»Im Grunde fürchten wir gar nichts mehr …«
Horsta Krum, Berlin
Zum 140. Geburtstag von Victor Klemperer
Nach und nach wurde ihm alles genommen, dem Dresdener Juden Victor Klemperer, Philologe mit dem Schwerpunkt Französisch, französischer Literatur, Geschichte und Philosophie. Die Gesetze der Nazis stuften ihn als »Vierteljuden« ein; dies und seine »arische« Frau Eva schützen ihn vor der Deportation. Aber die antisemitischen Gesetzte trafen ihn trotzdem hart. Zunächst verlor er materielle Werte wie Haus und Auto, auch seine Bibliothek, seine Anstellung als Hochschullehrer und die Möglichkeit zu publizieren. Ab Februar 1942 musste er Zwangsarbeit leisten, schwere körperliche Arbeit, wie Schneeräumen, die sein Herzleiden verschärfte. Dann wurde er zu regelmäßiger Fabrikarbeit verpflichtet.
Die Tagebücher, die er ab 1933 führte, geben Aufschluss über den Alltag. Die folgenden zwölf Jahre lassen sich mit einem einzigen Begriff kennzeichnen: Verlust. Aber dieser Begriff kann kaum andeuten, wie die Klemperers ihren Alltag erlebt, erlitten haben. In den Tagebüchern tauchen regelmäßig Wörter auf, die die Verluste im Einzelnen beschreiben.
Da ist zunächst das Wort Angst. Dass er als Jude nichts Gutes zu erwarten hatte, wussten beide, auch wenn sie sich zunächst nicht vorstellen konnten, wie brutal der propagierte Antisemitismus in die Tat umgesetzt werden würde. Am Anfang stand die Angst vor dem Verlust der materiellen Lebensgrundlage; die Angst vor der Zukunft kam schnell dazu: »Im Augenblick bin ich noch in Sicherheit. Aber wie einer am Galgen in Sicherheit ist, der den Strick um den Hals hat. In jedem Augenblick kann ein neues ›Gesetz‹ den Tritt, auf dem ich stehe, fortstoßen, und dann hänge ich. ... Man ist artfremd oder Jude, wenn ein Teil der Großeltern Jude war. Wie im Spanien des 15. Jahrhunderts, aber damals ging es um den Glauben. Heute ist es Zoologie + Geschäft«, notiert er am 10. April 1933.[1]
Die Angst wird ihn bis 1945 nicht verlassen. Am 8. Februar 1945 schreibt er: »Angst haben alle. Die Juden vor der Gestapo, die sie ermorden könnte vor dem Eintreffen der Russen; die Arier vor den Russen … Jud und Christ fürchten auch gemeinsam die Bombenangriffe.« Trotz der Sympathie, die er und Eva jetzt manchmal erfahren, stimmt auch das: »Im Grunde fürchten wir gar nichts mehr, weil wir ja immerfort, in jeder Stunde alles zu befürchten haben.«
Zunehmend berichten die Tagebücher vom Hunger. Besonders seit Kriegsbeginn leiden sie Mangel an allem. Eva bekommt als Arierin mehr Nahrung, Kleidung usw. zugeteilt, davon geben beide an andere ab. »Die Essnot wird immer qualvoller«, schreibt er am 16. März 1942. Stundenlang ist Eva fast unterwegs, um etwas Essbares aufzutreiben, manchmal ergebnislos. Victor spürt den Hunger auch deshalb so stark, weil die körperliche Arbeit ihn erschöpft. Von April 1943 bis Juni 1944 muss er Zwangsarbeit in Fabriken leisten. Die Nachtarbeit tut seinem Augenleiden überhaupt nicht gut; trotzdem meldet er sich manchmal freiwillig, weil es für Nachtarbeit einige Gramm Fleisch auf Marken gibt.
Schon vor 1933 hatten die Klemperers die Gewohnheit, sich gegenseitig vorzulesen und über das Gelesene zu sprechen. Diese Zeit des Vorlesens war für beide etwas ganz Kostbares. Nachdem sie keine Bücher mehr besaßen, nachdem Victor nicht mehr schreiben und keine Bibliothek mehr benutzen durfte, wurde diese Gewohnheit das einzig Gute, das ihnen blieb. Wenn Eva sich hingelegt hatte, um ihr entzündeten Füße zu entlasten, saß Victor am Bett und las vor. Wenn Eva vorlas, schlief er manchmal vor Erschöpfung ein.
Ende Mai 1940 werden sie in eins der sogenannten »Judenhäuser« eingewiesen. Unter dem Verlust ihres Hauses, ihrer Möbel, ihrer Bücher leiden sie genauso wie unter der Enge. Für ihn ist die Enge noch quälender als für Eva. Nie wirklich für sich sein. »Immer im Nichtigen beschäftigt, jeden Tag das gleiche Elend, die gleichen Gespräche – dabei ungeheure Siege Deutschlands bei rasender Triumphsprache. Jeder Tag qualvoll«, schreibt er am 6. Juni 1940.
All das haben die beiden Klemperers miteinander geteilt, das allermeiste gemeinsam erlitten. Aber die Demütigungen trafen vor allem ihn, den Träger des gelben Sternes. Der musste stets sichtbar sein, wenn er das »Judenhaus« verließ. Auch im »Judenhaus« war er nicht sicher: Es gab Hausdurchsuchungen, Beschimpfungen, körperliche Misshandlungen. Draußen konnte ihn jeder beschimpfen, anrempeln, anspucken. Als er noch Bus und Straßenbahn benutzen durfte, kam es vor, dass nicht nur SS-Leute ihn hinderten einzusteigen. Aber Sympathie und Solidarität am Arbeitsplatz, in Geschäften waren auch seine gelegentlichen Erfahrungen.
Täglich verbreiten Radio und Zeitungen Antisemitismus. Arbeiter in der Fabrik schalten das Radio ab oder unterbrechen den Zeitungsvorleser mit: »Quatsch«, »Dreck« usw., diskutieren, wie tief der öffentlich propagierte Antisemitismus bei Nicht-Juden verankert sei. Optimistisch ist niemand: »Wie auch der Krieg ausgehe, die Juden kämen hier nie wieder zur Ruhe, der Antisemitismus hafte zu tief.« (05.05.1943)
An manchen Stellen seines Tagebuches notiert Klemperer nicht nur das Erlebte, sondern reflektiert grundsätzlicher, beispielsweise unter dem Datum des 10. Januar 1939: »Es gibt keine deutsche oder westeuropäische Judenfrage. Wer sie anerkennt, übernimmt oder bestätigt nur die falsche These der NSDAP und stellt sich in ihren Dienst. Bis 1933 und mindestens ein volles Jahrhundert hindurch sind die deutschen Juden durchaus Deutsche gewesen und sonst gar nichts … Der immer vorhandene Antisemitismus ist gar kein Gegenbeweis. Denn die Fremdheit zwischen Juden und ›Ariern‹, die Reibung zwischen ihnen war nicht halb so groß wie etwa zwischen Protestanten und Katholiken, oder zwischen Arbeitsgebern und -nehmern oder zwischen Ostpreußen etwa und Südbayern, oder Rheinländern und Berlinern.« Bedenken gegenüber jüdischen Einwanderern aus dem Osten hält er entgegen: »völkisch im Sinn der Reinblütigkeit ist ein zoologischer Begriff«.
Fast in allen Einträgen spricht Klemperer von Eva. Die physischen und psychischen Herausforderungen gehen über ihre Kräfte, ihre Gesundheit. »Das schlimmste ist die sinkende Widerstandsfähigkeit Evas … Das schlechte Wetter, die frühe Dunkelheit hindern am Spazierengehen, das viele Frieren in der unheizbaren Wohnung, das furchtbar dürftige Essen geben den Rest.« (10.12.1940). Meist geht sie über ihre Kräfte hinaus: »Eva war gestern aus größter Not in Pirna betteln. Sie kam schwer schleppend heim: einen Korb Kartoffeln, etwa zwei Pfund Brot in natura, eine Konservenbüchse Schnittbohnen.« (22.03.1942)
In den fortschreitenden Kriegsjahren lastet die Sorge um den Alltag fast ausschließlich auf ihr; als Arierin wird sie in den Geschäften besser bedient, falls es überhaupt etwas zu kaufen gibt. Auch darf sie Verkehrsmittel benutzen; so bringt sie Victors Manuskripte bei einer Freundin in Sicherheit, außerhalb von Dresden.
Gegen Ende des Krieges entfernt sie den gelben Stern von seiner Kleidung; beide fliehen aus dem brennenden Dresden über das Vogtland nach Bayern, von einer notdürftigen Unterkunft in die andere. Am 19. März ändert sie ihrer beider Geburtsdaten, aus dem Namen Klemperer macht sie Kleinpeter.
Auf diese Weise überleben sie und können schließlich nach Dresden zurückkehren, erschöpft, aber unendlich froh, dass der Krieg vorbei ist. Victor, bis dahin zur geistigen Untätigkeit verurteilt, kann bald wieder an der Hochschule lehren und sein großes Werk über die französische Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts fortsetzen. Zunächst aber arbeitet er an der LTI, der Lingua Tertii Imperii, der Sprache des Dritten Reiches.[2]
Wie manch andere Zeitgenossen stellte er angewidert das Radio aus, wenn die Stimme von Goebbels oder Hitler ertönte, brach die Zeitungslektüre ab, solange er noch die Möglichkeit hatte, Zeitung zu lesen und Radio zu hören. Aber dieser Sprache war er überall ausgesetzt. So fügte er in sein Tagebuch Notizen über die Nazi-Sprache ein. Oft war er müde und erschöpft, notierte nur Redewendungen, einzelne Wörter. 1946 erschien die erste Ausgabe seiner LTI.
Als Grundeigenschaft stellt er die Armut fest: Die LTI ist bettelarm in Form und Inhalt. Sie deklamiert, agitiert, schleudert die meist kurzen Sätze hinaus, ist hart und demagogisch. Der geschriebene und gesprochene Stil unterscheidet sich nicht. Und dann die großsprecherische, maßlose Prahlerei und Übertreibung. »Das Dritte Reich spricht mit einer schrecklichen Einheitlichkeit aus der maßlosen Prahlerei seiner Prunkbauten und aus ihren Trümmern, aus dem Typ der Soldaten, der SA- und SS-Männer, die es als Idealgestalten auf immer anderen und immer gleichen Plakaten fixierte, aus seinen Autobahnen und Massengräbern.« (16)
Der Prahlerei der Prunkbauten und Aufmärsche entsprechen beispielsweise die Steigerungsform der Adjektive, auch der inflationäre Gebrauch mancher Wörter wie »Stolz«, »Treue« und »Ehre«. Mit den Kriegsjahren steigert sich auch der Gebrauch des Wortes »Held«, »heldenhaft« usw. »Ein anständiges, echtes Heldentum hat der Nazismus offiziell überhaupt nicht gekannt; sein ›Heldentum‹ war immer prahlerisch und gekettet an das Dekorative.« Für Klemperer trifft der Begriff Heldentum eher auf die KZ-Häftlinge zu, die Widerstand geleistet hatten – und »die paar arischen Ehefrauen, die jedem Druck, sich von ihrem Mann zu trennen, standgehalten hatten. Wie hat der Alltag dieser Frauen ausgesehen! Welche Beschimpfungen, Drohungen, Schläge, Bespuckungen haben sie erlitten, welche Entbehrungen, wenn sie die normale Knappheit ihrer Lebensmittelkarten mit ihren Männern teilten … Welchen Lebenswillen mussten sie aufbringen, wenn sie krank lagen von all der Schmach und qualvollen Jämmerlichkeit, wenn die vielen Selbstmorde in ihrer Umgebung verlockend auf die ewige Ruhe vor der Gestapo hinwiesen! Sie wussten, ihr Tod werde den Mann unweigerlich hinter sich herzerren, denn der jüdische Ehegatte wurde von der noch warmen Leiche der arischen Frau weg ins mörderische Exil transportiert.« (12 f) So widmet er die LTI seiner Frau Eva: »Du weißt, … an wen ich denke, wenn ich vor meinen Hörern über Heroismus spreche.«
Manche Wörter, die sich ständig und überall wiederholt wurden, beispielsweise »Volk« und sein Gegensatz »Volksfeind« oder »artfremd«, nennt Klemperer »Pfeilerwörter«. Durch ihren millionenfachen Gebrauch taten sie ihre Wirkung, wurden mechanisch übernommen und drangen in alle Bereiche des Lebens ein.
An einer Fülle von Beispielen belegt Klemperer, wie die LTI sich der Sprache des Christentums bedient. »Ich glaube an ihn, den Führer«, hört Klemperer ständig um sich herum, sogar über das Kriegsende hinaus, gleichgültig, ob Intellektuelle das sagen, Angestellte einer Bank, Arbeiter in der Fabrik. Klemperer stellt eine genau durchdachte Aufteilung der Ministerien von Goebbels und Alfred Rosenberg fest: Der ist für die weltanschauliche Schulung zuständig, Goebbels für deren Überhöhung ins Religiöse.
Klemperer zitiert aus Goebbels Tagebüchern: »Zum Schluss gerät er (Hitler) in ein wunderbares unwahrscheinliches rednerisches Pathos hinein und schließt mit dem Wort: Amen!, das wirkt so natürlich, dass die Menschen alle auf das tiefste davon erschüttert und ergriffen sind.« (120) Das Biblische hält sich durch: 1935 nennt Hitler »die bei der Feldherrenhalle Gefallenen ›Meine Apostel‹ – es sind sechzehn, er muss natürlich vier mehr haben als sein Vorgänger –, und in der Beisetzungsfeier hieß es: ›Ihr seid auferstanden im Dritten Reich‹.« (119) Dabei bedienen sich Hitler und andere besonders des Katholizismus, der ja auf Rituale, auf mystische Inhalte größeres Gewicht legt als der Protestantismus und dies auch in Texten und liturgischen Gesängen ausdrückt. So fehlt es nicht an nazistischen Ritualen und Wallfahrtsorten.
Schon der Begriff »Reich« besitzt eine religiöse Würde; er ist zu verstehen als Rückgriff auf »das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, und heilig ist hier kein schmückendes oder nur enthusiastisches Beiwort, sondern besagt, dass es sich in diesem Staat nicht um eine bloß diesseitige Ordnung handle, dass vielmehr auch der Bezirk des Jenseitigen mitverwaltet werde.« (123) Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation gab es nicht mehr, aber im »Tausendjährigen Reich« sollte es fortdauern, und zwar ewig.
Während der Nazi-Zeit hatte Klemperer gehofft, seine Erlebnisse, Beobachtungen, Kommentare später zu einem wissenschaftlichen Buch ausarbeiten zu können. Aber bald stellte er fest, dass er das nicht schaffen würde – nicht nur aus Zeitgründen, sondern auch, weil viele Einzelarbeiten aus ganz verschiedenen Fachbereichen nötig seien, »ehe ein mutiger und umfassender Kopf es wagen darf, die Lingua Tertii Imperii in ihrer Gesamtheit, der allerarmseligsten und allerreichhaltigsten Gesamtheit, darzustellen.« (19) Ein solcher Kopf hat sich nicht gefunden – nicht für die Sprache der Nazi-Zeit, geschweige für die Sprache der Gegenwart.
Anmerkungen:
[1] Victor Klemperer, Tagebücher 1933-1945, Berlin 1999. Für die Zitate ist das entsprechende Datum als Fundstelle angegeben.
[2] Die in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe der LTI von 1975, erschienen in Leipzig.
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