) Teil des Abkommens nur von dem "betreffenden Gebiet" die Rede, ohne klarzustellen, ob sich die Festlegungen lediglich auf Westberlin oder auch auf Berlin, die Hauptstadt der DDR, bezogen - wurden mit dem Abkommen jedoch die Rahmenbedingungen geschaffen, die - in Verbindung mit dem Moskauer und dem Warschauer Vertrag - eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten möglich machten.

Der Vertrag

In maßgeblichen Kreisen der SPD hatte man bereits in den frühen sechziger Jahren erkannt, dass eine Politik der Konfrontation, wie sie mit der Hallstein-Doktrin praktiziert wurde, ohne Zukunft war. In einer Rede vor der Evangelischen Akademie in Tutzing am 15. Juli 1963 prägte Egon Bahr den Begriff von der "Wandlung durch Annäherung", die zur Grundlage der "neuen Ostpolitik" der BRD nach dem Regierungswechsel im Spätsommer 1969 werden sollte. (Der langjährige DDR-Außenminister Otto Winzer bezeichnete diese "Wandlung durch Annäherung" - durchaus zu Recht, wie die spätere Geschichte zeigte - als "Konterrevolution auf Filzlatschen".)

Die von der DDR seit dem Beginn der fünfziger Jahre geforderten direkten Kontakte zwischen offiziellen Regierungsvertretern beider deutscher Staaten konnten nun Realität werden, wobei die DDR bereit war, im Interesse konstruktiver Verhandlungen weitgehende Zugeständnisse zu machen: Ursprünglich hatte die Führung um Walter Ulbricht die völkerrechtliche Anerkennung der DDR zur Voraussetzung von Gesprächen mit der Bundesregierung gemacht. Doch angesichts der Tatsache, dass die Souveränität der DDR und die Unverletzlichkeit der europäischen Nachkriegsgrenzen inzwischen in mehreren internationalen Verträgen festgeschrieben worden waren, stimmten die zuständigen Gremien der DDR schließlich Verhandlungen ohne Vorbedingungen zu.

Die Verhandlungen gestalteten sich schwierig, und mehr als einmal drohte der Abbruch. Doch schließlich verständigten sich die Unterhändler auf den Text eines Vertrages, in dem sich beide deutsche Staaten zu ihrer "Verantwortung für die Erhaltung des Friedens" bekannten und ihr "Bestreben [zum Ausdruck brachten], einen Beitrag zur Entspannung und Sicherheit in Europa zu leisten". Sie betonten die "Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen". Und: "Ausgehend von den historischen Gegebenheiten und unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage", so hieß es in der Präambel weiter, würden sich "die beiden deutschen Staaten in ihren Beziehungen der Androhung oder Anwendung von Gewalt […] enthalten". Ein we-sentliches Ziel des Vertrages sei es, "zum Wohle der Menschen in den beiden deutschen Staaten die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffen".

Erwartungsgemäß gab es in der BRD heftigen Widerstand gegen den Grundlagenvertrag. Insbesondere die Unionsfraktion im Bundestag monierte, dass Begriffe wie "Einheit der Nation", "Freiheit" und "Menschenrechte" keine ausreichende Berücksichtigung gefunden hätten. Dennoch gab es bei der Abstimmung im Bundestag am 11. Mai 1973 mit 268 zu 217 Stimmen eine klare Mehrheit für die Ratifizierung des Vertrages. Am 25. Mai 1973 lehnte der Bundesrat mit den Stimmen der unionsgeführten Bundesländer eine Ratifizierung zwar ab. Da jedoch der Vermittlungsausschuss nicht angerufen wurde, hatte diese Abstimmung keine praktische Wirkung. Auch die Normenkontrollklage der Bayerischen Staatsregierung gegen den Grundlagenvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht, die am 22. Mai 1973 eingereicht worden war, blieb ohne Folgen: Am 31. Juli 1973 urteilte das Karlsruher Gericht, dass der Grundlagenvertrag mit dem "Wiedervereinigungsgebot" des Grundgesetzes vereinbar wäre und dass die mit dem Grundlagenvertrag vereinbarte Anerkennung der DDR eine "faktische Anerkennung besonderer Art" sei.

Doch auch ein gegenteiliges Urteil hätte keine praktische Bedeutung mehr gehabt: Nachdem auch die Volkskammer der DDR am 13. Juni 1973 die Ratifizierung beschlossen hatte, war der Grundlagenvertrag am 21. Juni 1973 in Kraft treten.

Die Folgen

Bereits unmittelbar nach der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages am 21. Dezember 1972 hatte eine weltweite Welle der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR eingesetzt: Innerhalb von wenigen Wochen und Monaten vereinbarte die DDR mit Dutzenden Staaten in aller Welt die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und den Austausch von Botschaftern. Am 18. September 1973 wurden die DDR und die BRD Mitglied der Vereinten Nationen, nachdem beide Staaten zuvor vereinbart hatten, zeitgleich den Antrag auf Aufnahme in die Weltorganisation zu stellen. Am 2. Mai 1974 nahmen die Ständigen Vertretungen in Berlin und Bonn ihre Tätigkeit auf. Erster Leiter der offiziellen westdeutschen Repräsentanz in der DDR wurde der vormalige Staatssekretär im Bundeskanzleramt Günter Gaus, die Leitung der DDR-Vertretung übernahm Michael Kohl.

Bereits auf der Pressekonferenz nach der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags am 21. Dezember 1972 hatte Egon Bahr warnend festgestellt: "Bisher hatten wir keine Beziehungen, jetzt werden wir schlechte haben - und das ist der Fortschritt." Tatsächlich blieben die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten auch in den folgenden Jahren - vorsichtig formuliert - nicht frei von Belastungen. Zwar wurden in den folgenden Jahren, wie im Grundlagenvertrag vereinbart, eine Reihe von Abkommen geschlossen, die für beide Staaten von Bedeutung waren, so u.a. 1974 ein Abkommen über das Gesundheitswesen, 1976 ein Abkommen über Post- und Fernmeldeverkehr und schließlich 1978 ein Regierungsprotokoll über die "Überprüfung, Erneuerung und Ergänzung der Markierung der zwischen der Bundesrepublik und der DDR bestehenden Grenze". Doch vier grundlegende und berechtigte Forderungen der DDR, die seit einer Rede von Erich Honecker am 13. Oktober 1980 als "Geraer Forderungen" bezeichnet wurden, wurden bis zum letzten Tag der DDR nicht erfüllt: Die Grenzziehung in der Elbmitte, wie bei internationalen Grenzen üblich, die ersatzlose Auflösung der sogenannten Erfassungsstelle Salzgitter, die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und die Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Berlin und Bonn in Botschaften.

 

Mehr von Ronald Friedmann in den »Mitteilungen«:

2012-10:  Kuba-Krise 1962: Die Welt am Abgrund

2011-11:  Wheelus Air Base

2011-10:  Bad Harzburg